Auf den Schultern eines Riesen: Ryszard Kapuscinski reist mit dem ersten Reporter der Menschheitsgeschichte um die Welt. Schon immer war er von ihm fasziniert. Und bis heute ist er für ihn der Größte. Wann und wohin auch immer Ryszard Kapuscinski unterwegs war, Herodot war dabei. Dabei war es anfangs gar nicht so leicht, an ein Exemplar von dessen Historien zu kommen, denn in Polen gab es keine Übersetzung davon. Und als die fertig vorlag, durfte sie nicht gedruckt werden: Stalin lag im Sterben und das jahrtausendealte Buch erzählt mindestens ebenso viel vom Zerfall wie von der Schaffung riesiger Reiche, ebenso erschütternd vom Sturz der Mächtigen wie von ihrem Aufstieg. Erst 1954 kam der junge Ryszard Kapuscinski mit dem Buch in Berührung, und es erwies sich als Erleuchtung. Da war einer, von Neugier und Wissensdurst getrieben, aufgebrochen, die Grenzen der bekannten Welt auszuloten, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, oder sich wenigstens von Augenzeugen berichten zu lassen, was sich auf der Welt zugetragen hat. Herodot war kein Händler, Spion, Diplomat oder Tourist, sondern, wie später auch Ryszard Kapuscinski, Reporter, Anthropologe, Ethnograph und Schriftsteller.
Ryszard Kapuscinski erzählt, wie er mit Herodot nach Afrika, Asien und in Europa reist, was er an den Stellen findet, von denen einst der alte Grieche schrieb, welche Konflikte von heute ihre Wurzeln schon damals hatten und wie die Überlieferung menschlicher Geschichte funktioniert.
Ryszard Kapuscinski erzählt, wie er mit Herodot nach Afrika, Asien und in Europa reist, was er an den Stellen findet, von denen einst der alte Grieche schrieb, welche Konflikte von heute ihre Wurzeln schon damals hatten und wie die Überlieferung menschlicher Geschichte funktioniert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2006Reporter ohne Grenzen
Antike O-Töne: Ryszard Kapuscinski reist mit Herodot
Nietzsche, der sich auf diese Dinge verstand, gab einmal den Rat, um die griechischen Philosophen der Antike kennenzulernen, solle man kein Handbuch der Geschichte der antiken Philosophie studieren, sondern Diogenes Laertius lesen. Dieser Diogenes Laertius gibt eine bunte Sammlung von Aussprüchen und Anekdoten, kein abstraktes Schema, sondern Fragmente und witzige kurze Porträts: etwas chaotisch, dafür lebendig. Dasselbe gilt für die alte griechische Geschichte. Um sie kennenzulernen, muß man Herodot lesen, kein modernes Lehrbuch, sei es noch so gut. Herodots "Geschichten" oder "Forschungen" oder "Historien" - über die Übersetzung des Titels kann man streiten - bringen das antike Leben rings ums östliche Mittelmeer in seiner verrückten Fülle: Politisches und Geographisches, Kriminelles und Sexuelles, Kulturgeschichte und Religionen. Alles ist da, und zwar wunderbar erzählt: dramatisch, mit vielen Anekdoten und kleinen Porträts. Herodot war unendlich neugierig; er hat sich für alles interessiert und erzählt uns, wie Äthiopier aussehen und wie Ägypter eine Mumie präparieren. Sein großes literarisches Kunstwerk fächert das Hauptthema, die Perserkriege, vielfältig-bunt auf und bietet Eiligen zudem einen weiteren Vorteil: Es läßt sich wegen seiner lockeren Form in kleinen Einheiten, also häppchenweise, lesen.
Herodots Geschichten sind ein Lebensbuch: prall und rund, sinnlich und meditativ, und diesen Umstand macht Ryszard Kapuscinski sich zu eigen in seinem Buch: "Meine Reisen mit Herodot". Der polnische Autor ist 1932 geboren und im armen, kriegsverwüsteten Polen aufgewachsen; er arbeitete nach dem Krieg als Journalist. Als der neue ideologische Druck wuchs, wollte er ins Ausland, und er hatte Glück: Er wurde Auslandskorrespondent polnischer Zeitungen. Als Reporter mit Tatsachenhunger und Beobachtungsgabe reiste er seit dem Ende der fünfziger Jahre durch die Welt. Er kann plastisch erzählen, wie es in Indien zuging vor der Industrialisierung oder wie China aussah unter Mao. Er war in Persien, als der Schah stürzte; er sah dramatische Episoden der Entkolonialisierung: 1960 im Kongo, 1965 in Algier; er bereiste Ägypten und Äthiopien, Sudan und Senegal. Über all das schreibt er lebhafte Berichte - aber was hat das mit dem alten Griechen Herodot zu tun? Herodots Buch ist Kapuscinski früh in die Hände gefallen; die polnische Übersetzung erschien, als er dreiundzwanzig war, und seitdem wurde der antike Reisende, Sammler und Erzähler zum ständigen Begleiter des modernen Weltenbummlers. Auf der kunstvollen Vermischung dieser Welten beruht der Reiz dieses Buches.
In freien Minuten, etwa auf einer Terrasse am Nil, liest unser Reporter Herodot und findet sich in ihm wieder, in Herodots Stoffhunger und Reporterrolle. Schließlich war auch Herodot nach Afrika und Asien gereist, hatte sich für fremde Völker, deren Sitten und Schicksale interessiert. Er hatte herumgefragt und die Auskünfte aufgeschrieben, ohne sie weiter zu bewerten: je wunderlicher, um so respektabler. Selten deutet er an, daß er einer Erzählung nicht glaube. Herodot konnte nicht wie der moderne Reisende einen Blick von oben auf die Mittelmeerwelt werfen; er mußte sich durchfragen; er besaß weder Globus noch Karten; die ersten Karten waren gerade im Entstehen. Er mußte reisen und forschen, von Stadt zu Stadt, von Stamm zu Stamm. Er war das Urbild eines Reporters, und sein Nachfahr schlägt ihn immer wieder auf, erfreut sich an einer spannenden Erzählung oder einer pikanten Anekdote und meditiert mit ihm über den Gang der Menschengeschichte. Er sucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen heute und damals.
Kapuscinski vermeidet die alberne Frage: Was hat Herodot uns heute noch zu sagen? Er nimmt ihn mit in seine Gegenwart, ohne ihn zu modernisieren. Er läßt ihn einen alten Griechen des fünften Jahrhunderts (um 485 bis 425 vor Christus) sein, der Hochmut und Fall der damals einzig verbleibenden Supermacht, der Perser, beschreibt. Noch nicht einmal in dieser Hinsicht macht er aktualisierende Anspielungen. Er beweist Größe, Frische und Dauerhaftigkeit des antiken Textes, indem er ihn in seine eigenen Reportagen einsetzt. Moralisiert wird nicht, weder damals noch heute; es wird beobachtet, geforscht, verglichen und notiert. Beim modernen Autor kein gelehrtes Pathos, kein rhetorischer Humanismus, keine Griechenland-Begeisterung, und doch kommt Herodot zu Wort. Das ist schon ein kleines Wunder.
Manche freilich werden es befremdlich finden: Kapuscinski macht Herodot, den Forscher und großen Schriftsteller, zum Reporterkollegen. Das geht nicht ohne falschen Zungenschlag. Die deutsche Übersetzung gibt Herodot den abscheulichen Titel "Vollblutreporter". Kapuscinski selbst sieht wohl den Abstand. Nur wenige allzu flotte Formulierungen verraten die professionelle Deformation. Gräzisten vom Fach werden manchmal die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: Kapuscinski korrigiert zwar gelegentlich seine Annäherungsversuche, aber nimmt die antiken Texte zu sehr als Tatsachenberichte, wo es sich um kleine Mythen oder Exempla-Erzählungen handelt. Dann verkennt er die Textsorten, kehrt schließlich doch wieder zu Herodot, dem Geschichtsdenker und Künstler, zurück. Sein Text changiert in dieser Hinsicht. Es ist leicht, ihn gelehrt zu kritisieren, aber es gibt ihm auch seinen Reiz. Der Verfasser verspricht nirgendwo ein "Sachbuch" über Herodot; er gibt nicht vor, Philologe zu sein. Er braucht und gebraucht Herodot, und das ist sein Recht. Er setzt ihn, den Längstvergangenen, in seine Gegenwart.
Dieses frische Reportagenbuch regt an, Herodot zu lesen. Es gibt mehrere deutsche Übersetzungen, und es gibt hervorragende Verständnishilfen. Das Nacheinander der großen Geschichtsdarsteller Herodot und Thukydides hat bedeutende Althistoriker und Gräzisten immer angezogen. Genannt seien nur Hermann Strasburger und Wolfgang Schadewaldt, Kurt von Fritz und Walter Burkert. Diese Forscher haben sich nicht mehr damit begnügt, die Berichte Herodots auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Sie haben seine künstlerische Form und die Einheit seines vielteiligen Werkes gezeigt, seine Gestaltungskunst und Geschichtsauffassung. Der eine oder andere von ihnen gießt Wasser in den Wein der Begeisterung über den "Vollblutreporter". So notiert Walter Burkert: "Ein naiver Berichterstatter ist Herodot nicht." Oder im Blick auf eine einzelne Episode: "Es handelt sich um eine Rekonstruktion, nicht um Feldnotizen."
Was bei diesen Gelehrten herauskommt, ist das Bild eines eher spekulativen Autors von ungewöhnlicher Größe. Das spricht nicht gegen Kapuscinskis anderen Zuschnitt. Sein Buch ist originell und liest sich spannend. Es kann gelegentlich auf die Nerven gehen, wenn er Fragen stellt, von denen er weiß, daß es auf sie keine Antwort gibt. Das mag in Dingen der Metaphysik ehrenvoll sein, aber hier geht es um Fälle wie diesen: Wir wissen fast nichts über die Biographie Herodots. Jeder weiß, daß wir nichts wissen. Dann hat es keinen Sinn zu fragen, ob er als Kind heiter war oder traurig und ob er auf seinen Reisen allein war oder ob er einen Sklaven dabei hatte. Solche Fragen tauchen auf wie lästige Mückenschwärme im Kongo, aber dann faßt unser Reporter sich wieder und beschreibt Herodots Werk als ein Drama von sophokleischem Ernst, als weltgeschichtliche Auseinandersetzung und menschliche Tragödie, in der Hochmut sich rächt, wenn auch erst nach Generationen und auf unbegreiflich grausame Weise.
Diesem ungewöhnlichen Buch sind viele Leser zu wünschen. Gefährlich allerdings könnte es werden, wenn es in die Hände von Gesundheitspolitikern fiele. Sie könnten in diesem Buch auf einen Vorschlag stoßen, der, zugegebenermaßen, befremdlich klingt, aber mit einem Schlag das "demographische Defizit" und die Misere der Krankenkassen beseitigen würde. Ich zitiere Herodots Bericht, weil er zeigt, wie plastisch er schreibt und wie vorurteilslos ein Wandervolk im Osten Indiens das Problem der Überalterung zu lösen verstand: "Wenn einer von ihnen, sei es ein Mann oder Weib, krank wird, so töten ihn, wenn es ein Mann ist, seine nächsten Freunde, weil sie glauben, wenn er an der Krankheit stürbe, würde ihnen sein Fleisch verderben. Sagt er auch, er sei gar nicht krank, so hilft ihm das nichts; er wird doch geschlachtet und verzehrt. Und wenn eine Frau krank wird, so machen es ihre Freundinnen mit ihr wie dort die Männer. Wenn er alt wird, wird jeder geschlachtet und verzehrt. Sehr alt aber werden die wenigsten von ihnen, weil sie jeden, der von einer Krankheit befallen wird, gleich abschlachten."
Das ist Originalton Herodot; sein moderner Reporterkollege zitiert ihn ungerührt. Das klingt tatsächlich eher nach "Vollblutreporter" als nach dem klassischen Griechenland-Bild von "edler Einfalt und stiller Größe". Man müßte die Übersetzung mit dem polnischen Original vergleichen, um die Übersetzung von Martin Pollack, die sich flott liest, zu bewerten. Wahrscheinlich kann er recht gut Polnisch, aber an seinem deutschen Stil ließen sich kleine Verbesserungen anbringen. Viel wäre schon gewonnen, wenn er das Wort "auf Anhieb", das er besonders liebt, nur bei Berichten über das Fällen von Bäumen verwenden würde. Denn "auf Anhieb", also mit einem einzigen Beilschlag, können Holzfäller einen Baum umlegen, aber "auf Anhieb" etwas einsehen oder "auf Anhieb" jemanden mögen - das geht im Deutschen nicht. Das klingt nach Stich und Hieb. So sprechen bei besseren deutschen Schriftstellern nur Waldfrevler und Haudegen.
Ryszard Kapuscinski: "Meine Reisen mit Herodot". Aus dem Polnischen übersetzt von Martin Pollack. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2005. 361 S., geb., 28,50 [Euro].
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Antike O-Töne: Ryszard Kapuscinski reist mit Herodot
Nietzsche, der sich auf diese Dinge verstand, gab einmal den Rat, um die griechischen Philosophen der Antike kennenzulernen, solle man kein Handbuch der Geschichte der antiken Philosophie studieren, sondern Diogenes Laertius lesen. Dieser Diogenes Laertius gibt eine bunte Sammlung von Aussprüchen und Anekdoten, kein abstraktes Schema, sondern Fragmente und witzige kurze Porträts: etwas chaotisch, dafür lebendig. Dasselbe gilt für die alte griechische Geschichte. Um sie kennenzulernen, muß man Herodot lesen, kein modernes Lehrbuch, sei es noch so gut. Herodots "Geschichten" oder "Forschungen" oder "Historien" - über die Übersetzung des Titels kann man streiten - bringen das antike Leben rings ums östliche Mittelmeer in seiner verrückten Fülle: Politisches und Geographisches, Kriminelles und Sexuelles, Kulturgeschichte und Religionen. Alles ist da, und zwar wunderbar erzählt: dramatisch, mit vielen Anekdoten und kleinen Porträts. Herodot war unendlich neugierig; er hat sich für alles interessiert und erzählt uns, wie Äthiopier aussehen und wie Ägypter eine Mumie präparieren. Sein großes literarisches Kunstwerk fächert das Hauptthema, die Perserkriege, vielfältig-bunt auf und bietet Eiligen zudem einen weiteren Vorteil: Es läßt sich wegen seiner lockeren Form in kleinen Einheiten, also häppchenweise, lesen.
Herodots Geschichten sind ein Lebensbuch: prall und rund, sinnlich und meditativ, und diesen Umstand macht Ryszard Kapuscinski sich zu eigen in seinem Buch: "Meine Reisen mit Herodot". Der polnische Autor ist 1932 geboren und im armen, kriegsverwüsteten Polen aufgewachsen; er arbeitete nach dem Krieg als Journalist. Als der neue ideologische Druck wuchs, wollte er ins Ausland, und er hatte Glück: Er wurde Auslandskorrespondent polnischer Zeitungen. Als Reporter mit Tatsachenhunger und Beobachtungsgabe reiste er seit dem Ende der fünfziger Jahre durch die Welt. Er kann plastisch erzählen, wie es in Indien zuging vor der Industrialisierung oder wie China aussah unter Mao. Er war in Persien, als der Schah stürzte; er sah dramatische Episoden der Entkolonialisierung: 1960 im Kongo, 1965 in Algier; er bereiste Ägypten und Äthiopien, Sudan und Senegal. Über all das schreibt er lebhafte Berichte - aber was hat das mit dem alten Griechen Herodot zu tun? Herodots Buch ist Kapuscinski früh in die Hände gefallen; die polnische Übersetzung erschien, als er dreiundzwanzig war, und seitdem wurde der antike Reisende, Sammler und Erzähler zum ständigen Begleiter des modernen Weltenbummlers. Auf der kunstvollen Vermischung dieser Welten beruht der Reiz dieses Buches.
In freien Minuten, etwa auf einer Terrasse am Nil, liest unser Reporter Herodot und findet sich in ihm wieder, in Herodots Stoffhunger und Reporterrolle. Schließlich war auch Herodot nach Afrika und Asien gereist, hatte sich für fremde Völker, deren Sitten und Schicksale interessiert. Er hatte herumgefragt und die Auskünfte aufgeschrieben, ohne sie weiter zu bewerten: je wunderlicher, um so respektabler. Selten deutet er an, daß er einer Erzählung nicht glaube. Herodot konnte nicht wie der moderne Reisende einen Blick von oben auf die Mittelmeerwelt werfen; er mußte sich durchfragen; er besaß weder Globus noch Karten; die ersten Karten waren gerade im Entstehen. Er mußte reisen und forschen, von Stadt zu Stadt, von Stamm zu Stamm. Er war das Urbild eines Reporters, und sein Nachfahr schlägt ihn immer wieder auf, erfreut sich an einer spannenden Erzählung oder einer pikanten Anekdote und meditiert mit ihm über den Gang der Menschengeschichte. Er sucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen heute und damals.
Kapuscinski vermeidet die alberne Frage: Was hat Herodot uns heute noch zu sagen? Er nimmt ihn mit in seine Gegenwart, ohne ihn zu modernisieren. Er läßt ihn einen alten Griechen des fünften Jahrhunderts (um 485 bis 425 vor Christus) sein, der Hochmut und Fall der damals einzig verbleibenden Supermacht, der Perser, beschreibt. Noch nicht einmal in dieser Hinsicht macht er aktualisierende Anspielungen. Er beweist Größe, Frische und Dauerhaftigkeit des antiken Textes, indem er ihn in seine eigenen Reportagen einsetzt. Moralisiert wird nicht, weder damals noch heute; es wird beobachtet, geforscht, verglichen und notiert. Beim modernen Autor kein gelehrtes Pathos, kein rhetorischer Humanismus, keine Griechenland-Begeisterung, und doch kommt Herodot zu Wort. Das ist schon ein kleines Wunder.
Manche freilich werden es befremdlich finden: Kapuscinski macht Herodot, den Forscher und großen Schriftsteller, zum Reporterkollegen. Das geht nicht ohne falschen Zungenschlag. Die deutsche Übersetzung gibt Herodot den abscheulichen Titel "Vollblutreporter". Kapuscinski selbst sieht wohl den Abstand. Nur wenige allzu flotte Formulierungen verraten die professionelle Deformation. Gräzisten vom Fach werden manchmal die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: Kapuscinski korrigiert zwar gelegentlich seine Annäherungsversuche, aber nimmt die antiken Texte zu sehr als Tatsachenberichte, wo es sich um kleine Mythen oder Exempla-Erzählungen handelt. Dann verkennt er die Textsorten, kehrt schließlich doch wieder zu Herodot, dem Geschichtsdenker und Künstler, zurück. Sein Text changiert in dieser Hinsicht. Es ist leicht, ihn gelehrt zu kritisieren, aber es gibt ihm auch seinen Reiz. Der Verfasser verspricht nirgendwo ein "Sachbuch" über Herodot; er gibt nicht vor, Philologe zu sein. Er braucht und gebraucht Herodot, und das ist sein Recht. Er setzt ihn, den Längstvergangenen, in seine Gegenwart.
Dieses frische Reportagenbuch regt an, Herodot zu lesen. Es gibt mehrere deutsche Übersetzungen, und es gibt hervorragende Verständnishilfen. Das Nacheinander der großen Geschichtsdarsteller Herodot und Thukydides hat bedeutende Althistoriker und Gräzisten immer angezogen. Genannt seien nur Hermann Strasburger und Wolfgang Schadewaldt, Kurt von Fritz und Walter Burkert. Diese Forscher haben sich nicht mehr damit begnügt, die Berichte Herodots auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Sie haben seine künstlerische Form und die Einheit seines vielteiligen Werkes gezeigt, seine Gestaltungskunst und Geschichtsauffassung. Der eine oder andere von ihnen gießt Wasser in den Wein der Begeisterung über den "Vollblutreporter". So notiert Walter Burkert: "Ein naiver Berichterstatter ist Herodot nicht." Oder im Blick auf eine einzelne Episode: "Es handelt sich um eine Rekonstruktion, nicht um Feldnotizen."
Was bei diesen Gelehrten herauskommt, ist das Bild eines eher spekulativen Autors von ungewöhnlicher Größe. Das spricht nicht gegen Kapuscinskis anderen Zuschnitt. Sein Buch ist originell und liest sich spannend. Es kann gelegentlich auf die Nerven gehen, wenn er Fragen stellt, von denen er weiß, daß es auf sie keine Antwort gibt. Das mag in Dingen der Metaphysik ehrenvoll sein, aber hier geht es um Fälle wie diesen: Wir wissen fast nichts über die Biographie Herodots. Jeder weiß, daß wir nichts wissen. Dann hat es keinen Sinn zu fragen, ob er als Kind heiter war oder traurig und ob er auf seinen Reisen allein war oder ob er einen Sklaven dabei hatte. Solche Fragen tauchen auf wie lästige Mückenschwärme im Kongo, aber dann faßt unser Reporter sich wieder und beschreibt Herodots Werk als ein Drama von sophokleischem Ernst, als weltgeschichtliche Auseinandersetzung und menschliche Tragödie, in der Hochmut sich rächt, wenn auch erst nach Generationen und auf unbegreiflich grausame Weise.
Diesem ungewöhnlichen Buch sind viele Leser zu wünschen. Gefährlich allerdings könnte es werden, wenn es in die Hände von Gesundheitspolitikern fiele. Sie könnten in diesem Buch auf einen Vorschlag stoßen, der, zugegebenermaßen, befremdlich klingt, aber mit einem Schlag das "demographische Defizit" und die Misere der Krankenkassen beseitigen würde. Ich zitiere Herodots Bericht, weil er zeigt, wie plastisch er schreibt und wie vorurteilslos ein Wandervolk im Osten Indiens das Problem der Überalterung zu lösen verstand: "Wenn einer von ihnen, sei es ein Mann oder Weib, krank wird, so töten ihn, wenn es ein Mann ist, seine nächsten Freunde, weil sie glauben, wenn er an der Krankheit stürbe, würde ihnen sein Fleisch verderben. Sagt er auch, er sei gar nicht krank, so hilft ihm das nichts; er wird doch geschlachtet und verzehrt. Und wenn eine Frau krank wird, so machen es ihre Freundinnen mit ihr wie dort die Männer. Wenn er alt wird, wird jeder geschlachtet und verzehrt. Sehr alt aber werden die wenigsten von ihnen, weil sie jeden, der von einer Krankheit befallen wird, gleich abschlachten."
Das ist Originalton Herodot; sein moderner Reporterkollege zitiert ihn ungerührt. Das klingt tatsächlich eher nach "Vollblutreporter" als nach dem klassischen Griechenland-Bild von "edler Einfalt und stiller Größe". Man müßte die Übersetzung mit dem polnischen Original vergleichen, um die Übersetzung von Martin Pollack, die sich flott liest, zu bewerten. Wahrscheinlich kann er recht gut Polnisch, aber an seinem deutschen Stil ließen sich kleine Verbesserungen anbringen. Viel wäre schon gewonnen, wenn er das Wort "auf Anhieb", das er besonders liebt, nur bei Berichten über das Fällen von Bäumen verwenden würde. Denn "auf Anhieb", also mit einem einzigen Beilschlag, können Holzfäller einen Baum umlegen, aber "auf Anhieb" etwas einsehen oder "auf Anhieb" jemanden mögen - das geht im Deutschen nicht. Das klingt nach Stich und Hieb. So sprechen bei besseren deutschen Schriftstellern nur Waldfrevler und Haudegen.
Ryszard Kapuscinski: "Meine Reisen mit Herodot". Aus dem Polnischen übersetzt von Martin Pollack. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2005. 361 S., geb., 28,50 [Euro].
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