Wie lebt man mit zwei Vätern und zwei Vaterländern? Robert ist bei seiner Mutter und dem Stiefvater in der Schweiz aufgewachsen, doch sein wirklicher Vater stammt aus Trinidad. Als er plötzlich eine Spur von ihm findet, bricht er auf nach London und es beginnt eine wunderbare und komische Reise durch Vergangenheit und Gegenwart, in die Schweizer Berge und auf die karibischen Inseln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2003Vatersprache, in Lügen erstickt
Auf Augenhöhe: Martin R. Dean erforscht Sohnesgefühle
Auf den ersten Seiten seines neuen Buchs "Meine Väter" legt der achtundvierzigjährige Martin R. Dean gleich das Konzept zum ganzen Roman vor. Sein Held, der vierzigjährige Dramaturg Robert, wartet in Basel auf das Flugzeug nach London. Er ist auf dem Weg zu seinem leiblichen Vater, den er nicht kennt. Aufgewachsen ist der Ich-Erzähler nämlich im aargauischen Wynental in gutbürgerlichen Verhältnissen, aber als Sohn eines Stiefvaters. Das blieb ihm allerdings lange verborgen. Die eigene Herkunft war Teil eines Familienmythos, mehr noch, einer gut gehüteten Familienlüge. Während der Dramaturg auf den Abflug wartet, liest er in der Zeitung von einem Jungen, der seinen Vater im Schlaf mit der Eisenstange getötet hat. Seine Stiefmutter hat ihn dabei überrascht. "In den meisten Fällen können Söhne ihre Väter nicht von Angesicht zu Angesicht angreifen. Kaum ein Mordversuch am Vater findet in der direkten Konfrontation statt", folgert der Erzähler programmatisch und schließt: "Welche Strafe steht auf Vatermord?"
Damit ist das Thema von Martin R. Deans Großwerk skizziert: Vatersuche und Vatermord, Identitätsverlust und Identitätskonstruktion durch die Konfrontation mit dem diffusen Schatten des Vaters. Der Schweizer Schriftsteller hat zu einem gewaltigen literarischen Projekt ausgeholt, das ihn offensichtlich seit langem umgetrieben hat. Seinem literarischen Alter ego geht es ähnlich. Sein halbes Leben hat er mit psychosomatischen Erkrankungen im Bett zugebracht. Unzählige Termine und Verpflichtungen hat er so versäumt, sein halbes Leben verpaßt. Ursache, so diagnostiziert er selbst, ist der geheime tote Fleck im eigenen Ich, eine Krankheit, die nie ganz durchbricht, aber doch immer latent präsent ist: "Vielleicht nennen wir sie einfach ,Vatermangel'." Daß die Lüge, die den Sohn aus der Balance trieb, aber das Familiensystem stabilisierte, jetzt wie ein gordischer Knoten durchschlagen werden soll, dafür sorgt Roberts energische Frau Leonie. Immer nachdrücklicher fordert sie ihren Mann zur Klärung der Familienverhältnisse auf, auch zugunsten der vierjährigen Tochter, die wissen wolle, woher sie stamme.
Die Suche nach der eigenen Wahrheit reißt allerdings die sorgfältig aufgebauten Lebenskulissen mit einem Schlag nieder und stürzt den Helden in eine Krise. Ray, der leibliche Vater, der seit dreißig Jahren auf den Anruf des Sohns gewartet hat, so vernimmt Robert im Laufe seiner Recherchen, stammt zwar aus einer angesehenen Familie Trinidads. Doch erweist er sich mitnichten als Märchenprinz mit silbernem Stöckchen, der als einflußreicher Politiker dem Sohn zur Aura eines Erwählten verhelfen könnte. Im Gegenteil, die Legenden, Fiktionen und Lügen, die sich um das Vaterbild gesponnen haben, fallen bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit mit einem Schlag in sich zusammen: Ray lebt in einem heruntergekommenen englischen Altersheim und sitzt im Rollstuhl. Nach einem Angriff durch Skinheads hat er die Sprache verloren. Das schöne Vaterbild im Sohn wurde zugleich zum Leben erweckt und getötet.
Das ist die Grundkonstellation, die Martin R. Dean dem Leser präsentiert; daß er die Erzählfäden von Anfang an so deutlich auslegt, hat Vor- und Nachteile. Günstig wirkt es sich auf die Leserführung aus, die auch dringend nötig ist in diesem Wust von Geschichten, aufgearbeiteten Theorien zu Vatermangel, Beschädigung der Identität und kultureller Selbstdefinition sowie Abenteuern des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Martin R. Dean bearbeitet das Terrain des Vaterverlustes nach allen Himmelsrichtungen und bringt eine Fülle von Material zum Thema bei, aus psychoanalytischer, literaturhistorischer, kultursoziologischer und ethnologischer Perspektive. Es fehlen nicht die Hinweise auf berühmte Persönlichkeiten mit ähnlichem Schicksal, wobei die Vergleichsdimensionen nicht immer ganz gewahrt werden, so etwa in der Anspielung auf Nietzsche und seine Anfälle von Kopfweh, Übelkeit und Erbrechen, die der Ich-Erzähler zielstrebig kommentiert: "Es erstaunt mich nicht, daß auch der ,vaterlose' Nietzsche dauernd gekränkelt hat. ,Das kenne ich', gestehe ich nach dem Vortrag Baragan. ,Abwesende Väter machen die Söhne krank.'" Die überschwappende Fülle dieser aufbereiteten Hintergrundinformationen würde eigentlich nach einem straffen Organisationsprinzip des Texts rufen. Das ist nicht immer der Fall. Die vielen Haupt- und Nebenschauplätze, durch die der Autor seinen Erzähler führt - es geht von Basel, London über Trinidad bis nach Sils-Maria und verästelt sich am Ende in alle Windrichtungen -, sind eher dazu geeignet, den Leser zu verwirren als zu verführen. Eine weitere Irritation entsteht durch die Theoriebefrachtung: Ab und zu hat man den Eindruck, die Figuren wären bloße Thesenträger, die wie aufgezogene Puppen auf der Spielbühne nach Programm-Musik tanzen. Die Konturen der einzelnen Spieler werden zuwenig deutlich, und die einzelnen Stimmen unterscheiden sich kaum voneinander. Das schadet dem großen, ernsthaften, an vielen Stellen zwar überzeugenden, aber doch auch etwas uferlosen Romanprojekt über ein wichtiges Thema.
PIA REINACHER
Martin R. Dean: "Meine Väter". Roman. Hanser Verlag, München 2003. 400 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf Augenhöhe: Martin R. Dean erforscht Sohnesgefühle
Auf den ersten Seiten seines neuen Buchs "Meine Väter" legt der achtundvierzigjährige Martin R. Dean gleich das Konzept zum ganzen Roman vor. Sein Held, der vierzigjährige Dramaturg Robert, wartet in Basel auf das Flugzeug nach London. Er ist auf dem Weg zu seinem leiblichen Vater, den er nicht kennt. Aufgewachsen ist der Ich-Erzähler nämlich im aargauischen Wynental in gutbürgerlichen Verhältnissen, aber als Sohn eines Stiefvaters. Das blieb ihm allerdings lange verborgen. Die eigene Herkunft war Teil eines Familienmythos, mehr noch, einer gut gehüteten Familienlüge. Während der Dramaturg auf den Abflug wartet, liest er in der Zeitung von einem Jungen, der seinen Vater im Schlaf mit der Eisenstange getötet hat. Seine Stiefmutter hat ihn dabei überrascht. "In den meisten Fällen können Söhne ihre Väter nicht von Angesicht zu Angesicht angreifen. Kaum ein Mordversuch am Vater findet in der direkten Konfrontation statt", folgert der Erzähler programmatisch und schließt: "Welche Strafe steht auf Vatermord?"
Damit ist das Thema von Martin R. Deans Großwerk skizziert: Vatersuche und Vatermord, Identitätsverlust und Identitätskonstruktion durch die Konfrontation mit dem diffusen Schatten des Vaters. Der Schweizer Schriftsteller hat zu einem gewaltigen literarischen Projekt ausgeholt, das ihn offensichtlich seit langem umgetrieben hat. Seinem literarischen Alter ego geht es ähnlich. Sein halbes Leben hat er mit psychosomatischen Erkrankungen im Bett zugebracht. Unzählige Termine und Verpflichtungen hat er so versäumt, sein halbes Leben verpaßt. Ursache, so diagnostiziert er selbst, ist der geheime tote Fleck im eigenen Ich, eine Krankheit, die nie ganz durchbricht, aber doch immer latent präsent ist: "Vielleicht nennen wir sie einfach ,Vatermangel'." Daß die Lüge, die den Sohn aus der Balance trieb, aber das Familiensystem stabilisierte, jetzt wie ein gordischer Knoten durchschlagen werden soll, dafür sorgt Roberts energische Frau Leonie. Immer nachdrücklicher fordert sie ihren Mann zur Klärung der Familienverhältnisse auf, auch zugunsten der vierjährigen Tochter, die wissen wolle, woher sie stamme.
Die Suche nach der eigenen Wahrheit reißt allerdings die sorgfältig aufgebauten Lebenskulissen mit einem Schlag nieder und stürzt den Helden in eine Krise. Ray, der leibliche Vater, der seit dreißig Jahren auf den Anruf des Sohns gewartet hat, so vernimmt Robert im Laufe seiner Recherchen, stammt zwar aus einer angesehenen Familie Trinidads. Doch erweist er sich mitnichten als Märchenprinz mit silbernem Stöckchen, der als einflußreicher Politiker dem Sohn zur Aura eines Erwählten verhelfen könnte. Im Gegenteil, die Legenden, Fiktionen und Lügen, die sich um das Vaterbild gesponnen haben, fallen bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit mit einem Schlag in sich zusammen: Ray lebt in einem heruntergekommenen englischen Altersheim und sitzt im Rollstuhl. Nach einem Angriff durch Skinheads hat er die Sprache verloren. Das schöne Vaterbild im Sohn wurde zugleich zum Leben erweckt und getötet.
Das ist die Grundkonstellation, die Martin R. Dean dem Leser präsentiert; daß er die Erzählfäden von Anfang an so deutlich auslegt, hat Vor- und Nachteile. Günstig wirkt es sich auf die Leserführung aus, die auch dringend nötig ist in diesem Wust von Geschichten, aufgearbeiteten Theorien zu Vatermangel, Beschädigung der Identität und kultureller Selbstdefinition sowie Abenteuern des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Martin R. Dean bearbeitet das Terrain des Vaterverlustes nach allen Himmelsrichtungen und bringt eine Fülle von Material zum Thema bei, aus psychoanalytischer, literaturhistorischer, kultursoziologischer und ethnologischer Perspektive. Es fehlen nicht die Hinweise auf berühmte Persönlichkeiten mit ähnlichem Schicksal, wobei die Vergleichsdimensionen nicht immer ganz gewahrt werden, so etwa in der Anspielung auf Nietzsche und seine Anfälle von Kopfweh, Übelkeit und Erbrechen, die der Ich-Erzähler zielstrebig kommentiert: "Es erstaunt mich nicht, daß auch der ,vaterlose' Nietzsche dauernd gekränkelt hat. ,Das kenne ich', gestehe ich nach dem Vortrag Baragan. ,Abwesende Väter machen die Söhne krank.'" Die überschwappende Fülle dieser aufbereiteten Hintergrundinformationen würde eigentlich nach einem straffen Organisationsprinzip des Texts rufen. Das ist nicht immer der Fall. Die vielen Haupt- und Nebenschauplätze, durch die der Autor seinen Erzähler führt - es geht von Basel, London über Trinidad bis nach Sils-Maria und verästelt sich am Ende in alle Windrichtungen -, sind eher dazu geeignet, den Leser zu verwirren als zu verführen. Eine weitere Irritation entsteht durch die Theoriebefrachtung: Ab und zu hat man den Eindruck, die Figuren wären bloße Thesenträger, die wie aufgezogene Puppen auf der Spielbühne nach Programm-Musik tanzen. Die Konturen der einzelnen Spieler werden zuwenig deutlich, und die einzelnen Stimmen unterscheiden sich kaum voneinander. Das schadet dem großen, ernsthaften, an vielen Stellen zwar überzeugenden, aber doch auch etwas uferlosen Romanprojekt über ein wichtiges Thema.
PIA REINACHER
Martin R. Dean: "Meine Väter". Roman. Hanser Verlag, München 2003. 400 S., geb., 21,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht völlig überzeugen konnte Pia Reinacher der neue Roman von Martin R. Dean, der sich in einer erzählerischen Großunternehmung der Suche nach dem leiblichen Vater widmet. Vatersuche und Vatermord, Identitätsbeschädigung und -konstruktion lauten laut Reinacher die bestimmenden Themen des Buches, die der Autor als deutlich markierte Erzählfäden von Anfang an auslegt. Das hat zum Vorteil, merkt die Rezensentin an, dass sich die Erzählfäden nicht zu Stolperfallen für die verwirrten Leser auswachsen, die sich in dem Wust von Geschichten und Untergeschichten, aufgearbeiteter Theorie und einer Vielzahl von Schauplätzen zurechtfinden müssen. Gerade die - alle in Frage kommenden Disziplinen abdeckende - Theoriebefrachtung lässt die Figuren in Reinachers Augen streckenweise wie reine Thesenträger aussehen. Dennoch gefällt ihr der Roman in der Ernsthaftigkeit seines Anliegens. Er bedürfte ihres Erachtens allerdings einer straffenden Struktur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Er ist einer meiner Lieblingsautoren. Seine Romane sind wundervoll." (Jan Kjaerstadt)