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Produktdetails
  • Die Andere Bibliothek
  • Verlag: Eichborn
  • Lim. u. num. Ausg.
  • Seitenzahl: 425
  • Abmessung: 27mm x 127mm x 220mm
  • Gewicht: 748g
  • ISBN-13: 9783821841861
  • ISBN-10: 3821841869
  • Artikelnr.: 08582933
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Vom Totenglockenturme
William Russells Schlachtreportagen / Von Wolfgang Sofsky

Von der Anhöhe konnte man auf die Vororte von Paris hinabblicken. In der Ferne schimmerte golden die Kuppel des Invalidendoms, in den Schützengräben wurde eifrig gearbeitet. Durch den Feldstecher war an einer Schießscharte ein Offizier auszumachen, der mit seinem Glas zum Plateau heraufspähte. Auch auf ferne Distanz gibt es die Gegenseitigkeit des Blickwechsels. Neben dem Offizier tat sich ein kreisrundes schwarzes Mündungsloch auf. Das Rohr der Kanone war direkt auf den Beobachter gerichtet. Plötzlich stieg ein Rauchwölkchen auf, und im nächsten Augenblick kam die Kugel geflogen und pfiff knapp über die Köpfe der auf der Anhöhe versammelten Stabsoffiziere hinweg.

In Zeiten der Fernwaffen ist es auch auf dem Feldherrnhügel nicht mehr sicher. Um ein Haar hätte die Kugel den preußischen Kronprinzen samt seinem Stab getroffen, und von der Anhöhe wären daraufhin "bedeutungsschwere Telegramme ausgegangen". In unterkühltem Ton erzählt William Howard Russell, der Kriegsreporter der Londoner "Times", diese Episode während der Belagerung von Paris im Herbst 1870. Der erfahrene Schlachtenbummler hatte als erster die weißliche Rauchwolke bemerkt und sofort die Gefahr registriert. Immerhin war der Deutsch-Französische Krieg bereits der fünfte Feldzug, von dem er Bericht erstattete. Er verfügte längst über die semiotische Fähigkeit, aus den Zeichen auf dem Gefechtsfeld den Fortgang einer Schlacht zu erschließen. Wo der Laie lediglich ein Durcheinander von Pulverdampf, Bränden, Blitzen, farbigen Rechtecken und bunten Punkten wahrnahm, vermochte Russell die Verschiebungen der Kräfte zu erkennen, die Angriffe, Ausweichmanöver und Fluchtbewegungen, die Toten und Verwundeten.

Russell war der erste Kriegsreporter, der von Schauplatz zu Schauplatz geschickt wurde, um dem heimischen Leser von Aufständen, Belagerungen und Feldschlachten zu berichten. Und er war ein Meister des taktischen Überblicks. Manchmal lag sein Aussichtspunkt günstiger als der Standort der Feldherrn. Die Schlacht bei Sedan beobachtete er von einer Höhe oberhalb der Maas aus - einem Logenplatz, von dem sich die gesamte Bühne des Kriegstheaters überschauen ließ. Die Schlacht bei Königgrätz verfolgte er auf einem Turm unweit des Prager Tors. Vor diesem Ausguck eröffnete sich ein Panorama, auf dem eine halbe Million Soldaten versammelt war. Auch als die alliierten Batterien im September 1855 die russische Festung Sebastopol sturmreif schossen, war Russell zugegen. Von einem exponierten Hügel aus ließ sich die verheerende Wirkung des Trommelfeuers in der Stadt genau erkennen.

Es war eine Sensation, als die "Times" erstmals einen Korrespondenten zum Feldzug auf die Krim entsandte. Die einflußreichste Zeitung der größten Weltmacht war eine Institution. Die Depeschen ihres Reporters machten den fernen Waffengang schlagartig zum öffentlichen Streitfall. Sie durchbrachen das Informationsmonopol der Generäle und sorgten regelmäßig für Ärger unter Kommandeuren und Politikern. Schonungslos prangerte Russell die Unfähigkeit britischer Offiziere an, kritisierte die Bürokratie des Nachschubs, berichtete vom Elend der einfachen Soldaten. Lord Raglan, der Oberbefehlshaber auf der Krim, sah seinen Ruf durch Russell ruiniert, und die Demission des Kabinetts Aberdeen wurde auf seine Enthüllungen über die Zustände vor Sebastopol zurückgeführt.

In Indien, Südafrika und Ägypten schrieb Russell gegen die Hybris britischer Kolonialpolitik und die Untaten der plündernden Soldateska. Zu Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs machte er sich ebenfalls keine Freunde, als er das Regime der Sklaverei in der Konföderation verurteilte. Die panische Flucht der Unionstruppen bei Bull Run kreidete er der ahnungslosen Militärführung der Nordstaaten an. Trotz mancher Angriffe blieb Russells Position jedoch unangefochten. Obwohl er wiederholt der Spionage verdächtigt wurde, verlieh ihm die Macht seiner Feder äußere Unabhängigkeit und innere Unbestechlichkeit. Er wurde von Bismarck und Lincoln empfangen und verkehrte nicht ohne Geschick in der Welt der Soldaten, im Casino ebenso wie in den Notquartieren. Russell verfügte über eine Begabung, die kein guter Kriegsreporter entbehren kann: das Talent, mit Soldaten gut auszukommen.

Kriege bestehen nicht nur aus Schlachten und Scharmützeln. Der Alltag ist bestimmt von Nahrungsmangel, verlausten Unterkünften, Krankheiten. Russell hatte für die Strapazen des Soldatenlebens ein präzises Gespür. Er wußte, was ein Leben im Dauerregen, im Schlamm des Laufgrabens bedeutet, wie verschimmeltes Brot schmeckt, wie sinnlos der Kampf gegen die Plage der Fliegen ist, die sich zu Hunderten über die Kranken im Lazarett hermachen, die Opfer von Skorbut, Cholera oder Pocken.

Auf der anderen Seite eröffnet der Krieg auch die verschlossenen Pforten zur Gegenwelt des Luxus und der destruktiven Verschwendung. Nach der Schlacht, wenn es mit der Disziplin vorüber ist, beginnt die Zeit des Plünderns und Zerstörens. Während der Wiedereroberung von Lucknow, einer britischen Strafaktion gegen die indischen Rebellen, spielten sich Szenen von ekstatischer Raublust ab. Russell zeichnet davon eindringliche Bilder: das prachtvolle Ambiente eines orientalischen Palastes, von Blut gerötete Statuen aus weißem Marmor; unter einer lächelnden Venus ein Soldat mit Halsdurchschuß; in den Fluren siegestrunkene Krieger, beladen mit Juwelen, Jade, Brokat, Pokalen, Vasen und Spiegeln. Mitten auf dem Hof des Kaiserbagh verbrannten die britischen Kolonialtruppen kostbare Gewänder, schlitzten Gemälde auf, warfen seltene Möbel in die Flammen.

Der Panoramablick vom Glockenturm auf die Begebenheiten des Krieges ist oftmals der Attitüde kalter Berechnung geziehen worden. Umgekehrt steht, zumal in Zeiten der Empfindsamkeit, der mikrologische Blick auf die Kriegsgewalt unter dem Verdacht des Voyeurismus oder der "Ästhetisierung". Sinnliche Anschaulichkeit gilt als Verstoß gegen moralische Rechtgläubigkeit. Wer auf die Ausgewogenheit des Gemüts bedacht ist, zensiert heute die Schreckensbilder, um, wie es heißt, den Zuschauer nicht zu verderben.

Russell war da noch von anderer Statur. Er verstand es, die Bewegungen der Schlacht sinnfällig vor Augen zu führen, nicht zuletzt als unerhörten Angriff auf die Sinne, auf Ohren, Nase und Augen. Danach aber besichtigte er das Schlachtfeld. Wenn das entwertete Wort vom Grauen noch einen Sinn hat, dann angesichts der Lachen geronnenen Blutes, der aufgedunsenen Pferdekadaver, der abgerissenen Hände, die an Bäumen hingen, der verstümmelten Körper, die in ihrer baumwollenen Kleidung langsam verbrannten - die Haut versengt, das Fleisch im eigenen Fett röstend, darüber ein bläulicher Rauchschleier, der Gestank von verbranntem Menschenfleisch.

Russells Prosa schont die Einbildungskraft des Lesers nicht. Sie ist prägnant, augenfällig und zupackend zugleich, nicht zuletzt dank der vorzüglichen Übersetzung von Matthias Fienbork. In der Regel benötigten Russells Depeschen Wochen, bis sie in London eintrafen. Er formulierte sorgfältig, und bevor er einen Text abschloß, verwandte er manchmal mehrere Tage, um ein Schlachtfeld zu studieren. Die Jagd nach der jüngsten Nachricht war nicht sein Metier. Als während des Deutsch-Französischen Krieges ein ganzes Heer von Sonderkorrespondenten Meldungen per Telegraph zu übermitteln begann, geriet er unweigerlich ins Hintertreffen. In der neuen Zeit der Beschleunigung wurde er von seinen Rivalen überholt. Dafür hat er der Nachwelt Reportagen hinterlassen, die mehr von der Wirklichkeit des Krieges enthalten als die allermeisten gelehrten Traktate, Generalstabsberichte oder Soldatenbriefe.

William Howard Russell: "Meine sieben Kriege". Die ersten Reportagen von den Schlachtfeldern des neunzehnten Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Mit 24 zeitgenössischen Photographien und sieben Karten. Die Andere Bibliothek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000. 432 S., geb., 58,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit den Reportagen vom Krimkrieg für die Times, so Alex Rühle, begann die moderne Kriegsberichterstattung. Kein "devoter Sekretär" war der charmante begabte Russell, sondern ein "Haudegen", der selbst mit in die Schlacht zog und nur das beschrieb, was er gesehen und gründlich nachrecherchiert hatte. Rühle gibt einige Schilderungen Russells wieder und hebt hervor, dass hier nicht mehr von Helden und großen Taten die Rede war, sondern von Matsch und Pfützen, schlechter Ausrüstung und Unfähigkeiten. Weil einige Generäle ihn dennoch mochten, konnte Russell immer wieder seine Touren unternehmen - dreißig Jahre und sieben Kriege lang - obwohl die britische Heeresleitung ihn zu fürchten lernte. Neben dem Talent, "intuitiv militärische Zusammenhänge zu erfassen" besaß Russell, so Rühle, auch eine "große schriftstellerische Begabung". Der Band liest sich Rühle zu Folge außerdem wie eine "Militärgeschichte des 19.Jahrhunderts"; von Schlachten kleiner Berufsheere bis zum Aufeinandertreffen riesiger Armeen, von den krimschen Depeschen zur gekabelten Nachricht reichte seine Erfahrung. Allerdings blieb er immer dem genauen, wohlüberlegten Bericht treu; selbst als er bei Königgrätz die epochale Ablösung der österreichischen durch die preußische Herrschaft in Europa miterlebte, ließ er sich mit seinem Bericht Zeit, und kam "zwei Tage zu spät", schreibt Rühle.

© Perlentaucher Medien GmbH
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