Gabriel Astruc - heute vergessen, einst jedoch der umtriebigste, witzigste und vor allem streitbarste Impresario Frankreichs. Als er 1913 sein Théatre des Champs-Elysées eröffnete, ereigneten sich dort wie bestellt vier große Skandale, von denen er in diesen Erinnerungen lustvoll erzählt. Hauptfiguren waren Richard Strauss, Claude Debussy und Igor Strawinsky. Die Wut des Publikums, der Presse und natürlich der Kirche entzündete sich vorwiegend an flüchtig bekleideten Ballettstars. An der Unfähigkeit aber, ein weit über seine Zeit hinausweisendes Stück wie Strawinskys "Sacre du Printemps" zu ertragen, wäre das schöne Theater, kaum erbaut, im Mai 1913 mit dem wohl legendärsten aller Theaterskandale fast schon wieder zu Bruch gegangen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2015Aufruhr im Revier heiratswilliger junger Frauen
Ein Mann, dem wir die schönsten Pariser Bühnenwirbel rund um die Avantgarde verdanken: Gabriel Astruc, Impresario der Belle Époque, erzählt äußerst unterhaltsam von seinen Skandalen.
Paris im Mai 1907: Gerade ist die französische Erstaufführung der Oper "Salome" von Richard Strauss über die Bühne gegangen. Gabriel Astruc, der alles organisiert hatte, servierte später in seinen Erinnerungen zu diesem Hauptereignis eine sozialgeschichtliche Beilage, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: "Es folgte der Exodus der grandes dames mit ihren Diademen, der prächtigen Zobelpelze, der achtfach spiegelnden Zylinder, die sogleich in der Avenue Victoria ihre Luxuslimousinen bestiegen, um zu Larue, Paillard oder ins Café de Paris zu fahren und dort bei Trüffeln sous la serviette, Gänseleber und schneeweiß eingehüllten Veuve-Cliquot-Bouteillen ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen."
Immer wieder sind es diese Einschübe, in denen humorvoll aufblitzt, was Astruc eigentlich dachte über sein Publikum, dem er die Kunst, für die er brannte, schmackhaft machen musste. Da nennt er die Pariser Opéra-Comique "das traditionelle Revier heiratswilliger junger Frauen" und kommentiert seinen eigenen Erfolg, endlich die Salons im feinen Faubourg Saint-Germain für seine Ziele interessiert zu haben, mit der trockenen Bemerkung: "Da nun der Snobismus mitreden durfte, stieg das Barometer der öffentlichen Meinung rasch." Kein Zweifel, Astruc konnte schreiben.
Er hatte es, so informiert uns Myriam Chimènes in ihrer Einführungsvignette, früh gelernt - als Literaturkritiker, als "Pariser Abendflaneur", wie er sich selbst bezeichnete, als Journalist, der zwischen Presse, Geld und Politik eine Goldfisch-Existenz führte wie Georges Duroy in Guy de Maupassants Roman "Bel Ami". Nur dass Astruc mehr Geist, mehr Seele, mehr Feuer und Substanz hatte.
In Bordeaux war der Sohn des Oberrabbiners von Brüssel 1864 zur Welt gekommen, und neben dem Schreiben kultivierte er noch eine andere Begabung: die des Impresarios. Wer immer sich heute mit Musik im Paris der Belle Époque beschäftigt, stößt bald auf seinen Namen. Astruc war es, der die fünf "historischen russischen Konzerte" veranstaltete, bei denen Nikolaj Rimskij-Korsakow, Felix Blumenfeld und Fjodor Schaljapin auftraten (kürzlich erst hat Inga Mai Groote in ihrem Buch "Östliche Ouvertüren" der russischen Musik in Paris zwischen 1871 und 1914 eine Studie voll erstaunlicher Details gewidmet).
Astruc war der französische Partner für Sergej Djaghilew, als es galt, die legendären Ballets Russes erstmals nach Paris zu bringen. Und Astruc hatte, mit Hilfe großzügiger Financiers, das Théâtre des Champs-Élysées bauen lassen, wo im Mai 1913 die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett "Le Sacre du Printemps" Skandal machte.
"Meine Skandale" heißt denn auch das Erinnerungsbuch, das 2013 (nachdem der Text mehr als siebzig Jahre verschollen war) erstmals auf Französisch erschien. Es kommt nun in der deutschen Übersetzung von Joachim Kalka heraus, zauberhaft und sinnreich illustriert. Schon 1936, zwei Jahre vor seinem Tod, hatte Astruc das Typoskript für den Druck vorbereitet, als Nachfolgeband zu seinen Erinnerungen "Le Pavillon des Fantômes", der bereits 1929 erschienen war. In seinem Skandal-Buch - das unterhaltsam, aber niemals schäbig oder indiskret ist - schildert Astruc seine Verwicklungen in vier der lautesten Pariser Kunst-Turbulenzen zwischen 1907 und 1913: die französische Erstaufführung der "Salome" von Richard Strauss, die Uraufführung des "Martyriums des Heiligen Sebastian" von Claude Debussy nach einem Text von Gabriele D'Annunzio, das Debüt von Vaslav Nijinsky als Choreograph in "Prélude à l'après-midi d'un faune" und schließlich die Uraufführung des "Sacre" von Strawinsky.
Der anschauliche - und vielzitierte - Bericht, den der Kritiker Pierre Lalo von dieser Saalschlacht gegeben hat, kann nun um allerhand Details ergänzt werden, etwa den Zwischenrufen der Künstler: "Florent Schmitt stieß den berühmt gewordenen Schrei aus: ,Hinaus mit den Flittchen aus dem Sechzehnten Arrondissement!' Sein Freund Ricciotto Canudo antwortete: ,Stopft ihnen Pastillen in den Hals!' Der gelassenere Maurice Ravel rief: ,Selig sind die Armen im Geiste!' Und plötzlich hörte man den energischen Aufschrei des Malers Paul Favé, den ich im Interesse der historischen Wahrheit wörtlich zitieren muss: ,Maul halten, Saupack!'"
Astrucs Erinnerungen leben von der Anekdote; sie bestechen aber durch die geistige Großzügigkeit ihres Autors. Er hatte Respekt für die Kritiker jener Künstler, denen sein eigenes Engagement galt. Voller Bewunderung für dessen Schwung und Frische im hohen Alter zitiert er die verbalen Angriffe des Komponisten Camille Saint-Saëns auf Strauss und Strawinsky. Ja, er teilt sogar die Kritik einer verstörten Mehrheit an Strawinskys Musik zum "Sacre". Auch sittengeschichtlich werfen diese Erinnerungen einige Befunde ab: Die Saalverdunkelung bei der Premiere von "Salome" war für Pariser Verhältnisse 1907 noch völlig neu. Das Gesamtpublikum für klassische Musik umfasste um 1913 in Frankreichs Hauptstadt etwa zehntausend Hörer bei dreieinhalb Millionen Einwohnern. Das sind nicht einmal 0,3 Prozent. Heute dürften es mehr als zehnmal so viel sein.
So großzügig Astruc sich 1936 auch gab - beim Bankrott seines Theaters im November 1913, nur sieben Monate nach dessen Eröffnung, war er verbittert. Der Text "Bemerkungen aus Anlaß eines verschütteten Tempels", den der Herausgeber Olivier Corpet im Anhang mitteilt, strotzt von wütenden Beleidigungen ("Monsieur Arschgesicht") und von Kalauern: "Nun ja, das Musikalische muß sich dem Music-Hall-ischen beugen." Dreiundzwanzig Jahre später aber ist Astruc sprachlich wieder ganz Aristokrat.
JAN BRACHMANN
Gabriel Astruc: "Meine Skandale". Strauss, Debussy, Strawinsky.
Aus dem Französischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2015. 128 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Mann, dem wir die schönsten Pariser Bühnenwirbel rund um die Avantgarde verdanken: Gabriel Astruc, Impresario der Belle Époque, erzählt äußerst unterhaltsam von seinen Skandalen.
Paris im Mai 1907: Gerade ist die französische Erstaufführung der Oper "Salome" von Richard Strauss über die Bühne gegangen. Gabriel Astruc, der alles organisiert hatte, servierte später in seinen Erinnerungen zu diesem Hauptereignis eine sozialgeschichtliche Beilage, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: "Es folgte der Exodus der grandes dames mit ihren Diademen, der prächtigen Zobelpelze, der achtfach spiegelnden Zylinder, die sogleich in der Avenue Victoria ihre Luxuslimousinen bestiegen, um zu Larue, Paillard oder ins Café de Paris zu fahren und dort bei Trüffeln sous la serviette, Gänseleber und schneeweiß eingehüllten Veuve-Cliquot-Bouteillen ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen."
Immer wieder sind es diese Einschübe, in denen humorvoll aufblitzt, was Astruc eigentlich dachte über sein Publikum, dem er die Kunst, für die er brannte, schmackhaft machen musste. Da nennt er die Pariser Opéra-Comique "das traditionelle Revier heiratswilliger junger Frauen" und kommentiert seinen eigenen Erfolg, endlich die Salons im feinen Faubourg Saint-Germain für seine Ziele interessiert zu haben, mit der trockenen Bemerkung: "Da nun der Snobismus mitreden durfte, stieg das Barometer der öffentlichen Meinung rasch." Kein Zweifel, Astruc konnte schreiben.
Er hatte es, so informiert uns Myriam Chimènes in ihrer Einführungsvignette, früh gelernt - als Literaturkritiker, als "Pariser Abendflaneur", wie er sich selbst bezeichnete, als Journalist, der zwischen Presse, Geld und Politik eine Goldfisch-Existenz führte wie Georges Duroy in Guy de Maupassants Roman "Bel Ami". Nur dass Astruc mehr Geist, mehr Seele, mehr Feuer und Substanz hatte.
In Bordeaux war der Sohn des Oberrabbiners von Brüssel 1864 zur Welt gekommen, und neben dem Schreiben kultivierte er noch eine andere Begabung: die des Impresarios. Wer immer sich heute mit Musik im Paris der Belle Époque beschäftigt, stößt bald auf seinen Namen. Astruc war es, der die fünf "historischen russischen Konzerte" veranstaltete, bei denen Nikolaj Rimskij-Korsakow, Felix Blumenfeld und Fjodor Schaljapin auftraten (kürzlich erst hat Inga Mai Groote in ihrem Buch "Östliche Ouvertüren" der russischen Musik in Paris zwischen 1871 und 1914 eine Studie voll erstaunlicher Details gewidmet).
Astruc war der französische Partner für Sergej Djaghilew, als es galt, die legendären Ballets Russes erstmals nach Paris zu bringen. Und Astruc hatte, mit Hilfe großzügiger Financiers, das Théâtre des Champs-Élysées bauen lassen, wo im Mai 1913 die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett "Le Sacre du Printemps" Skandal machte.
"Meine Skandale" heißt denn auch das Erinnerungsbuch, das 2013 (nachdem der Text mehr als siebzig Jahre verschollen war) erstmals auf Französisch erschien. Es kommt nun in der deutschen Übersetzung von Joachim Kalka heraus, zauberhaft und sinnreich illustriert. Schon 1936, zwei Jahre vor seinem Tod, hatte Astruc das Typoskript für den Druck vorbereitet, als Nachfolgeband zu seinen Erinnerungen "Le Pavillon des Fantômes", der bereits 1929 erschienen war. In seinem Skandal-Buch - das unterhaltsam, aber niemals schäbig oder indiskret ist - schildert Astruc seine Verwicklungen in vier der lautesten Pariser Kunst-Turbulenzen zwischen 1907 und 1913: die französische Erstaufführung der "Salome" von Richard Strauss, die Uraufführung des "Martyriums des Heiligen Sebastian" von Claude Debussy nach einem Text von Gabriele D'Annunzio, das Debüt von Vaslav Nijinsky als Choreograph in "Prélude à l'après-midi d'un faune" und schließlich die Uraufführung des "Sacre" von Strawinsky.
Der anschauliche - und vielzitierte - Bericht, den der Kritiker Pierre Lalo von dieser Saalschlacht gegeben hat, kann nun um allerhand Details ergänzt werden, etwa den Zwischenrufen der Künstler: "Florent Schmitt stieß den berühmt gewordenen Schrei aus: ,Hinaus mit den Flittchen aus dem Sechzehnten Arrondissement!' Sein Freund Ricciotto Canudo antwortete: ,Stopft ihnen Pastillen in den Hals!' Der gelassenere Maurice Ravel rief: ,Selig sind die Armen im Geiste!' Und plötzlich hörte man den energischen Aufschrei des Malers Paul Favé, den ich im Interesse der historischen Wahrheit wörtlich zitieren muss: ,Maul halten, Saupack!'"
Astrucs Erinnerungen leben von der Anekdote; sie bestechen aber durch die geistige Großzügigkeit ihres Autors. Er hatte Respekt für die Kritiker jener Künstler, denen sein eigenes Engagement galt. Voller Bewunderung für dessen Schwung und Frische im hohen Alter zitiert er die verbalen Angriffe des Komponisten Camille Saint-Saëns auf Strauss und Strawinsky. Ja, er teilt sogar die Kritik einer verstörten Mehrheit an Strawinskys Musik zum "Sacre". Auch sittengeschichtlich werfen diese Erinnerungen einige Befunde ab: Die Saalverdunkelung bei der Premiere von "Salome" war für Pariser Verhältnisse 1907 noch völlig neu. Das Gesamtpublikum für klassische Musik umfasste um 1913 in Frankreichs Hauptstadt etwa zehntausend Hörer bei dreieinhalb Millionen Einwohnern. Das sind nicht einmal 0,3 Prozent. Heute dürften es mehr als zehnmal so viel sein.
So großzügig Astruc sich 1936 auch gab - beim Bankrott seines Theaters im November 1913, nur sieben Monate nach dessen Eröffnung, war er verbittert. Der Text "Bemerkungen aus Anlaß eines verschütteten Tempels", den der Herausgeber Olivier Corpet im Anhang mitteilt, strotzt von wütenden Beleidigungen ("Monsieur Arschgesicht") und von Kalauern: "Nun ja, das Musikalische muß sich dem Music-Hall-ischen beugen." Dreiundzwanzig Jahre später aber ist Astruc sprachlich wieder ganz Aristokrat.
JAN BRACHMANN
Gabriel Astruc: "Meine Skandale". Strauss, Debussy, Strawinsky.
Aus dem Französischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2015. 128 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass Gabriel Astrucs bereits 1936 verfasste "Skandale" nun in einer herrlichen bibliophilen Ausgabe erstmals auf Deutsch vorliegen, erfüllt Rezensent Reinhard J. Brembeck mit Glück. Gebannt liest er die Erinnerungen des Journalisten an seine Zeit als Impresario, in der er für die Pariser Erfolge Strawinskys, Sergej Diaghilews und der Ballets Russes mit ausschlaggebend war. Allein, was Astruc in angenehmem Erzählton von Igor Strawinskys unverschämten, ausufernden Forderungen und der skandalösen Uraufführung der "Sacre du Printemps" erzählt, verschlägt dem Kritiker fast den Atem. Nicht zuletzt liest der Rezensent das Buch aber auch als "schonungslose" Gesellschaftskritik eines Kunstenthusiasten, der hier seine visionären Ansichten der heutigen Rolle von Musik und Musikkritik darlegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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