Yvonne Hirdman hat das Leben ihrer Mutter Charlotte (1900-1966) aufgeschrieben. Was für ein Leben! Aufgewachsen in der Bukowina (damals Österreich-Ungarn) als Tochter eines Hamburger Vaters und einer Schweizer Mutter, besuchte Charlotte in Weimar ein Mädchenpensionat, arbeitete in Jena als Buchhändlerin, tanzte im Berlin der Weimarer Republik, heiratete einen Grafen, ließ sich scheiden, floh als Kommunistin vor Hitler ins Exil nach Moskau, wo ihre neue Liebe Stalins Säuberungen zum Opfer fiel - bevor sie schließlich Zuflucht in Schweden fand, wo sie heiratete und blieb. In ihrem feinfühligen, lebendigen und extrem fesselnden Porträt der Mutter verbindet Hirdman auf faszinierende Weise europäische Geschichte mit der Geschichte ihrer Mutter - und ihrer eigenen. Hirdmans Buch ist die Beschreibung einer Mutter-Tochter-Beziehung, der Roman einer Familie, das Bild eines Jahrhunderts, ein Porträt über das Frauenbild und die Geschlechterverhältnisse der damaligen Zeit - und das ungewöhnliche Porträt einer faszinierenden, avantgardistischen, unerhörten und höchst attraktiven Frau: Charlotte, die rote Gräfin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2012Der Gefühlsausbruch als Mittel feministischer Geschichtsschreibung
Das Drama einer selbstbewussten Frau: Yvonne Hirdman macht in dem Band "Meine Mutter, die Gräfin" aus der Lebensgeschichte ihrer Mutter einen Trivialroman
Erst lange nachdem zornige, nicht mehr ganz junge westdeutsche Männer mit ihren nationalsozialistischen Tätervätern abgerechnet hatten, waren die Töchter an der Reihe. Kurz nach der Jahrtausendwende verfassten Autorinnen, an erster Stelle Wiebke Bruhns mit "Meines Vaters Land", ihre "Familienromane", betrachteten Zeitgeschichte aus familienbiographischer Perspektive und plauderten schreibend, sich dabei selbst suchend wie therapierend, das lange beschwiegene "Familiengeheimnis Nationalsozialismus" aus.
Das seinerzeit für ein gewisses Aufsehen sorgende deutsche Phänomen ist inzwischen erloschen, ein spezifischer Gefühlskomplex ausagiert. Anders in Schweden. Yvonne Hirdman, Professorin für Frauen- und Gendergeschichte, hat dem deutschen Familienroman eine eigene Variante hinzugefügt. Bewältigt werden muss hier keine nationalsozialistische Vergangenheit, kein autoritärer Vater, sondern das Drama einer starken, selbstbewussten Mutter.
So recht erfährt man allerdings nicht, welches dunkle Familiengeheimnis Hirdman zu ihrer Recherche motiviert. Die unklare politische Vergangenheit der Mutter? Eine narzisstische Verletzung der Tochter im frühen Kindesalter? "Heute nacht hab' ich ein hässliches kleines Mädchen geboren", will Yvonne Hirdman 1966, kurz nach dem Tod ihrer Mutter Charlotte, in deren Tagebuch gelesen haben. Vierzig Jahre später stellt sie fest, dass der Satz ganz anders lautete, erst jetzt ist sie bereit, die Tage- und Notizbücher der Mutter genauer zu untersuchen.
Also geht die Tochter zurück bis zu den Großeltern mütterlicherseits und legt feinste genealogische Verästelungen offen. Die aus der französischen Schweiz stammende Großmutter Emilie verschlug es vor 1900 als Gouvernante auf einen Gutshof ins damals noch russische Estland, wo sie Fritz Schledt heiratete, einen Hamburger, der Buchhändler in Dorpat war. Hier kam Hirdmans Mutter, auch "Lolotte, Lottie" genannt, zur Welt. Bald zog die Familie Schledt nach Oxford, von dort in die Bukowina, zunächst nach Czernowitz, dann ins südlicher gelegene Radautz, wo der ehrgeizige Fritz stolzer Besitzer einer eigenen Buchhandlung wurde.
1921, mit fünfzehn Jahren, tritt Charlotte in das Geschäft des Vaters ein, später lernt sie in einem Weimarer Mädchenpensionat Sprachen, kehrt in die Bukowina zurück, arbeitet einige Jahre als Stenotypistin in Jena im Verlag Eugen Diederichs. Dort lernt sie den baltendeutschen Alexander Graf Stenbock-Fermor kennen, die beiden heiraten und allmählich wandelt sich die schöne und kluge Kleinbürgertochter zur "roten Gräfin". Mit Stenbock-Fermor, bei Kriegsende noch Weißgardist, in der Weimarer Republik Mitglied im "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller", zieht sie nach Berlin. Jetzt geht die Party erst richtig los.
Als Muse des erfolgreich schreibenden Grafen, der nicht mehr Graf sein will, lernt Charlotte die junge Elite kommunistischer Intellektueller und Künstler kennen, wird Mitglied der Roten Hilfe, dann der KPD. 1933 emigriert sie in die Schweiz, zu diesem Zeitpunkt ist sie von Stenbock-Fermor bereits geschieden, wenig später gelangt sie über Prag in die Sowjetunion. Jetzt ist sie mit dem Kommunisten Heinrich Kurella liiert, einem Bruder Alfred Kurellas, der anders als Heinrich die stalinistischen Säuberungen überleben und später Kulturfunktionär in der DDR werden wird. Unter dem Vorwand, sich dem NKWD als Spionin zur Verfügung zu stellen, gelingt Charlotte die Flucht aus dem Sowjetparadies über Kopenhagen nach Paris. Ihren Lebensgefährten lässt sie unter Gewissensqualen zurück. In Pontigny südlich von Paris, damals ein Treffpunkt französischer Intellektueller, lernt sie 1939 den zehn Jahre jüngeren schwedischen Sozialdemokraten Einar Hirdman kennen. Sie reist über Norwegen nach Stockholm und heiratet ihn. Endlich in Freiheit, ist sie nicht mehr staaten- und heimatlos.
Welch ein Lebensschicksal, welch eine von den totalitären Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarisch geprägte Biographie. Was aber macht die Tochter daraus? Einen Trivialroman voller Gefühlskitsch. Hirdman nimmt den Nachlass ihrer Mutter nicht als das an dramatischen Verwicklungen und großen Gefühlen reiche Material, das nüchtern darzustellen wäre. Er ist ihr vielmehr willkommener Anlass, sich selbst in Szene zu setzen. Wo die Mutter schwieg, wird die Tochter geschwätzig. Ihr Pathos verwässert nicht nur das imposante fotografische wie schriftliche Zeugnis der "roten Gräfin". Hirdmans Kommentierungszwang zerrt alles und jedes vor den Richterinnenstuhl einer recht eigenen feministischen Geschichtsdeutung, die keine Geschichte, dafür umso mehr Gefühlsausbrüche kennt.
Wiebke Bruhns war in ihrem Familienroman ähnlich verfahren, auch hier wurde Lebensgeschichte durch die empörungsmoralische Brille eines nachgeborenen Ichs betrachtet, das schon mal befand, er, der Vater, "sieht zum Kotzen aus". Mögen auch vor Gott alle historischen Epochen gleich sein, vor Hirdmans Geschichtsbetrachtung à la Bruhns gewiss nicht.
THOMAS MEDICUS
Yvonne Hirdman: "Meine Mutter, die Gräfin". Ein Jahrhundertleben zwischen Boheme und Kommunismus.
Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer. Insel Verlag, Berlin 2011. 573 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Drama einer selbstbewussten Frau: Yvonne Hirdman macht in dem Band "Meine Mutter, die Gräfin" aus der Lebensgeschichte ihrer Mutter einen Trivialroman
Erst lange nachdem zornige, nicht mehr ganz junge westdeutsche Männer mit ihren nationalsozialistischen Tätervätern abgerechnet hatten, waren die Töchter an der Reihe. Kurz nach der Jahrtausendwende verfassten Autorinnen, an erster Stelle Wiebke Bruhns mit "Meines Vaters Land", ihre "Familienromane", betrachteten Zeitgeschichte aus familienbiographischer Perspektive und plauderten schreibend, sich dabei selbst suchend wie therapierend, das lange beschwiegene "Familiengeheimnis Nationalsozialismus" aus.
Das seinerzeit für ein gewisses Aufsehen sorgende deutsche Phänomen ist inzwischen erloschen, ein spezifischer Gefühlskomplex ausagiert. Anders in Schweden. Yvonne Hirdman, Professorin für Frauen- und Gendergeschichte, hat dem deutschen Familienroman eine eigene Variante hinzugefügt. Bewältigt werden muss hier keine nationalsozialistische Vergangenheit, kein autoritärer Vater, sondern das Drama einer starken, selbstbewussten Mutter.
So recht erfährt man allerdings nicht, welches dunkle Familiengeheimnis Hirdman zu ihrer Recherche motiviert. Die unklare politische Vergangenheit der Mutter? Eine narzisstische Verletzung der Tochter im frühen Kindesalter? "Heute nacht hab' ich ein hässliches kleines Mädchen geboren", will Yvonne Hirdman 1966, kurz nach dem Tod ihrer Mutter Charlotte, in deren Tagebuch gelesen haben. Vierzig Jahre später stellt sie fest, dass der Satz ganz anders lautete, erst jetzt ist sie bereit, die Tage- und Notizbücher der Mutter genauer zu untersuchen.
Also geht die Tochter zurück bis zu den Großeltern mütterlicherseits und legt feinste genealogische Verästelungen offen. Die aus der französischen Schweiz stammende Großmutter Emilie verschlug es vor 1900 als Gouvernante auf einen Gutshof ins damals noch russische Estland, wo sie Fritz Schledt heiratete, einen Hamburger, der Buchhändler in Dorpat war. Hier kam Hirdmans Mutter, auch "Lolotte, Lottie" genannt, zur Welt. Bald zog die Familie Schledt nach Oxford, von dort in die Bukowina, zunächst nach Czernowitz, dann ins südlicher gelegene Radautz, wo der ehrgeizige Fritz stolzer Besitzer einer eigenen Buchhandlung wurde.
1921, mit fünfzehn Jahren, tritt Charlotte in das Geschäft des Vaters ein, später lernt sie in einem Weimarer Mädchenpensionat Sprachen, kehrt in die Bukowina zurück, arbeitet einige Jahre als Stenotypistin in Jena im Verlag Eugen Diederichs. Dort lernt sie den baltendeutschen Alexander Graf Stenbock-Fermor kennen, die beiden heiraten und allmählich wandelt sich die schöne und kluge Kleinbürgertochter zur "roten Gräfin". Mit Stenbock-Fermor, bei Kriegsende noch Weißgardist, in der Weimarer Republik Mitglied im "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller", zieht sie nach Berlin. Jetzt geht die Party erst richtig los.
Als Muse des erfolgreich schreibenden Grafen, der nicht mehr Graf sein will, lernt Charlotte die junge Elite kommunistischer Intellektueller und Künstler kennen, wird Mitglied der Roten Hilfe, dann der KPD. 1933 emigriert sie in die Schweiz, zu diesem Zeitpunkt ist sie von Stenbock-Fermor bereits geschieden, wenig später gelangt sie über Prag in die Sowjetunion. Jetzt ist sie mit dem Kommunisten Heinrich Kurella liiert, einem Bruder Alfred Kurellas, der anders als Heinrich die stalinistischen Säuberungen überleben und später Kulturfunktionär in der DDR werden wird. Unter dem Vorwand, sich dem NKWD als Spionin zur Verfügung zu stellen, gelingt Charlotte die Flucht aus dem Sowjetparadies über Kopenhagen nach Paris. Ihren Lebensgefährten lässt sie unter Gewissensqualen zurück. In Pontigny südlich von Paris, damals ein Treffpunkt französischer Intellektueller, lernt sie 1939 den zehn Jahre jüngeren schwedischen Sozialdemokraten Einar Hirdman kennen. Sie reist über Norwegen nach Stockholm und heiratet ihn. Endlich in Freiheit, ist sie nicht mehr staaten- und heimatlos.
Welch ein Lebensschicksal, welch eine von den totalitären Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarisch geprägte Biographie. Was aber macht die Tochter daraus? Einen Trivialroman voller Gefühlskitsch. Hirdman nimmt den Nachlass ihrer Mutter nicht als das an dramatischen Verwicklungen und großen Gefühlen reiche Material, das nüchtern darzustellen wäre. Er ist ihr vielmehr willkommener Anlass, sich selbst in Szene zu setzen. Wo die Mutter schwieg, wird die Tochter geschwätzig. Ihr Pathos verwässert nicht nur das imposante fotografische wie schriftliche Zeugnis der "roten Gräfin". Hirdmans Kommentierungszwang zerrt alles und jedes vor den Richterinnenstuhl einer recht eigenen feministischen Geschichtsdeutung, die keine Geschichte, dafür umso mehr Gefühlsausbrüche kennt.
Wiebke Bruhns war in ihrem Familienroman ähnlich verfahren, auch hier wurde Lebensgeschichte durch die empörungsmoralische Brille eines nachgeborenen Ichs betrachtet, das schon mal befand, er, der Vater, "sieht zum Kotzen aus". Mögen auch vor Gott alle historischen Epochen gleich sein, vor Hirdmans Geschichtsbetrachtung à la Bruhns gewiss nicht.
THOMAS MEDICUS
Yvonne Hirdman: "Meine Mutter, die Gräfin". Ein Jahrhundertleben zwischen Boheme und Kommunismus.
Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer. Insel Verlag, Berlin 2011. 573 S., geb., 22,90 [Euro].
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