Die junge mittellose Amerikanerin Victoria kommt Ende der zwanziger Jahre nach Paris und erliegt der Faszination des Künstlers Sorrel. In seiner Kolonie scheint sie den gesuchten Ort der Zugehörigkeit gefunden zu haben. Bald muss sie jedoch die Schattenseiten des alternativen Lebens kennenlernen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen
Zum Abschlussband von Kay Boyles europäischer Romantrilogie
Zunächst die Story: Victoria, eine junge Amerikanerin, unruhig, begabt, wissbegierig und abenteuerbereit, bricht Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in das kriegsversehrte Europa und nach Paris auf, um dort das Fürchten und noch einiges mehr zu lernen. Knapp bei Kasse, mietet sie sich in einer maroden Villa in einem einst besseren Pariser Quartier ein, eine unbehagliche Zuflucht für Gestrandete. Sie tut dies gegen die ihr zugewisperten Warnungen ihrer Mitmieterinnen, zweier ältlicher, aus Russland geflohener Schwestern, die, hungernd und frierend, aber auf ihre gute Herkunft bedacht, sehr à la Tschechow, die Zeit verrinnen lassen. Durch diese gerät Victoria in den Kreis eines „Guru”, der ausgeflippten jungen Leuten ein anderes – und natürlich besseres – Leben verspricht und sie für seinen alternativen Laden hartledrige Sandalen und selbstgefärbte Tücher und Gewänder anfertigen lässt, die zusammen mit seinen Heilslehren feilgeboten werden.
Victoria erliegt zunächst dem – wie sie glaubt, spirituellen – Zauber des „Meisters”, reiht sich unter die Frondienst leistenden jungen Leute ein und packt an, weil sie leben will und Geld braucht. Aber sie behält ihren wachen Kopf und durchschaut sehr bald die trüben Machenschaften des „Heilers” und seiner dubiosen Lebensgefährtin. Ihre Aufgabe ist es, reiche, heilsbedürftige Amerikanerinnen zum Kauf zu animieren und für des Meisters Lehren zu gewinnen. Und sie erlebt, dass ein besonders guter Abschluss, keineswegs den verzweifelten jungen Leuten zugute kommt, sondern ohne Scham in ein teures Automobil für des Meisters höhere Bedürfnisse umgesetzt wird.
Im Laden trifft sie auf Antony, einen hoch begabten, exzentrischen jungen Künstler, der über seine – undurchschaubaren – Verhältnisse lebt. Trotz unlösbarer Bindung an seine reizvoll-bizarre Frau Fontana verliebt er sich in sie, das herbe Gegenteil. Damit beginnt das zweite Abenteuer der Simplicissima aus der Neuen Welt. Sie, die „Puritanerin”, nimmt teil an hochalkoholisierten Nächten mit promiskuiden Sex-Spielen, gerät in Verwirrung, nimmt aber nicht tieferen Schaden an ihrer Person. Und auch Antony ist keineswegs nur ein lasziver Verführer, eher ein Verführbarer, ein von seinen künstlerischen Ambitionen und Lebenswünschen Hin- und Hergerissener.
Der Roman endet mit einer ungewollten Schwangerschaft Victorias, der Freundschaft der Frauen und dem Suizid des exzentrischen Künstlers, den die beiden eines wirklich schönen Morgens aus der Tageszeitung erfahren. „,Nicht weinen, Antony hat gesagt, du weinst nie‘, sagte Fontana, eine kleine, klare Stimme, die diese Worte auflas, zusammenfügte und auf ewig wiederholte. ”
Das Romanende lässt alles offen, Victoria ist, so darf man hoffen, noch einmal davongekommen. Wir haben es offenkundig mit dem Entwicklungsroman einer jungen Frau aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts zu tun.
Das Buch mit dem etwas rätselvollen Titel Meine nächste Braut beschließt als dritter Band die „europäische” Romantrilogie der amerikanischen Schriftstellerin Kay Boyle, den der Verlag Neue Kritik jetzt deutsch – wieder von Hannah Harders – vorlegt. (Eine beträchtliche und überwiegend gelungene Übersetzerleistung. )
Die Verlagswerbung spricht von „autobiografischen Romanen”. Mit gewissem Recht. Die Autorin besteht mit größerem Recht darauf, alles sei frei erfunden. Ganz gewiss verarbeitet Kay Boyle in diesen frühen Romanen (im Original erschienen sie Anfang der dreißiger Jahre) Partien ihres persönlich und zeitgeschichtlich turbulenten Lebens. Aber niemals entstehen blasse Kopien, übermalte Fotografien des wirklich Erlebten. Mit behutsamer Entschiedenheit löst sie ihre Figuren von sich selbst und von etwaigen Modellen (und sie lassen sich in ihrer Biografie finden). Ihr zugleich teilnehmender und distanzierender Blick ist auf die Essenz ihrer Personen aus, zugleich nuanciert sie deren augenfällige Besonderheiten, verknüpft ihre Schicksale mit beträchtlichem erzählerischen Geschick und gibt ihnen – über das Zeittypische weit hinaus – eine auch heute noch glaubhafte eigene Existenz. Kurz, die höchst produktive, 1902 geborene und mit 92 Jahren gestorbene amerikanische Schriftstellerin Kay Boyle erweist sich schon am Anfang als Erzählerin von Rang.
Es ist dem couragierten Verlag Neue Kritik zu danken, dass er den deutschen Lesern diese Autorin nach einem spannenden Editionsplan vorstellt. Ihr Werk und ihre Persönlichkeit sind eine substantielle Ergänzung zu dem, was man bislang – durch Gertrude Stein und William Carlos Williams, Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald, Djuna Barnes und Janet Flanner – von der heute „klassischen Moderne der amerikanischen Literatur kannte. Kay Boyle sah übrigens ihre berühmten Zeitgenossen und auch den Goldglanz der Epoche durchaus kritisch. Über ihre literarischen Ambitionen hinaus engagierte sie sich ihr langes Leben lang in den politischen Freiheitsbewegungen des Jahrhunderts. Aber sie sei nicht – so korrigierte sie das Missverständnis eines Interviews – zu einer „world revolution”, sondern zu einer „word revolution” ausgezogen, zu einer Revolution der Sprache. Daran hat sie ihren lesenswerten Anteil.
KYRA STROMBERG
KAY BOYLE: Meine nächste Braut. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hannah Harders. Neue Kritik, Frankfurt/M. 2000. 279 Seiten, 38 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Zum Abschlussband von Kay Boyles europäischer Romantrilogie
Zunächst die Story: Victoria, eine junge Amerikanerin, unruhig, begabt, wissbegierig und abenteuerbereit, bricht Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in das kriegsversehrte Europa und nach Paris auf, um dort das Fürchten und noch einiges mehr zu lernen. Knapp bei Kasse, mietet sie sich in einer maroden Villa in einem einst besseren Pariser Quartier ein, eine unbehagliche Zuflucht für Gestrandete. Sie tut dies gegen die ihr zugewisperten Warnungen ihrer Mitmieterinnen, zweier ältlicher, aus Russland geflohener Schwestern, die, hungernd und frierend, aber auf ihre gute Herkunft bedacht, sehr à la Tschechow, die Zeit verrinnen lassen. Durch diese gerät Victoria in den Kreis eines „Guru”, der ausgeflippten jungen Leuten ein anderes – und natürlich besseres – Leben verspricht und sie für seinen alternativen Laden hartledrige Sandalen und selbstgefärbte Tücher und Gewänder anfertigen lässt, die zusammen mit seinen Heilslehren feilgeboten werden.
Victoria erliegt zunächst dem – wie sie glaubt, spirituellen – Zauber des „Meisters”, reiht sich unter die Frondienst leistenden jungen Leute ein und packt an, weil sie leben will und Geld braucht. Aber sie behält ihren wachen Kopf und durchschaut sehr bald die trüben Machenschaften des „Heilers” und seiner dubiosen Lebensgefährtin. Ihre Aufgabe ist es, reiche, heilsbedürftige Amerikanerinnen zum Kauf zu animieren und für des Meisters Lehren zu gewinnen. Und sie erlebt, dass ein besonders guter Abschluss, keineswegs den verzweifelten jungen Leuten zugute kommt, sondern ohne Scham in ein teures Automobil für des Meisters höhere Bedürfnisse umgesetzt wird.
Im Laden trifft sie auf Antony, einen hoch begabten, exzentrischen jungen Künstler, der über seine – undurchschaubaren – Verhältnisse lebt. Trotz unlösbarer Bindung an seine reizvoll-bizarre Frau Fontana verliebt er sich in sie, das herbe Gegenteil. Damit beginnt das zweite Abenteuer der Simplicissima aus der Neuen Welt. Sie, die „Puritanerin”, nimmt teil an hochalkoholisierten Nächten mit promiskuiden Sex-Spielen, gerät in Verwirrung, nimmt aber nicht tieferen Schaden an ihrer Person. Und auch Antony ist keineswegs nur ein lasziver Verführer, eher ein Verführbarer, ein von seinen künstlerischen Ambitionen und Lebenswünschen Hin- und Hergerissener.
Der Roman endet mit einer ungewollten Schwangerschaft Victorias, der Freundschaft der Frauen und dem Suizid des exzentrischen Künstlers, den die beiden eines wirklich schönen Morgens aus der Tageszeitung erfahren. „,Nicht weinen, Antony hat gesagt, du weinst nie‘, sagte Fontana, eine kleine, klare Stimme, die diese Worte auflas, zusammenfügte und auf ewig wiederholte. ”
Das Romanende lässt alles offen, Victoria ist, so darf man hoffen, noch einmal davongekommen. Wir haben es offenkundig mit dem Entwicklungsroman einer jungen Frau aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts zu tun.
Das Buch mit dem etwas rätselvollen Titel Meine nächste Braut beschließt als dritter Band die „europäische” Romantrilogie der amerikanischen Schriftstellerin Kay Boyle, den der Verlag Neue Kritik jetzt deutsch – wieder von Hannah Harders – vorlegt. (Eine beträchtliche und überwiegend gelungene Übersetzerleistung. )
Die Verlagswerbung spricht von „autobiografischen Romanen”. Mit gewissem Recht. Die Autorin besteht mit größerem Recht darauf, alles sei frei erfunden. Ganz gewiss verarbeitet Kay Boyle in diesen frühen Romanen (im Original erschienen sie Anfang der dreißiger Jahre) Partien ihres persönlich und zeitgeschichtlich turbulenten Lebens. Aber niemals entstehen blasse Kopien, übermalte Fotografien des wirklich Erlebten. Mit behutsamer Entschiedenheit löst sie ihre Figuren von sich selbst und von etwaigen Modellen (und sie lassen sich in ihrer Biografie finden). Ihr zugleich teilnehmender und distanzierender Blick ist auf die Essenz ihrer Personen aus, zugleich nuanciert sie deren augenfällige Besonderheiten, verknüpft ihre Schicksale mit beträchtlichem erzählerischen Geschick und gibt ihnen – über das Zeittypische weit hinaus – eine auch heute noch glaubhafte eigene Existenz. Kurz, die höchst produktive, 1902 geborene und mit 92 Jahren gestorbene amerikanische Schriftstellerin Kay Boyle erweist sich schon am Anfang als Erzählerin von Rang.
Es ist dem couragierten Verlag Neue Kritik zu danken, dass er den deutschen Lesern diese Autorin nach einem spannenden Editionsplan vorstellt. Ihr Werk und ihre Persönlichkeit sind eine substantielle Ergänzung zu dem, was man bislang – durch Gertrude Stein und William Carlos Williams, Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald, Djuna Barnes und Janet Flanner – von der heute „klassischen Moderne der amerikanischen Literatur kannte. Kay Boyle sah übrigens ihre berühmten Zeitgenossen und auch den Goldglanz der Epoche durchaus kritisch. Über ihre literarischen Ambitionen hinaus engagierte sie sich ihr langes Leben lang in den politischen Freiheitsbewegungen des Jahrhunderts. Aber sie sei nicht – so korrigierte sie das Missverständnis eines Interviews – zu einer „world revolution”, sondern zu einer „word revolution” ausgezogen, zu einer Revolution der Sprache. Daran hat sie ihren lesenswerten Anteil.
KYRA STROMBERG
KAY BOYLE: Meine nächste Braut. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hannah Harders. Neue Kritik, Frankfurt/M. 2000. 279 Seiten, 38 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2001Die nächste Braut macht alles besser
Eine Wiederentdeckung: Kay Boyles flirrender Roman aus dem Paris der dreißiger Jahre · Von Ingeborg Harms
Sie war eine Schlüsselfigur für den Glamour der zwanziger Jahre und schmückte viele Trinkgelage am Pariser Saint-Germain mit ihrem schlanken Wuchs, dem klassischen Profil und ihrem losen, hochfahrenden Mundwerk. In Kay Boyles Biographie laufen die Schicksalsfäden von Millionären und Almosensuchern, Avantgardekünstlern und Mäzenen, sowjetischen Kommunisten und österreichischen Faschisten zwanglos zusammen. Sie brachte es fertig, in schnellem Wechsel sehr reich und erbärmlich arm, eine biedere Hausfrau und eine gesuchte Autorin zu sein. Ihr Liebesleben war turbulent und von malerischen Krisen gezeichnet, ihre Produktivität ehrfurchterregend professionell und von einem sehr modernen Zug zur Selbstmythologisierung beseelt. Sie schrieb am Küchentisch, im Bett und auf der Toilette, zog sechs Kinder auf, von denen vier ihre eigenen waren, und machte mit unerschöpflicher Energie als Kritikerin und Ränkeschmiedin literarisch Politik.
Für das junge, ungezähmte Amerika stand die 1902 in Minnesota geborene Frau in besonderer Weise. Ihre schwärmerische Mutter hatte der Tochter die Schule erspart und sie im vermögenden Elternhaus als verwöhntes Naturkind heranwachsen lassen. Boyles künstlerische Lebensgestaltung realisierte den mütterlichen Traum. Sobald sie als junge Frau eines französischen Gaststudenten das europäische Festland betrat und bei ihren bretonischen Schwiegereltern unterkam, machte sie sich daran, alles ihr Widerfahrende in Stories und Romanen festzuhalten. Es dauerte nicht lange, bis Boyle in der französischen Hauptstadt Fuß faßte und mit dem todkranken Poeten Ernest Walsh davonlief. "Meine nächste Braut" schöpft aus ihren Pariser Erfahrungen.
Der Roman erzählt die Geschichte der mittellosen Kanadierin Victoria John, die in einer schäbigen Pension im Vorort Neuilly ein Zimmer findet. Sie wohnt Wand an Wand mit zwei abgerissenen russischen Aristokratinnen, die ein gespenstisch reduziertes Dasein fristen. Sie führen Victoria in eine bizarre Kommune ein, die unter der Leitung des Künstlers Sorrel alternative Lebensformen kultiviert, die bei näherem Hinsehen schnell ihren Zauber verlieren: Der Nachwuchs ist verwahrlost, psychisch gestört und unterernährt, das schmutzstarrende Domizil ungeheizt, Sorrel ein Kindskopf und die Jüngerschaft von Ranküne beseelt. In einem kleinen Pariser Geschäft verkauft Victoria die handgemachten Seidentuniken der Kolonie. Dort wird sie von Antony entdeckt, einem reichen, aber deprimierten Landsmann, der Victoria auf Exkursionen in sein luxuriöses Dasein mitnimmt und ihr pausenlos von seinem Spleen erzählt. Eine champagnergeflutete Hausbootparty endet mit Victorias Schwangerschaft und dem ergebnislosen Versuch, das Kind durch Tabletten abzutreiben.
Es gelingt Kay Boyle in diesem Buch, ein melancholisches, seltsam menschenleeres Paris zu evozieren, in dem Kälte und Bruchfälligkeit die Existenz beherrschen und unvermittelt auf Ausläufer eines Überflusses treffen, der seiner selbst nicht froh wird. Antony versucht sein müßiggängerisches Wesen abzuschütteln, er wirbt halbherzig um Victorias Liebe und beklagt das Immaterielle des eigenen Charakters.
"Meine nächste Braut" markiert atmosphärisch die Zäsur zwischen einer alteuropäischen, auf Herkommen und Sitte gegründeten Lebensweise und einer neuen, wurzellosen Lebensform, die ihr Selbstbewußtsein noch sucht. Der zeitlich Anfang der dreißiger Jahre angesiedelte Roman verzichtet auf eine dominierende Handlung und konzentriert sich ganz auf die skurrilen Symptome einer Generation der Heimatlosen und Verwirrten. Boyles Stil spiegelt die Ortlosigkeit der Figuren, die Erzählung hat keinen festen Standpunkt, probiert Haltungen aus und läßt widersprüchliche Urteile in fast schon schizophrener Weise nebeneinander gelten. Sorrel bleibt als Figur zwischen romantischer Idealisierung und sarkastischer Demontage letztlich so ungreifbar wie der zwischen Übermut und Katzenjammer schwankende Antony. Der Leser lernt Sorrel, für den Isadora Duncans Bruder Raymond Modell stand, bei einer sonntäglichen Ausdruckstanz-Veranstaltung kennen. Zunächst kommandiert er mit der schnarrenden Stimme eines Bauern und springt dazu "wie behext durch sein windgepeitschtes monströses Kornfeld". Wenig später erreicht sein Tanz eine "Exaltation, die ihn ins Göttliche erhob". Nun sieht er aus "wie ein Prediger, der sein Volk mahnend antreibt", ja, er wirkt "entrückt wie ein lächelnder unschuldiger Adler". Sorrels schamanenhafte Verwandlungen sind bezeichnend für den narrativen Modus. Weder der einzelne noch seine Beziehungen treten in einen klaren Umriß.
Die Motivationen der Heldin lassen sich am wenigsten durchdringen. Wir erfahren nicht, warum sie nach Paris gekommen ist. Jungmädchenhaft passiv läßt sie die Dinge mit sich geschehen. Obwohl sie sich nach einem nahrhaften Bissen sehnt, reicht Victoria eine Tasche voll Geld, die Antony ihr zudachte, gleichmütig an die russischen Schwestern weiter, die es plötzlich nach Monte Carlo treibt, denn dort "tut sich so viel für alleinstehende Frauen". Komische Höhepunkte erreicht der Roman, wenn seine vom Leben verwehten Gestalten sich abrupt zu einer neuen Existenz entschließen. Antony wählt die Armut und versucht vergebens, seinen tadellosen Anzug auf der Rue Mouffetard zu verschenken: Mißtrauisch wittern die Pariser Arbeiter Krankheitsviren in den Falten. Der jahrein, jahraus in einer Tunika und griechischen Sandalen herumlaufende Sorrel verscherbelt die einzige große Geldeinnahme seines Lebens für einen teuren Sportwagen, den er sich nur leisten kann, weil er verspricht, in Zukunft auf Pamphleten und Vortragsplakaten für die Firma Reklame zu machen. Die russischen Schwestern werden ihrer noblen Haltung wegen beim Besuch einer Arbeitsvermittlung unverzüglich ins Büro der Direktrice vorgelassen. Grandios entfaltet Boyle die Dramaturgie der Desillusionierung, das schwindende Interesse der Agentin, die entdeckt, daß sie es nicht mit potentiellen Arbeitgebern zu tun hat, und den sich verzweifelt aufbäumenden Überlebenswillen der ältlichen Russinnen, die ihre einzige Gelegenheit erkennen.
In Amerika wurde "Meine nächste Braut" 1934 nicht eben euphorisch begrüßt. Das Buch galt als trivial, die Figuren schienen belanglos. Tatsächlich erfaßt der Roman blitzlichtartig die weltanschauliche Krise zwischen den Kriegen, führt auf individueller Ebene vor, wie Lethargie und Extremismus miteinander wechseln, und vergißt in Sorrel auch die trügerische Führerfigur nicht, deren Charisma vor allem darin besteht, daß ihr Narzißmus dem Chaos unerschüttert standhält.
Kay Boyle: "Meine nächste Braut". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannah Harders. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2000. 277 Seiten, geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Wiederentdeckung: Kay Boyles flirrender Roman aus dem Paris der dreißiger Jahre · Von Ingeborg Harms
Sie war eine Schlüsselfigur für den Glamour der zwanziger Jahre und schmückte viele Trinkgelage am Pariser Saint-Germain mit ihrem schlanken Wuchs, dem klassischen Profil und ihrem losen, hochfahrenden Mundwerk. In Kay Boyles Biographie laufen die Schicksalsfäden von Millionären und Almosensuchern, Avantgardekünstlern und Mäzenen, sowjetischen Kommunisten und österreichischen Faschisten zwanglos zusammen. Sie brachte es fertig, in schnellem Wechsel sehr reich und erbärmlich arm, eine biedere Hausfrau und eine gesuchte Autorin zu sein. Ihr Liebesleben war turbulent und von malerischen Krisen gezeichnet, ihre Produktivität ehrfurchterregend professionell und von einem sehr modernen Zug zur Selbstmythologisierung beseelt. Sie schrieb am Küchentisch, im Bett und auf der Toilette, zog sechs Kinder auf, von denen vier ihre eigenen waren, und machte mit unerschöpflicher Energie als Kritikerin und Ränkeschmiedin literarisch Politik.
Für das junge, ungezähmte Amerika stand die 1902 in Minnesota geborene Frau in besonderer Weise. Ihre schwärmerische Mutter hatte der Tochter die Schule erspart und sie im vermögenden Elternhaus als verwöhntes Naturkind heranwachsen lassen. Boyles künstlerische Lebensgestaltung realisierte den mütterlichen Traum. Sobald sie als junge Frau eines französischen Gaststudenten das europäische Festland betrat und bei ihren bretonischen Schwiegereltern unterkam, machte sie sich daran, alles ihr Widerfahrende in Stories und Romanen festzuhalten. Es dauerte nicht lange, bis Boyle in der französischen Hauptstadt Fuß faßte und mit dem todkranken Poeten Ernest Walsh davonlief. "Meine nächste Braut" schöpft aus ihren Pariser Erfahrungen.
Der Roman erzählt die Geschichte der mittellosen Kanadierin Victoria John, die in einer schäbigen Pension im Vorort Neuilly ein Zimmer findet. Sie wohnt Wand an Wand mit zwei abgerissenen russischen Aristokratinnen, die ein gespenstisch reduziertes Dasein fristen. Sie führen Victoria in eine bizarre Kommune ein, die unter der Leitung des Künstlers Sorrel alternative Lebensformen kultiviert, die bei näherem Hinsehen schnell ihren Zauber verlieren: Der Nachwuchs ist verwahrlost, psychisch gestört und unterernährt, das schmutzstarrende Domizil ungeheizt, Sorrel ein Kindskopf und die Jüngerschaft von Ranküne beseelt. In einem kleinen Pariser Geschäft verkauft Victoria die handgemachten Seidentuniken der Kolonie. Dort wird sie von Antony entdeckt, einem reichen, aber deprimierten Landsmann, der Victoria auf Exkursionen in sein luxuriöses Dasein mitnimmt und ihr pausenlos von seinem Spleen erzählt. Eine champagnergeflutete Hausbootparty endet mit Victorias Schwangerschaft und dem ergebnislosen Versuch, das Kind durch Tabletten abzutreiben.
Es gelingt Kay Boyle in diesem Buch, ein melancholisches, seltsam menschenleeres Paris zu evozieren, in dem Kälte und Bruchfälligkeit die Existenz beherrschen und unvermittelt auf Ausläufer eines Überflusses treffen, der seiner selbst nicht froh wird. Antony versucht sein müßiggängerisches Wesen abzuschütteln, er wirbt halbherzig um Victorias Liebe und beklagt das Immaterielle des eigenen Charakters.
"Meine nächste Braut" markiert atmosphärisch die Zäsur zwischen einer alteuropäischen, auf Herkommen und Sitte gegründeten Lebensweise und einer neuen, wurzellosen Lebensform, die ihr Selbstbewußtsein noch sucht. Der zeitlich Anfang der dreißiger Jahre angesiedelte Roman verzichtet auf eine dominierende Handlung und konzentriert sich ganz auf die skurrilen Symptome einer Generation der Heimatlosen und Verwirrten. Boyles Stil spiegelt die Ortlosigkeit der Figuren, die Erzählung hat keinen festen Standpunkt, probiert Haltungen aus und läßt widersprüchliche Urteile in fast schon schizophrener Weise nebeneinander gelten. Sorrel bleibt als Figur zwischen romantischer Idealisierung und sarkastischer Demontage letztlich so ungreifbar wie der zwischen Übermut und Katzenjammer schwankende Antony. Der Leser lernt Sorrel, für den Isadora Duncans Bruder Raymond Modell stand, bei einer sonntäglichen Ausdruckstanz-Veranstaltung kennen. Zunächst kommandiert er mit der schnarrenden Stimme eines Bauern und springt dazu "wie behext durch sein windgepeitschtes monströses Kornfeld". Wenig später erreicht sein Tanz eine "Exaltation, die ihn ins Göttliche erhob". Nun sieht er aus "wie ein Prediger, der sein Volk mahnend antreibt", ja, er wirkt "entrückt wie ein lächelnder unschuldiger Adler". Sorrels schamanenhafte Verwandlungen sind bezeichnend für den narrativen Modus. Weder der einzelne noch seine Beziehungen treten in einen klaren Umriß.
Die Motivationen der Heldin lassen sich am wenigsten durchdringen. Wir erfahren nicht, warum sie nach Paris gekommen ist. Jungmädchenhaft passiv läßt sie die Dinge mit sich geschehen. Obwohl sie sich nach einem nahrhaften Bissen sehnt, reicht Victoria eine Tasche voll Geld, die Antony ihr zudachte, gleichmütig an die russischen Schwestern weiter, die es plötzlich nach Monte Carlo treibt, denn dort "tut sich so viel für alleinstehende Frauen". Komische Höhepunkte erreicht der Roman, wenn seine vom Leben verwehten Gestalten sich abrupt zu einer neuen Existenz entschließen. Antony wählt die Armut und versucht vergebens, seinen tadellosen Anzug auf der Rue Mouffetard zu verschenken: Mißtrauisch wittern die Pariser Arbeiter Krankheitsviren in den Falten. Der jahrein, jahraus in einer Tunika und griechischen Sandalen herumlaufende Sorrel verscherbelt die einzige große Geldeinnahme seines Lebens für einen teuren Sportwagen, den er sich nur leisten kann, weil er verspricht, in Zukunft auf Pamphleten und Vortragsplakaten für die Firma Reklame zu machen. Die russischen Schwestern werden ihrer noblen Haltung wegen beim Besuch einer Arbeitsvermittlung unverzüglich ins Büro der Direktrice vorgelassen. Grandios entfaltet Boyle die Dramaturgie der Desillusionierung, das schwindende Interesse der Agentin, die entdeckt, daß sie es nicht mit potentiellen Arbeitgebern zu tun hat, und den sich verzweifelt aufbäumenden Überlebenswillen der ältlichen Russinnen, die ihre einzige Gelegenheit erkennen.
In Amerika wurde "Meine nächste Braut" 1934 nicht eben euphorisch begrüßt. Das Buch galt als trivial, die Figuren schienen belanglos. Tatsächlich erfaßt der Roman blitzlichtartig die weltanschauliche Krise zwischen den Kriegen, führt auf individueller Ebene vor, wie Lethargie und Extremismus miteinander wechseln, und vergißt in Sorrel auch die trügerische Führerfigur nicht, deren Charisma vor allem darin besteht, daß ihr Narzißmus dem Chaos unerschüttert standhält.
Kay Boyle: "Meine nächste Braut". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannah Harders. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2000. 277 Seiten, geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kyra Stromberg hält den dritten Band der `europäischen` Romantrilogie der Amerikanerin Kay Boyle für einen Entwicklungsroman. Zwei Abenteuer muss die `Simplicissima aus der Neuen Welt` bestehen, bis sie - wenn auch das Ende offen bleibt - ein wenig mehr sich selbst erkannt hat. Der Roman trägt autobiografische Züge, erzählt Stromberg. Auch die 1902 geborene Boyle führte in den zwanziger Jahren ein turbulentes Leben. Die Rezensentin lobt aber, dass die Schriftstellerin `mit behutsamer Entschiedenheit` ihre Romanfiguren vom eigenen Kontext gelöst hat. Sie sind keine `blassen Kopien`. Boyles Blick sei vielmehr teilnehmend und distanzierend zugleich. Hier gehe es nicht um eine abbildgetreue Darstellung lebender Personen, sondern um ihre Essenz, ihre augenfälligen Besonderheiten und die Verknüpfung ihrer Schicksale - was die Autorin mit `beträchtlichem erzählerischen Geschick` gemeistert habe. Und: Die Figuren stehen für sich, sie gehen über das Zeittypische hinaus (die Romantrilogie erschien im Original erstmals Anfang der dreißiger Jahre), meint die Rezensentin. Sie ist überzeugt, dass bereits dieses Frühwerk Boyle als eine `Erzählerin von Rang` ausweist. Eine Schriftstellerin, die Stromberg neben Gertrude Stein, Ernst Hemingway, Djuna Barnes, Janet Flanner, Scott Fitzgerald und Carlos Williams für eine Vertreterin der klassischen modernen amerikanischen Literatur hält. Lob erntet auch Hannah Harders. Ihre Übersetzung findet Stromberg `beträchtlich` und überwiegend gelungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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