"Mit den Dingen des täglichen Lebens geht Wagner so liebevoll um wie vor ihm nur Nicholson Baker." -- Die Welt
Aus einem verschwundenen Zauberreich - dem Westdeutschland der siebziger und achtziger Jahre
Für die allermeisten ist eine Hose nicht viel mehr als ein Stück Stoff. Nicht so für den Ich-Erzähler dieses außerge-wöhnlichen Romans. Vielleicht liegt es daran, dass er an jenem Tag, als er seine nachtblaue Hose erstmals trägt, eine junge Frau kennenlernt. Eine Berliner Liebesgeschichte schließt sich an, eine Reise an den Rhein und in die Kindheit einer Generation.
«So war sie, die Bundesrepublik, so wie sie der Held in David Wagners Debütroman erinnert. Mit Leichtigkeit, Witz und großer sprachlicher Begabung erzählt.» (DIE WELT)
«Raffiniert konstruiert, sprachlich geschliffen und sehr unterhaltsam.» (FOCUS)
Aus einem verschwundenen Zauberreich - dem Westdeutschland der siebziger und achtziger Jahre
Für die allermeisten ist eine Hose nicht viel mehr als ein Stück Stoff. Nicht so für den Ich-Erzähler dieses außerge-wöhnlichen Romans. Vielleicht liegt es daran, dass er an jenem Tag, als er seine nachtblaue Hose erstmals trägt, eine junge Frau kennenlernt. Eine Berliner Liebesgeschichte schließt sich an, eine Reise an den Rhein und in die Kindheit einer Generation.
«So war sie, die Bundesrepublik, so wie sie der Held in David Wagners Debütroman erinnert. Mit Leichtigkeit, Witz und großer sprachlicher Begabung erzählt.» (DIE WELT)
«Raffiniert konstruiert, sprachlich geschliffen und sehr unterhaltsam.» (FOCUS)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2000Der Hosen-Komplex
David Wagners Debütroman: Am Ende der Popliteratur und am Anfang des Erwachsenwerdens
Was, um Himmels willen, ist mit diesem Menschen los? Was hat er nur? Warum ist er so müde, so still und allein, so brav und artig, vor allem aber: Warum ist er so traurig? Und warum jammert er nicht wenigstens darüber? Warum bricht sich sein Sarkasmus, über den er ohne Zweifel verfügt, nicht Bahn? Warum gerät er nicht aus der Fassung?
Da steht er, der Mensch, in einem Geschäft in der Umkleidekabine, an jenem intim-öffentlichen Ort, der zu einem Zentrum seiner Existenz geworden ist. Er möchte sich eine Hose kaufen, eine Beschäftigung, in der er mehr Sinn und Befriedigung zu finden in der Lage ist, als all die Menschen, die vor ihm waren. Er steht also in jenem Teil der Welt, der ihm am nächsten ist. Er kennt aber auch die restliche Ecken und Orte, nein, nein er verkriecht sich keineswegs. Und doch ist er eigenartig orientierungslos, wirkt er schrecklich verloren, wie er da nicht weiß, ob er sich nun die Hose kaufen soll oder nicht. Aber vor allem ist er einfach traurig, wirklich traurig, obwohl er für seine Traurigkeit keine Worte findet. Vielleicht weiß er gar nicht, wie traurig er eigentlich ist.
„Außerdem”, sagt seine Freundin Fe, die mit ihm anprobiert, „kann eine passende Hose glücklicher machen als alles andere”, aber er hört sie schon fast nicht mehr, sie werden sich bald nicht mehr sehen, sie werden sich trennen, auch wenn sie keine Worte darüber verlieren werden, er weiß das. Aber ist es wirklich deswegen, dass er so traurig ist?
Der Debütroman „Meine nachtblaue Hose” des 1971 geborenen David Wagner hat viel mit der wohlfeilen und ausgestellten Tristesse zu tun, wie sie die Pop-Fraktion in der Literatur seit einiger Zeit so sehr liebt. Sie ist ähnlich desillusioniert, ähnlich solipsistisch, ähnlich müde, ähnlich resignativ. Aber Wagners Welt hat auch wieder wenig mit der allgemeinen Pop-Traurigkeit zu tun, denn bei ihm ist alles ist viel schlimmer. Wagner macht sich keine Gedanken mehr darüber, was angesagt ist, wer wie dasteht, er zürnt nicht und er rechtet nicht und er labert auch nicht. Die Traurigkeit ist keine Attitüde. Er erzählt und das Erzählen ist eigentlich auch nur noch ein Erinnern. Das aber, das kann er und er tut es mit Seligkeit.
Sein icherzählender, trauriger Held ist ausgezogen bei den Eltern und nach Berlin gegangen. In seiner nachtblauen Hose, die ihm seine Mutter in London gekauft hat, wohin sie nach der Trennung von seinem Vater als erfolgreiche Bankerin gegangen ist, hat er Fe kennen gelernt, weswegen die Hose zusätzliche Bedeutung bekommt, die Hose, die er gleichwohl und ein für alle Mal unter den falschen Vorzeichen, den elterlichen nämlich, bekommen hat. Fe wohnt in Friedrichshain mit Anatol, einem Ossi. Unser trauriger Held und Fe haben ein Verhältnis, erleben kurze Momente, die euphorisch zu nennen den Glücksrahmen, den der Held sich einräumt, sprengen würde, sie fahren zusammen ins Rheinland, wo sie beide herkommen, sie treffen seinen Vater zum Essen, sie kaufen zusammen eine Hose, er hat außerdem einen Unfall, aber das war’s dann auch. Und das ist im Großen und Ganzen auch das Buch.
Das Ganze aber wird wie ein Strom erzählt, ein absatzloser Wortfluss, in dem die Erinnerungen die ereignisarme Gegenwart reichlich überschwemmen. Das ist nicht neu. Wagner jedoch verknüpft die Erinnerungen so geschickt, sogar elegant, dass er – schon als Debütant – ein Meister des Schweifens und Treibens zu nennen ist. Er beschreibt kunstvoll wie niemand vor ihm jene Gefühlslage, in die anfällige Seelen geraten, kurz nachdem sie von Zuhause ausgezogen sind, traurige Erinnerung in glücklicher Einsamkeit, schwer und leicht im gleichen Moment, flüchtig und insistent. Ewig kreisende Goldfische, die zu Ködern schwimmen, heißt es einmal; die sich auch von einer eingetauchten Hundeschnauze nicht beunruhigen lassen, ein andermal.
Es hat schon alles seine Ordnung
Der traurige Held kommt aus einer geschlossenen Welt, wo er schon vorher weiß, was Frau Ops, die als Haushälterin die ferne Mama vertritt, sagen wird, in der nicht nur alles wunderbar arrangiert, sondern auch vorherbestimmt ist. Allgegenwärtig bis heute der Vater: „Auf den alten Märchenplatten kannte ich jedes Wort und wusste stets, was folgen würde, die Stimme meines Vaters aber war noch besser, sie konnte ich, wenn ich wollte, unterbrechen, etwa Papa, was heißt Klopfneigung fragen, ich musste den Tonarm nicht heben und in der Rille vor- oder zurücksetzen, um eine Stelle noch einmal zu hören, und nach und nach hat sich das alles, ganz langsam, auf mich überspielt. ” Genauso allgegenwärtig die Mutter: „. . . von da an klingelte es von ganz allein in meinem Ohr, sie meldete sich drahtlos bei mir, ihre Stimme kam von irgendwoher, schaltete sich ein, als hätte sie mir einen kleinen Lautsprecher in den Körper gepflanzt. . .”
Die Trennung der Eltern ist in dieser durch und durch bekannten und durchschauten Welt auch keine Möglichkeit mehr, sich zu echauffieren, sich im Recht zu fühlen, da – das sagt er nicht, aber man weiß es – würde er sich wirklich was vergeben. Und wozu Recht haben? Nein, es hat schon alles seine Ordnung. „Nein Papa, es ist ja sonst nichts passiert, ich hatte doch bloß Nasebluten. . .”, sagt er nach dem Autounfall. „. . . aber vielleicht dachte ich es auch nur”, fügt der Erzähler hinzu.
Kinder von einstigen Möchtegernrevolutionären haben es mit ihrer Absetzbewegung schwer, auch bei David Wagner spielt solche Sozialmechanik eine wichtige Rolle. Trotzdem ist sie nur ein Anfangsgrund der Traurigkeit. Denn eigentlich sind Fe und der Erzähler bei ihm Figuren in einem größeren, auswegloseren Spiel: Sie spielen Liebe, indem sie sich ihre Vergangenheiten erzählen oder erfinden, sie spielen Erwachsene, indem sie sich von den Eltern erzählen, warum haben sich deine Eltern scheiden lassen, warum haben sich deine Eltern nicht scheiden lassen? Da ist kein Ausweg. Familie war immer ein Spiel, und so kann man es auch weiterspielen. Da ist gleichzeitig Nähe und Fremde, da ist Vertrauen und Distanz, da ist alles, was war, vollkommen durchsichtig und alles, was ist, irgendwie verschwommen. Das kann nicht gut gehen, die Freundin wird mehr und mehr zur Cousine, zur Schwester, zum Familienmitglied.
Wagner erzählt mit unübersehbarer Hingabe an die wirkliche Welt, viel ist von Hosen, Etiketten, Marmelade und Flecken die Rede. Es wirkt, als könnte man sich an den wirklichen Dingen festhalten. Mit Freude wird der treffende Ausdruck verwendet, die Polizei etwa trägt „Kevlar-Westen” oder dem Vater ist das Klavierspiel des Sohnes ein „Sedativum”. Aber selbst die wirkliche Welt ist kontaminiert, auch die wirklichen Dinge entstammen der Elternwelt. Auch der Vater schwadronierte schon über die Eleganz des Kreiskolbenmotors beim RO 80. Die Hose der Mutter ist, assistiert von der Marmelade, die der Vater ausdauernd einkocht, mithin das durch und durch zwiespältige Leitmotiv der Erinnerung. So hat Wagners Warenliebe wenig mit dem Warenfetischismus zu tun, wie man ihn einem Teil der neueren Literatur gern unterstellt. Wenn Wagner einen Geistesverwandten hat, dann könnte es vielleicht der Amerikaner Nicholson Baker sein.
Der Held reist mit seiner Freundin von Berlin nach Köln und erinnert sich an seine Kindheit, das ist der Inhalt dieses Buches. Er kommt aus Bonn. Neben einem Buch über die Innenwelt ist dieses Buch so auch ein Buch über die alte BRD und ein Buch über die Verschiebung von West nach Ost, die seit zehn Jahren stattfindet, es ist ein 89er Buch, geschrieben vom denkbar westlichsten Standpunkt aus. Manchmal allerdings übertreibt Wagner hier seine sonst so geschickten metaphorischen Anspielungen.
Warum aber ist die Hose nachtblau? Hat die Hose nur jene Farbe, die von der der Trauer durch einen Schimmer entfernt ist? Einmal hatte der traurige Held davon geträumt, Maler zu sein. „. . . dabei hätte ich so gerne das große Blau, die Farbe des Himmels, gemalt, aber weil es das hohe und das tiefe Blau schon gab, ließ ich die Blätter weiß, und als ich lernte, weiß sei die wahre Farbe der Trauer, strengte ich mich nicht mehr weiter an, meine Blätter waren fertig, sowie ein Blatt vor mir lag, erinnerte ich mich. ”
PETER MICHALZIK
DAVID WAGNER: Meine nachtblaue Hose. Roman. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 190 Seiten, 34 Mark
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
David Wagners Debütroman: Am Ende der Popliteratur und am Anfang des Erwachsenwerdens
Was, um Himmels willen, ist mit diesem Menschen los? Was hat er nur? Warum ist er so müde, so still und allein, so brav und artig, vor allem aber: Warum ist er so traurig? Und warum jammert er nicht wenigstens darüber? Warum bricht sich sein Sarkasmus, über den er ohne Zweifel verfügt, nicht Bahn? Warum gerät er nicht aus der Fassung?
Da steht er, der Mensch, in einem Geschäft in der Umkleidekabine, an jenem intim-öffentlichen Ort, der zu einem Zentrum seiner Existenz geworden ist. Er möchte sich eine Hose kaufen, eine Beschäftigung, in der er mehr Sinn und Befriedigung zu finden in der Lage ist, als all die Menschen, die vor ihm waren. Er steht also in jenem Teil der Welt, der ihm am nächsten ist. Er kennt aber auch die restliche Ecken und Orte, nein, nein er verkriecht sich keineswegs. Und doch ist er eigenartig orientierungslos, wirkt er schrecklich verloren, wie er da nicht weiß, ob er sich nun die Hose kaufen soll oder nicht. Aber vor allem ist er einfach traurig, wirklich traurig, obwohl er für seine Traurigkeit keine Worte findet. Vielleicht weiß er gar nicht, wie traurig er eigentlich ist.
„Außerdem”, sagt seine Freundin Fe, die mit ihm anprobiert, „kann eine passende Hose glücklicher machen als alles andere”, aber er hört sie schon fast nicht mehr, sie werden sich bald nicht mehr sehen, sie werden sich trennen, auch wenn sie keine Worte darüber verlieren werden, er weiß das. Aber ist es wirklich deswegen, dass er so traurig ist?
Der Debütroman „Meine nachtblaue Hose” des 1971 geborenen David Wagner hat viel mit der wohlfeilen und ausgestellten Tristesse zu tun, wie sie die Pop-Fraktion in der Literatur seit einiger Zeit so sehr liebt. Sie ist ähnlich desillusioniert, ähnlich solipsistisch, ähnlich müde, ähnlich resignativ. Aber Wagners Welt hat auch wieder wenig mit der allgemeinen Pop-Traurigkeit zu tun, denn bei ihm ist alles ist viel schlimmer. Wagner macht sich keine Gedanken mehr darüber, was angesagt ist, wer wie dasteht, er zürnt nicht und er rechtet nicht und er labert auch nicht. Die Traurigkeit ist keine Attitüde. Er erzählt und das Erzählen ist eigentlich auch nur noch ein Erinnern. Das aber, das kann er und er tut es mit Seligkeit.
Sein icherzählender, trauriger Held ist ausgezogen bei den Eltern und nach Berlin gegangen. In seiner nachtblauen Hose, die ihm seine Mutter in London gekauft hat, wohin sie nach der Trennung von seinem Vater als erfolgreiche Bankerin gegangen ist, hat er Fe kennen gelernt, weswegen die Hose zusätzliche Bedeutung bekommt, die Hose, die er gleichwohl und ein für alle Mal unter den falschen Vorzeichen, den elterlichen nämlich, bekommen hat. Fe wohnt in Friedrichshain mit Anatol, einem Ossi. Unser trauriger Held und Fe haben ein Verhältnis, erleben kurze Momente, die euphorisch zu nennen den Glücksrahmen, den der Held sich einräumt, sprengen würde, sie fahren zusammen ins Rheinland, wo sie beide herkommen, sie treffen seinen Vater zum Essen, sie kaufen zusammen eine Hose, er hat außerdem einen Unfall, aber das war’s dann auch. Und das ist im Großen und Ganzen auch das Buch.
Das Ganze aber wird wie ein Strom erzählt, ein absatzloser Wortfluss, in dem die Erinnerungen die ereignisarme Gegenwart reichlich überschwemmen. Das ist nicht neu. Wagner jedoch verknüpft die Erinnerungen so geschickt, sogar elegant, dass er – schon als Debütant – ein Meister des Schweifens und Treibens zu nennen ist. Er beschreibt kunstvoll wie niemand vor ihm jene Gefühlslage, in die anfällige Seelen geraten, kurz nachdem sie von Zuhause ausgezogen sind, traurige Erinnerung in glücklicher Einsamkeit, schwer und leicht im gleichen Moment, flüchtig und insistent. Ewig kreisende Goldfische, die zu Ködern schwimmen, heißt es einmal; die sich auch von einer eingetauchten Hundeschnauze nicht beunruhigen lassen, ein andermal.
Es hat schon alles seine Ordnung
Der traurige Held kommt aus einer geschlossenen Welt, wo er schon vorher weiß, was Frau Ops, die als Haushälterin die ferne Mama vertritt, sagen wird, in der nicht nur alles wunderbar arrangiert, sondern auch vorherbestimmt ist. Allgegenwärtig bis heute der Vater: „Auf den alten Märchenplatten kannte ich jedes Wort und wusste stets, was folgen würde, die Stimme meines Vaters aber war noch besser, sie konnte ich, wenn ich wollte, unterbrechen, etwa Papa, was heißt Klopfneigung fragen, ich musste den Tonarm nicht heben und in der Rille vor- oder zurücksetzen, um eine Stelle noch einmal zu hören, und nach und nach hat sich das alles, ganz langsam, auf mich überspielt. ” Genauso allgegenwärtig die Mutter: „. . . von da an klingelte es von ganz allein in meinem Ohr, sie meldete sich drahtlos bei mir, ihre Stimme kam von irgendwoher, schaltete sich ein, als hätte sie mir einen kleinen Lautsprecher in den Körper gepflanzt. . .”
Die Trennung der Eltern ist in dieser durch und durch bekannten und durchschauten Welt auch keine Möglichkeit mehr, sich zu echauffieren, sich im Recht zu fühlen, da – das sagt er nicht, aber man weiß es – würde er sich wirklich was vergeben. Und wozu Recht haben? Nein, es hat schon alles seine Ordnung. „Nein Papa, es ist ja sonst nichts passiert, ich hatte doch bloß Nasebluten. . .”, sagt er nach dem Autounfall. „. . . aber vielleicht dachte ich es auch nur”, fügt der Erzähler hinzu.
Kinder von einstigen Möchtegernrevolutionären haben es mit ihrer Absetzbewegung schwer, auch bei David Wagner spielt solche Sozialmechanik eine wichtige Rolle. Trotzdem ist sie nur ein Anfangsgrund der Traurigkeit. Denn eigentlich sind Fe und der Erzähler bei ihm Figuren in einem größeren, auswegloseren Spiel: Sie spielen Liebe, indem sie sich ihre Vergangenheiten erzählen oder erfinden, sie spielen Erwachsene, indem sie sich von den Eltern erzählen, warum haben sich deine Eltern scheiden lassen, warum haben sich deine Eltern nicht scheiden lassen? Da ist kein Ausweg. Familie war immer ein Spiel, und so kann man es auch weiterspielen. Da ist gleichzeitig Nähe und Fremde, da ist Vertrauen und Distanz, da ist alles, was war, vollkommen durchsichtig und alles, was ist, irgendwie verschwommen. Das kann nicht gut gehen, die Freundin wird mehr und mehr zur Cousine, zur Schwester, zum Familienmitglied.
Wagner erzählt mit unübersehbarer Hingabe an die wirkliche Welt, viel ist von Hosen, Etiketten, Marmelade und Flecken die Rede. Es wirkt, als könnte man sich an den wirklichen Dingen festhalten. Mit Freude wird der treffende Ausdruck verwendet, die Polizei etwa trägt „Kevlar-Westen” oder dem Vater ist das Klavierspiel des Sohnes ein „Sedativum”. Aber selbst die wirkliche Welt ist kontaminiert, auch die wirklichen Dinge entstammen der Elternwelt. Auch der Vater schwadronierte schon über die Eleganz des Kreiskolbenmotors beim RO 80. Die Hose der Mutter ist, assistiert von der Marmelade, die der Vater ausdauernd einkocht, mithin das durch und durch zwiespältige Leitmotiv der Erinnerung. So hat Wagners Warenliebe wenig mit dem Warenfetischismus zu tun, wie man ihn einem Teil der neueren Literatur gern unterstellt. Wenn Wagner einen Geistesverwandten hat, dann könnte es vielleicht der Amerikaner Nicholson Baker sein.
Der Held reist mit seiner Freundin von Berlin nach Köln und erinnert sich an seine Kindheit, das ist der Inhalt dieses Buches. Er kommt aus Bonn. Neben einem Buch über die Innenwelt ist dieses Buch so auch ein Buch über die alte BRD und ein Buch über die Verschiebung von West nach Ost, die seit zehn Jahren stattfindet, es ist ein 89er Buch, geschrieben vom denkbar westlichsten Standpunkt aus. Manchmal allerdings übertreibt Wagner hier seine sonst so geschickten metaphorischen Anspielungen.
Warum aber ist die Hose nachtblau? Hat die Hose nur jene Farbe, die von der der Trauer durch einen Schimmer entfernt ist? Einmal hatte der traurige Held davon geträumt, Maler zu sein. „. . . dabei hätte ich so gerne das große Blau, die Farbe des Himmels, gemalt, aber weil es das hohe und das tiefe Blau schon gab, ließ ich die Blätter weiß, und als ich lernte, weiß sei die wahre Farbe der Trauer, strengte ich mich nicht mehr weiter an, meine Blätter waren fertig, sowie ein Blatt vor mir lag, erinnerte ich mich. ”
PETER MICHALZIK
DAVID WAGNER: Meine nachtblaue Hose. Roman. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 190 Seiten, 34 Mark
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Die Kappe von Klementine
David Wagners Romandebüt "Meine nachtblaue Hose" / Von Alexandra M. Kedves
Tausend Namen, tausend Geschichten, tausendundeins Geheimnisse: Das Telefonbuch ist mittlerweile so etwas wie der letzte Hort der Metaphysik. Da hängt an jeder Zeile ein verborgenes Geknäuel - neudeutsch: Rhizom - aus Wünschen, Träumen, Enttäuschungen, und wer Lust hat, denkt sich was dabei. Und David Wagner hatte Lust. Gemeinsam mit zwei weiteren Berliner Jungautoren feierte er vor zwei Jahren in seiner "Telefonbuchlesung" die Ästhetik der aleatorischen Ahnungen und Abschweifungen. Nun hat er sie in seinem Debütroman "Meine nachtblaue Hose" buchstäblich in eine salonfähige Garderobe gesteckt. "Jede Hose war anders, weshalb ich mich hin und wieder bei irgendeiner unbeabsichtigten Bewegung - einer Bewegung, die sich im nachhinein selten rekonstruieren ließ - an eine Begebenheit erinnerte, die sich ereignet hatte, als ich eine ganz bestimmte Hose trug."
Viele Hosen und noch mehr Erinnerungen. Der Hosenstoff rutscht über die Haut, in einer raschen Drehung schwingt der Saum vergangenheitsschwanger mit, und schon sind sie wieder da: Augenblicke, ganze Tage, und ihre Stimmungen, heraufbeschworen durch die Madeleines aus Cordsamt, Jeans oder Schurwolle. Beim nächsten Rascheln des Schlags allerdings versinkt die wiedergefundene Zeit im Vergessen und macht einer weiteren kleinen Auferstehung Platz.
Und noch mehr Erinnerungen: Geschichten aus alten Zeiten erzählen nicht nur die Hosen, sondern alles, was ins Blick-, Hör- oder Riechfeld unseres Helden fällt. Wenn er sich etwa nebenbei mit der Serviette über die Lippen tupft, bleiben, zusammen mit den Waschpulveraromen, mentale Krümel aus zwei, drei Jahrzehnten kleben - die Haushälterin Frau Ops, ihre Klementine-Sprüche und ihre Klementine-Schürze, Muttersätze, Vaterrefrains, Tonspuren, Sommertage voller Wäscheleinen, Wäscheklammern, die auf den Fingerspitzen sitzen, Sissi de Maas, Fernsehwelten, Kinderwelten, "Ich bin Hui Buh, das Schlossgespenst", Waren-Wahrheiten. Eine Kindheit im Westen eben. Der 1971 im Rheinland geborene Autor schickt seinen Ich-Erzähler mit neuer Freundin von Berlin nach Köln und Bonn, zurück in die Heimat der beiden, dorthin, wo einst ihre Rollen und ihre Charaktere gebastelt wurden. Er hat sie zurückbuchstabiert wie die Republik zum Vor-Wende-Provisorium. Und wie die Eltern, in deren Plattenschrank die Beatles vor sich hinstauben wie ihre Ideale.
Die Freundin, die sich in ihrer Ostberliner Wohnung einen Puma-Adidas-unbeleckten Mann von drüben hält, trägt im Elternhaus brav Rock und Brille, und irgendwann finden im alten Kinderzimmer Doktorspiele statt; "mich störte nicht, dass wir bestimmt schon viel jünger als dreizehn geworden waren", kommentiert der Erzähler diesen Jungbrunnen zum Anfassen. Aber trotzdem werden die zwei Frischverliebten allmählich zu jung füreinander. Und zu ähnlich. Oder unterschiedlich - wie seine Eltern, die sich scheiden ließen, als er klein war. Am Ende der Reise landen die leidenschaftliche Ethnologie-Studentin und der bummelnde Jura-Student in einer Umkleidekabine: Sie probiert entschlossen eine schwarze Hose, während er seine nachtblaue kaum herunterbekommt. Da weiß sie es auf einmal: "mit uns beiden, das wird nichts". Worauf er überlegt, ob er jetzt "ich nehme die Hose" sagen sollte "oder eher etwas Unpassenderes wie ich liebe dich oder ich liebe dich nicht mehr".
Pfeile werden längst keine mehr abgeschossen, keine amourösen, keine bitterbösen: Das Debüt David Wagners kultiviert jene Décadence, die zu müde ist zum Glitzern und zum Spotten; die gerade noch lebt, wenn auch sonst nichts lebt. Jugendjahre unter Bonns Bourgeoisie der Achtziger, mit Klavier-Traktieren, Hund-Ausführen, Patchwork-Familien-Pathologisieren. Tennessee Williams' süßer Vogel Jugend war nie da, auch die Endstation Sehnsucht ist ein Luftschloss. Élegance dégagée könnte das genannt werden, was Wagner immer wieder glückt, wenn seinem Helden alles danebengeht. Er trifft den Ton für das Leben in Zuckerwatte, das am Finger pappt und im Mund zergeht wie - Nichts.
"Ich hörte den Regen ans Fenster tropfen und erinnerte mich an Eis auf Erdbeerspiegel, an Minzblätter auf Mousse aus weißer und schwarzer Schokolade und an heiße Himbeeren, die ich unter den Augen meiner Verwandtschaft vorsichtig essen musste . . . Aber an den Nachtisch am Vortag erinnerte ich mich nicht. Es gab keinen Kuchen, keine Linzer-, keine Großvaterschokoladentorte, dachte ich, meine Beine schliefen langsam ein." Und die Tristram-Shandy-Uhr tickt: Wagner zieht seine Knäuelästhetik durch und hat an fast alles gedacht. Nur nicht daran, auch mal ein Bonbon, ein Bonmot liegen zu lassen. Dabei hätte gar niemand mehr fragen brauchen, "wie kommt man aus seiner Verpuppung heraus, aus dem Kokon von Kunststoffkindheit, Nutellakindern, Niveatöchtern?", und niemand hätte mehr klagen brauchen über sein "eingeschweißtes, westdeutsches Leben", in dem Tortenstücke ausschauen wie Zierfische im Süßwasseraquarium.
Allein, der sprachverliebte Autor hat eine Botschaft und setzt auf jedes Sahnehäubchen eins drauf. Sein Rhein ist eine "Kunststoffschlange", sein Protagonist jobbt beim Onkel in der Kunststoffabrik, das Etikett der neuen Hose hängt an einem Kunststoffaden. Mit von der Rheinpartie sind tote Fische, tumbe Hunde, Mütter, die "iss, Kind" drängeln, Ossies "vorher" und "nachher" und was sonst auf den Karten eines jungen, bundesdeutschen Gruselmemorys drauf ist. Selbst hyperbolisch grinsend macht das wenig Spaß - und manchmal ist die Entdeckung der Langsamkeit lähmend. So stapeln in der Pause zwischen einem Schluck Kaffee und einem Biss ins Erdbeermarmeladebrot die leitmotivischen Souvenirs: Der triste Taugenichts sieht seinen Vater, einen Ministerialbeamten, beim Marmeladeeinkochen, er hört ihn am Keramikkochfeld der Einbauküche über Chemie dozieren und die Mutter über Zahnlöcher nölen. Aber wenn einer aus tausendundeins Erinnerungsfädchen einen rechten Roman schreiben kann, ist das schon eine ganze Menge.
David Wagner: "Meine nachtblaue Hose." Roman. Alexander Fest Verlag. Berlin 2000. 187 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
David Wagners Romandebüt "Meine nachtblaue Hose" / Von Alexandra M. Kedves
Tausend Namen, tausend Geschichten, tausendundeins Geheimnisse: Das Telefonbuch ist mittlerweile so etwas wie der letzte Hort der Metaphysik. Da hängt an jeder Zeile ein verborgenes Geknäuel - neudeutsch: Rhizom - aus Wünschen, Träumen, Enttäuschungen, und wer Lust hat, denkt sich was dabei. Und David Wagner hatte Lust. Gemeinsam mit zwei weiteren Berliner Jungautoren feierte er vor zwei Jahren in seiner "Telefonbuchlesung" die Ästhetik der aleatorischen Ahnungen und Abschweifungen. Nun hat er sie in seinem Debütroman "Meine nachtblaue Hose" buchstäblich in eine salonfähige Garderobe gesteckt. "Jede Hose war anders, weshalb ich mich hin und wieder bei irgendeiner unbeabsichtigten Bewegung - einer Bewegung, die sich im nachhinein selten rekonstruieren ließ - an eine Begebenheit erinnerte, die sich ereignet hatte, als ich eine ganz bestimmte Hose trug."
Viele Hosen und noch mehr Erinnerungen. Der Hosenstoff rutscht über die Haut, in einer raschen Drehung schwingt der Saum vergangenheitsschwanger mit, und schon sind sie wieder da: Augenblicke, ganze Tage, und ihre Stimmungen, heraufbeschworen durch die Madeleines aus Cordsamt, Jeans oder Schurwolle. Beim nächsten Rascheln des Schlags allerdings versinkt die wiedergefundene Zeit im Vergessen und macht einer weiteren kleinen Auferstehung Platz.
Und noch mehr Erinnerungen: Geschichten aus alten Zeiten erzählen nicht nur die Hosen, sondern alles, was ins Blick-, Hör- oder Riechfeld unseres Helden fällt. Wenn er sich etwa nebenbei mit der Serviette über die Lippen tupft, bleiben, zusammen mit den Waschpulveraromen, mentale Krümel aus zwei, drei Jahrzehnten kleben - die Haushälterin Frau Ops, ihre Klementine-Sprüche und ihre Klementine-Schürze, Muttersätze, Vaterrefrains, Tonspuren, Sommertage voller Wäscheleinen, Wäscheklammern, die auf den Fingerspitzen sitzen, Sissi de Maas, Fernsehwelten, Kinderwelten, "Ich bin Hui Buh, das Schlossgespenst", Waren-Wahrheiten. Eine Kindheit im Westen eben. Der 1971 im Rheinland geborene Autor schickt seinen Ich-Erzähler mit neuer Freundin von Berlin nach Köln und Bonn, zurück in die Heimat der beiden, dorthin, wo einst ihre Rollen und ihre Charaktere gebastelt wurden. Er hat sie zurückbuchstabiert wie die Republik zum Vor-Wende-Provisorium. Und wie die Eltern, in deren Plattenschrank die Beatles vor sich hinstauben wie ihre Ideale.
Die Freundin, die sich in ihrer Ostberliner Wohnung einen Puma-Adidas-unbeleckten Mann von drüben hält, trägt im Elternhaus brav Rock und Brille, und irgendwann finden im alten Kinderzimmer Doktorspiele statt; "mich störte nicht, dass wir bestimmt schon viel jünger als dreizehn geworden waren", kommentiert der Erzähler diesen Jungbrunnen zum Anfassen. Aber trotzdem werden die zwei Frischverliebten allmählich zu jung füreinander. Und zu ähnlich. Oder unterschiedlich - wie seine Eltern, die sich scheiden ließen, als er klein war. Am Ende der Reise landen die leidenschaftliche Ethnologie-Studentin und der bummelnde Jura-Student in einer Umkleidekabine: Sie probiert entschlossen eine schwarze Hose, während er seine nachtblaue kaum herunterbekommt. Da weiß sie es auf einmal: "mit uns beiden, das wird nichts". Worauf er überlegt, ob er jetzt "ich nehme die Hose" sagen sollte "oder eher etwas Unpassenderes wie ich liebe dich oder ich liebe dich nicht mehr".
Pfeile werden längst keine mehr abgeschossen, keine amourösen, keine bitterbösen: Das Debüt David Wagners kultiviert jene Décadence, die zu müde ist zum Glitzern und zum Spotten; die gerade noch lebt, wenn auch sonst nichts lebt. Jugendjahre unter Bonns Bourgeoisie der Achtziger, mit Klavier-Traktieren, Hund-Ausführen, Patchwork-Familien-Pathologisieren. Tennessee Williams' süßer Vogel Jugend war nie da, auch die Endstation Sehnsucht ist ein Luftschloss. Élegance dégagée könnte das genannt werden, was Wagner immer wieder glückt, wenn seinem Helden alles danebengeht. Er trifft den Ton für das Leben in Zuckerwatte, das am Finger pappt und im Mund zergeht wie - Nichts.
"Ich hörte den Regen ans Fenster tropfen und erinnerte mich an Eis auf Erdbeerspiegel, an Minzblätter auf Mousse aus weißer und schwarzer Schokolade und an heiße Himbeeren, die ich unter den Augen meiner Verwandtschaft vorsichtig essen musste . . . Aber an den Nachtisch am Vortag erinnerte ich mich nicht. Es gab keinen Kuchen, keine Linzer-, keine Großvaterschokoladentorte, dachte ich, meine Beine schliefen langsam ein." Und die Tristram-Shandy-Uhr tickt: Wagner zieht seine Knäuelästhetik durch und hat an fast alles gedacht. Nur nicht daran, auch mal ein Bonbon, ein Bonmot liegen zu lassen. Dabei hätte gar niemand mehr fragen brauchen, "wie kommt man aus seiner Verpuppung heraus, aus dem Kokon von Kunststoffkindheit, Nutellakindern, Niveatöchtern?", und niemand hätte mehr klagen brauchen über sein "eingeschweißtes, westdeutsches Leben", in dem Tortenstücke ausschauen wie Zierfische im Süßwasseraquarium.
Allein, der sprachverliebte Autor hat eine Botschaft und setzt auf jedes Sahnehäubchen eins drauf. Sein Rhein ist eine "Kunststoffschlange", sein Protagonist jobbt beim Onkel in der Kunststoffabrik, das Etikett der neuen Hose hängt an einem Kunststoffaden. Mit von der Rheinpartie sind tote Fische, tumbe Hunde, Mütter, die "iss, Kind" drängeln, Ossies "vorher" und "nachher" und was sonst auf den Karten eines jungen, bundesdeutschen Gruselmemorys drauf ist. Selbst hyperbolisch grinsend macht das wenig Spaß - und manchmal ist die Entdeckung der Langsamkeit lähmend. So stapeln in der Pause zwischen einem Schluck Kaffee und einem Biss ins Erdbeermarmeladebrot die leitmotivischen Souvenirs: Der triste Taugenichts sieht seinen Vater, einen Ministerialbeamten, beim Marmeladeeinkochen, er hört ihn am Keramikkochfeld der Einbauküche über Chemie dozieren und die Mutter über Zahnlöcher nölen. Aber wenn einer aus tausendundeins Erinnerungsfädchen einen rechten Roman schreiben kann, ist das schon eine ganze Menge.
David Wagner: "Meine nachtblaue Hose." Roman. Alexander Fest Verlag. Berlin 2000. 187 S., geb., 34,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Debütroman des Berliner Jungautors, der "aus tausendundeins Erinnerungsfädchen" besteht, hat Alexandra M. Kedves, so scheint es, unterhalten, wenn auch nicht begeistert. Dass nicht nur an den jeweiligen Beinkleidern ganze Wortkaskaden der Erinnerung hängen und dann auch losbrechen dürfen, sondern auch an allem, wirklich allem anderen sich Szenen erinnern lassen aus Familie, Kinderzimmer und Klavierstunden, will sie gerne glauben, und auch, dass in diesem Leben alles vorwiegend aus Kunststoff ist (selbstredend auch die Hosen). Aber letztlich hat die jungberliner "Décadence" sie trotz des beeindruckenden Aufwands wohl eher ermüdet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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