Anna kommt aus gutem Hause, wächst behütet und privilegiert auf, und lässt sich, sehr zum Leidwesen ihrer Familie, von der nationalsozialistischen Ideologie blenden. Sie wird eine NS-Schwester und führt in der Universitätsklinik Göttingen aus, was Hitler angeordnet hat, nämlich die
Zwangssterilisation von sogenannten erbkranken Frauen und Männern. Ihren Dienst verrichtet sie pflichtbewusst und…mehrAnna kommt aus gutem Hause, wächst behütet und privilegiert auf, und lässt sich, sehr zum Leidwesen ihrer Familie, von der nationalsozialistischen Ideologie blenden. Sie wird eine NS-Schwester und führt in der Universitätsklinik Göttingen aus, was Hitler angeordnet hat, nämlich die Zwangssterilisation von sogenannten erbkranken Frauen und Männern. Ihren Dienst verrichtet sie pflichtbewusst und dient treu dem Vaterland. Als sie dem französischen Medizinstudenten Thierry begegnet und sich verliebt, wird ihre Überzeugung auf den Prüfstand gestellt.
„Ich war noch keine dreißig Jahre alt, als ich starb, in einer Dezembernacht. Graupel fiel aus bleiernen Wolken in den Schneematsch am Boden. Und wenn ich mich jetzt, nach all den Jahren, umschaue, erkenne ich die Klinik, in der ich gearbeitet habe, kaum noch wieder.“ (Seite 8)
Die Autorin hat eine ungewöhnliche Weise gewählt, um die Geschichte von Anna, die stellvertretend für so viele andere Frauen der damaligen Zeit steht, zu erzählen, denn Anna ist tot, sie starb in einer kalten Dezembernacht des Jahres 1935, was sie uns Lesenden bereits am Anfang verrät. Körperlos schwebt sie über der Erde, besucht Stationen ihres kurzen Lebens und teilt diese Eindrücke mit uns. Anfangs tat ich mich schwer mit dem eher nüchternen Schreibstil, lernte diesen aber im Laufe der Geschichte mehr und mehr zu schätzen.
Anna war mir nicht sympathisch, aber sie war unglaublich authentisch. Besonders ihre Launen und ihre Wut als siebzehnjähriges Mädchen konnte ich fühlen und meistens nachvollziehen. Der Beginn ihres Lebens als junge Frau gestaltete sich holprig, was zum einen den Hormonen, zum anderen aber natürlich der schwierigen und turbulenten Zeit geschuldet war. Die äußeren Eindrücke drängten sie in eine Richtung, die sie als junger Mensch noch überhaupt nicht hätte einordnen, geschweige denn, die Konsequenzen auch nur annähernd einschätzen können. Manchmal war ich versucht, ihr zuzurufen, dieses oder jenes zu unterlassen, oder aber etwas unbedingt zu tun.
„Erwartung, Wut und Hoffnung liegen in der Luft: Haben wir wirklich geglaubt, dass dieser Mann uns würde retten können? Ja, das haben wir geglaubt. Ich wollte ihn sprechen hören, ihn mit eigenen Augen sehen.“ (Seite 104)
Langsam und schleichend kam der Nationalsozialismus in Annas leben, fast unmerklich schlich sich das Grauen in die Geschichte ein. Mit dem Wissen von heute schilderte Anna ihren Lebensweg, kommentierte und resümierte, verglich und suchte nach Gründen, die ihr Verhalten von damals erklären würden. Wenn es doch nur so einfach wäre!
„Muss man denn erst sterben, um den Strudel zu erkennen, der uns verschlang?“ (Seite 159)
Je mehr ich erfuhr, desto größer wurde mein Unbehagen, auch meine Sympathie schwand mehr und mehr, machte einer Abneigung Platz, die von Mitleid unterbrochen wurde. Mitgefühl aber war keines da, dieses war aufgebraucht. Aus Gründen. Je weiter die Erzählung voranschritt, desto mehr wühlte sie mich auf. Das letzte Drittel fand ich stellenweise unerträglich, meine Nerven wurden strapaziert und nun war doch großes Mitgefühl da. Keinen Ausweg zu haben ist schlimm, aber zu realisieren, dass man sich selbst in eine Situation gebracht hat, die katastrophale Folgen auch für andere hat, ist hart und entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, dass dies alles auf freiwilliger Basis geschah.
Das Ende traf mich mitten ins Herz, obwohl ich eigentlich wusste, was später geschah. Mir gefiel es, dass die Autorin alle offenen Fragen beantwortet hat, wodurch die letzten Seiten aufwühlend und sehr emotional für mich waren. Ich hätte zu Beginn nicht gedacht, wie erschüttert ich nach dem Zuklappen des Buches sein würde. Zuletzt war mir die verhasste Anna unglaublich nah. Ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, ein Zeugnis der bestialischen Ereignisse der damaligen Zeit. Gegen das Vergessen und besonders wichtig, das ist hoffentlich jedem klar. Volle Punktzahl mit extra Sternchen und eine Leseempfehlung gibt es von mir.