Wenn nichts mehr ist, wie es war: ein Bericht aus der Arktis
Line Nagell Ylvisåker lebt mit ihrer Familie in Spitzbergen, das vom Klimawandel massiv betroffen ist. Bis 2100 wird hier die Temperatur um acht Grad gestiegen sein. Ein alarmierender Bericht aus einem kleinen Dorf, vom Leben mit Lawinen, Erdrutschen und hungernden Eisbären.
Longyearbyen ist ein Paradox: Der Ort existiert nur wegen des Kohleabbaus, und Kohle verursacht den Klimawandel, unter dem die Menschen in Spitzbergen leiden. Ylvisåker hat sich als Journalistin mit ihrem Mann und ihren Kindern eine Existenz am Polarkreis aufgebaut, jetzt muss sie voller Angst beobachten, wie ihr Dorf zu einem immer unwirtlicheren Ort wird. Als eine Lawine mehrere Häuser verschüttet und Menschen sterben, beginnt Ylvisåker die Ursachen und Folgen der Erwärmung der Arktis zu ergründen. Sie spricht mit Meteorologen, Klimaforschern, erfahrenen Trappern, begegnet hungrigen Eisbären und misst die steigenden Wassertemperaturen des Polarmeers. Ein alarmierender Bericht und eine Warnung: Wenn wir jetzt nicht handeln, wird auch unser Leben durch den Klimawandel radikal beeinträchtigt werden.
Line Nagell Ylvisåker lebt mit ihrer Familie in Spitzbergen, das vom Klimawandel massiv betroffen ist. Bis 2100 wird hier die Temperatur um acht Grad gestiegen sein. Ein alarmierender Bericht aus einem kleinen Dorf, vom Leben mit Lawinen, Erdrutschen und hungernden Eisbären.
Longyearbyen ist ein Paradox: Der Ort existiert nur wegen des Kohleabbaus, und Kohle verursacht den Klimawandel, unter dem die Menschen in Spitzbergen leiden. Ylvisåker hat sich als Journalistin mit ihrem Mann und ihren Kindern eine Existenz am Polarkreis aufgebaut, jetzt muss sie voller Angst beobachten, wie ihr Dorf zu einem immer unwirtlicheren Ort wird. Als eine Lawine mehrere Häuser verschüttet und Menschen sterben, beginnt Ylvisåker die Ursachen und Folgen der Erwärmung der Arktis zu ergründen. Sie spricht mit Meteorologen, Klimaforschern, erfahrenen Trappern, begegnet hungrigen Eisbären und misst die steigenden Wassertemperaturen des Polarmeers. Ein alarmierender Bericht und eine Warnung: Wenn wir jetzt nicht handeln, wird auch unser Leben durch den Klimawandel radikal beeinträchtigt werden.
Wenn das Meereis immer weiter schwindet: Line Nagell Ylvisåker schildert in Form eines Erlebnisberichts, wie der Klimawandel das Gesicht Spitzbergens verändert.
Von Matthias Hannemann
Der Klimawandel vollzieht sich in der Arktis schneller als in anderen Teilen der Welt. Das ist keine neue Nachricht, aber es braucht weiterhin - man denke nur an den abenteuerlichen Forschungsaufenthalt der "Polarstern" im Eis - neue Erkenntnisse, um das Geschehen besser zu verstehen. Und Geschichten, die seine Folgen begreifbar machen.
Letztere liefert die Journalistin Line Nagell Ylvisåker, die 2004 für ein Praktikum bei der Wochenzeitung "Svalbardposten" von Westnorwegen nach Spitzbergen kam, seitdem dort lebt und mit "Meine Welt schmilzt" einen Reportageband über die lokalen Auswirkungen des Klimawandels vorlegt. Schon die aufgeführten Zahlen sind atemberaubend: Zwischen dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1898 und dem Jahr 2018, in dem Ylvisåker das Buch zu schreiben begann, stieg die jährliche Durchschnittstemperatur in Longyearbyen um 3,8 Grad. Der größte Ort Spitzbergens ist zugleich das Verwaltungszentrum der Inselgruppe und verdankt seinen Namen dem Amerikaner John Munroe Longyear.
Seit 1961 (dem Beginn des Referenzrahmens 1961 bis 1990) beträgt die Temperaturerhöhung sogar 5,6 Grad, während für Oslo ein Anstieg um zwei Grad und global um 0,9 Grad verzeichnet wurde. Die Winter sollen auf "Svalbard" seit 1961 im Schnitt sogar um neun Grad wärmer geworden sein: "Während ich hier sitze und Schiffe betrachte, die über den Fjord gleiten, nähert sich der Tag, an dem die Temperatur hundert Monate hintereinander über dem Durchschnittswert lag."
Über Zahlen und Bezugszeiträume kann man immer diskutieren. Aber die Richtung ist klar: Die vom schwindenden Meereis beschleunigte Entwicklung setzt sich mit einer kurzen Ausnahme bis heute fort. Eine Studie, die den Bürgern von Longyearbyen 2019 vorgestellt wurde, prognostiziert für Spitzbergen bis 2100 sogar einen weiteren Anstieg um sieben Grad sowie um fünfzehn bis zwanzig Grad auf der kalten Nordostseite der Inselgruppe im Winter - vorausgesetzt, die Menschheit würde den CO2-Ausstoß nicht drastisch reduzieren.
"Meine Welt schmilzt" ist insofern ein treffender Titel - die gefühlige Formulierung unterstreicht, dass es sich um den Erlebnisbericht einer Journalistin handelt, die als Bewohnerin von Longyearbyen, manchmal auch als zweifache Mutter, zu verstehen versucht, was direkt vor ihrer Haustür eigentlich geschieht. "Was zum Teufel passiert hier eigentlich?", fragt sie sich beim bangen Blick auf die Temperaturen, Wetterverhältnisse, Erdrutsche und Schneelawinen der vergangenen Jahre.
Dramatischer Aufhänger ist eine solche Lawine, die den Ort im Dezember 2015 heimsuchte. Aber auch eine groteske Jubiläumsfeier im Februar 2018: Zum zehnjährigen Bestehen des "Svalbard Global Seed Vault", der Saatgut aus aller Welt im Permafrost schützt, wartete der norwegische Minister mit einem Geldgeschenk auf - für einen neuen Zugangstunnel, weil der Boden um den bestehenden Tunnel nicht wie erwartet gefror und Wasser in ihn hineinlief. Vor dem Kulturhaus, in dem die Veranstaltung stattfand, regnete es in Strömen.
Ylvisåker beschloss an diesem Abend, ein Buch zu schreiben. Es besteht vor allem aus Begegnungen mit Menschen, die den Wandel einordnen können, unter ihnen eine Meteorologin, die über die starken Winterunwetter forscht, ein Ozeanograph, der an Bord eines Forschungsschiffes die Erwärmung des Tiefenwassers beschreibt, ein Eisbärenforscher, der die Folgen des schwindenden Eises skizziert, oder eine Mikrobiologin, die sich für das interessiert, was im tauenden Permafrost verborgen ist.
Den Anfang machen ein Klimaforscher und ein kauziger Jäger, der seit vierzig Jahren mit der Natur lebt und Veränderungen registriert. Er glaubt nicht an den menschengemachten Klimawandel, aber das Eis auf dem Fjord, die Gänse, die Mücken - alles anders als früher. Und mit Eisbären hat es der Trapper, der die Winter auf Kapp Wijk verbringt, neuerdings auch öfter zu tun.
Ylvisåkers Kapitel sind leider recht kurz, und die Entscheidung des deutschen Verlages, den Genderstern zu verwenden, erzeugt Textstolperfallen, bei denen das eine Anliegen vom anderen ablenkt. Dafür ist die Darstellung im Reportagestil ausgesprochen plastisch, Ylvisåker streut etwa Beobachtungen aus dem Familienleben auf Spitzbergen ein, sie taucht in die Klima- und Wirtschaftsgeschichte ab und fährt mit einem Forschungsschiff in die Fjorde. Das Lawinenunglück von 2015 wird durch aufwendige Sicherungs- und Umsiedlungsmaßnahmen, die im Nachgang beschlossen wurden, zur dramaturgischen Klammer: "Alle klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und sind zufrieden", notiert sie bei der Schlüsselübergabe erster Ersatzhäuser im Dezember 2018.
Für die langen Flüge, die notwendig sind, um von Longyearbyen (78 Grad Nord) aufs norwegische Festland zu fliegen, schämt sich die Autorin seit ihren Recherchen. Die Reise ins zweitausend Kilometer entfernte Oslo und zurück soll pro Passagier mit einem CO2-Ausstoß verbunden sein, der in etwa einen Quadratmeter arktisches Sommereis zum Schmelzen bringt.
Wir hingegen würden, das müssen wir zugeben, trotz allem am liebsten den nächsten Flieger besteigen - um "die kalte Küste" zu sehen, solange sie unseren romantischen Vorstellungen vom Norden entspricht. Wir wären Teil eines Touristenstroms, der in den vergangenen Jahren immer größer geriet und die Nerven der 2500 ständigen Bewohner von Longyearbyen zusehends belastet.
Line Nagell Ylvisåker: "Meine Welt schmilzt". Wie das Klima mein Dorf verwandelt.
Aus dem Norwegischen von Anne von Canal. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Aurelie von Blazekovic besucht mit der Journalistin Line Nagell Ylvisaker deren Heimat Spitzbergen. Doch nicht nur die Schönheit der Abgeschiedenheit vermittelt die Autorin ihr, sondern vor allem die Bedrohung durch schmelzendes Eis und Erdrutsche. Die Veränderungen durch den Klimawandel erscheinen der Leserin wie durch ein Vergrößerungsglas. Angenehm und lehrreich findet sie die undogmatisch vermittelten Erkundungen, die die Autorin bei Jägern und Klimaforschern einholt. Eine fesselnde Geschichte der Klimakrise, meint Blazekovic.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[...] die Darstellung im Reportagestil [ist] ausgesprochen plastisch.« Matthias Hannemann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210313