Dieter Müller ist eine Legende. Ein Fußball-Star in den 70er- und 80er-Jahren, Torschützenkönig in der Bundesliga und der Nationalmannschaft, er hält mit sechs Toren in einem Spiel einen Rekord für die Ewigkeit. Dabei meinte es das Leben nicht immer gut mit dem Offenbacher, der u.a. für den 1.FC Köln und den VfB Stuttgart auf Torejagd ging. Eine schwierige Kindheit und Jugend, familiäre Probleme, später eine Kette von Schicksalsschlägen. Sein erst 16jähriger Sohn stirbt an einem Gehirntumor, Müller selbst fällt nach einem Herzinfarkt in ein schweres Koma. Der Fußball, dem er auch nach seiner Karriere eng verbunden bleibt, ist da ein Glücksfall, hilft ihm, immer wieder ins Leben zurückzukehren. Der Sport hat sicher auch einen Anteil an Müllers vielleicht größter Leistung: Trotz aller Rückschläge blickt er bis heute optimistisch und positiv nach vorne, begegnet seinen Mitmenschen voller Empathie und Sensibilität. Dieter Müller hat eigentlich mehr mitgemacht, als in ein einzigesLeben passt. Wie gut, dass es dieses Buch gibt, in dem er davon erzählen kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2020Mensch bleiben
OFFENBACH. Die "zwei Leben" des Dieter Müller: Eine bewegende Biographie über den einstigen Fußballstar, der zahlreiche Schicksalsschläge meistern musste.
Von David Lindenfeld
Einmal klingelt es, dann hebt er ab: "Können wir um ein Uhr telefonieren? Ich bin gerade bei meiner Ärztin", sagt Dieter Müller höflich. Gestresst klingt der Fußballstar aus den Siebzigern nicht, obwohl er derzeit kaum zur Ruhe kommt. Seit seine bewegende Biographie mit dem treffenden Titel "Meine zwei Leben" erschienen ist, erhält der 66-Jährige zahlreiche Anfragen für Auftritte in Talkshows oder Radiosendungen, führt viele Gespräche mit Journalisten, Buchhandlungen und ehemaligen Weggefährten. Ein Termin jagt den nächsten. Müller ist omnipräsent - wie früher, als der Fußball noch den Rhythmus seines Lebens bestimmte. Rund 25 Interviews hat der ehemalige Präsident von Kickers Offenbach nach seiner Buchveröffentlichung bis heute gegeben. Renommee und Reichweite des Mediums spielen für ihn keine Rolle. Müller nimmt sich Zeit für alle, ruft 45 Minuten früher als erwartet zurück. "Für meine Verhältnisse geht es mir gut", sagt er zu Beginn auf Nachfrage und lacht. Zweimal im Monat lasse er sich mikrobiologisch behandeln, um Zellen aufzubauen, erklärt der zweimalige Bundesliga- und EM-Torschützenkönig. Deshalb sei er in der Arztpraxis gewesen. Nichts Besorgniserregendes also.
Dem Herzen geht es den Umständen entsprechend gut, will Müller damit sagen. Das wichtigste Organ seines Körpers verfügt nur noch über 35 Prozent Pumpleistung. Die Laufschuhe schnürt der ehemalige Fußballprofi deshalb nicht mehr. Radfahren und eine 18-Loch-Golfrunde seien aber inzwischen wieder möglich. Auslöser waren ein Herzinfarkt im Jahr 2012, nach dem Müller fünf Tage im Koma lag, und ein weiterer Zwischenfall drei Jahre später beim Joggen. Was sich am 5. Oktober 2012 ereignete, bezeichnet er heute als Wunder. 31 lange Minuten ohne Herzschlag - die Chance, das zu überleben, liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Seine Frau Johanna leistete schnell Erste Hilfe. Müller hatte großes Glück. Glück, das ihm nahestehenden Menschen verwehrt blieb. Auch davon handelt sein Buch, das den Untertitel "Was mir das Schicksal genommen und der Fußball gegeben hat" trägt: von seiner außergewöhnlichen Lebensgeschichte abseits des Platzes und zahlreichen Schicksalsschlägen, die in einem kaum vorstellbaren Kontrast zur glorreichen Fußballkarriere von einem der besten deutschen Stürmer aller Zeiten stehen.
Begonnen hat alles 1954 in Offenbach: Seine Mutter und sein Vater gaben Müller kurz nach seiner Geburt zu den Großeltern, wo er nach dem Krieg in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Seinen leiblichen Vater sieht er nach 42 Jahren zum ersten Mal. Die Beziehung zu Oma und Opa beschreibt er als liebevoll. Erst später weiß Müller eine Blutgruppentätowierung richtig zu deuten und versteht, dass sein Großvater Teil der SS war. Seine Mutter holte ihn im Alter von zehn Jahren wieder zu sich, nachdem sie einen reichen Offenbacher Bauunternehmer geheiratet hatte. Müller, der "nach Vaterfiguren lechzte", lebte plötzlich in zuvor nie für möglich gehaltenem Reichtum und baute trotz manchem gewalttätigen Übergriff unter Alkoholeinfluss ein gutes Verhältnis zu seinem Stiefvater auf. Er war der Erste, der seine Fußballkarriere förderte, sein Profidebüt aber nie erlebte, weil er an einem Gehirnschlag starb. Es sollte nicht der letzte Verlust eines geliebten Menschen bleiben: Müllers Schwester und ihr Mann waren alkoholabhängig, hinterließen nach ihrem frühen Tod zwei Kinder. Mit nur 16 Jahren starb sein einziger Sohn Alexander an einem Gehirntumor - die größte Tragödie. "Ich wusste, wie man eine gegnerische Abwehrreihe auseinandernimmt, doch den Schicksalsschlägen des Lebens stand ich mehr als einmal ohnmächtig gegenüber", sagt Müller in seiner Biographie.
Mit ihr will der 66-Jährige anderen Menschen Kraft geben, die Ähnliches erfahren haben, ihnen eine Perspektive aufzeigen, wie man mit solchen traumatischen Erlebnissen umgehen kann - nicht als Fußballstar, sondern als Mensch. Das Buch, das der ehemalige "Kicker"-Redakteur Mounir Zitouni geschrieben hat, ist für Müller aber auch "Vergangenheitsbewältigung und Würdigung seiner Lebensleistung", erklärt er. Halt gibt ihm in schwierigen Zeiten nicht nur seine Frau, sondern auch seine Fußballschule, die er noch immer betreibt und mit der er sozial schwache Kinder und Jugendliche unterstützt. Im Jahr 2017 kam Zitouni bei einem Interview die Idee, eine Biographie über Müller zu verfassen. Der stimmte zu. Die beiden trafen sich mehr als 50 Mal. Herausgekommen ist ein gut recherchiertes Buch mit 240 Seiten voll interessanter Geschichten aus der Fußballkarriere von Müller, der bis heute der einzige Spieler ist, dem sechs Treffer in einer Bundesligapartie gelangen. Zweimal wurde er Pokalsieger, einmal deutscher Meister mit dem FC Köln. Auch die französische Meisterschaft gewann Müller mit Girondins Bordeaux. Die Biographie lebt von der Mischung aus der Leichtigkeit des Profifußballerlebens und der Schwere, die aus den zahlreichen Schicksalsschlägen resultiert. Zur Sprache kommen auch Müllers Selbstzweifel, die er während seiner Laufbahn hatte, wenn die Kritik an ihm lauter wurde. Oder sein Streben nach Harmonie im Umfeld und sein Auftreten als Lebemann. 18 Porsche besaß er schon. Sein Dasein hat der Weinkenner stets genossen - mit gutem Essen, dem einen oder anderen Gläschen Vino und so mancher Party. Dass er auf einer Nationalmannschaftsreise nach einer durchfeierten Nacht in Rio um sieben Uhr morgens auf Bundestrainer Helmut Schön an der Rezeption traf, trug nicht unbedingt zur Besserung des angespannten Verhältnisses zwischen den beiden bei. Sein Debüt, bei dem er im EM-Halbfinale 1976 nach seiner Einwechslung in der 79. Minute die Mannschaft mit drei Treffern zum 4:2-Sieg nach Verlängerung gegen Jugoslawien führte, bleibt unvergessen.
Obwohl internationale Titel in seiner Vita fehlen, wäre Müller mit seinen Leistungen von damals heute ein globaler Superstar: Mit 48 Toren (34 in der Liga, 14 im Pokal) in einer Saison stünde er auf einer Stufe mit Robert Lewandowski. Doch vom Profifußball hat er inzwischen Abstand genommen. "Vieles hat sich verändert. Diese ganze Maschinerie: Es dreht sich alles viel mehr um Geld als früher", sagt Müller mit Blick auf eingeflogene Friseure oder exorbitant hohe Spielerberatergehälter. Auch die Aggressivität der Fans sei ein Grund dafür. "Feindschaften gegenüber Spielern oder integren Menschen wie Dietmar Hopp machen mich traurig. Deshalb habe ich eine Distanz zum Fußball gewonnen." Werte wie Respekt, die er von seinen Großeltern vermittelt bekam, seien verlorengegangen. Ob Zeugwart oder Millionär, sagt Müller, von ihm sei jeder gleich behandelt worden. Noch heute nimmt er sich eine Indianer-Weisheit zu Herzen: "Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin."
Dieter Müller mit Mounir Zitouni: Meine zwei Leben: Was mir das Schicksal genommen und der Fußball gegeben hat. Edel Books Verlag, Hamburg 2020. 240 Seiten, 22 Euro.
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OFFENBACH. Die "zwei Leben" des Dieter Müller: Eine bewegende Biographie über den einstigen Fußballstar, der zahlreiche Schicksalsschläge meistern musste.
Von David Lindenfeld
Einmal klingelt es, dann hebt er ab: "Können wir um ein Uhr telefonieren? Ich bin gerade bei meiner Ärztin", sagt Dieter Müller höflich. Gestresst klingt der Fußballstar aus den Siebzigern nicht, obwohl er derzeit kaum zur Ruhe kommt. Seit seine bewegende Biographie mit dem treffenden Titel "Meine zwei Leben" erschienen ist, erhält der 66-Jährige zahlreiche Anfragen für Auftritte in Talkshows oder Radiosendungen, führt viele Gespräche mit Journalisten, Buchhandlungen und ehemaligen Weggefährten. Ein Termin jagt den nächsten. Müller ist omnipräsent - wie früher, als der Fußball noch den Rhythmus seines Lebens bestimmte. Rund 25 Interviews hat der ehemalige Präsident von Kickers Offenbach nach seiner Buchveröffentlichung bis heute gegeben. Renommee und Reichweite des Mediums spielen für ihn keine Rolle. Müller nimmt sich Zeit für alle, ruft 45 Minuten früher als erwartet zurück. "Für meine Verhältnisse geht es mir gut", sagt er zu Beginn auf Nachfrage und lacht. Zweimal im Monat lasse er sich mikrobiologisch behandeln, um Zellen aufzubauen, erklärt der zweimalige Bundesliga- und EM-Torschützenkönig. Deshalb sei er in der Arztpraxis gewesen. Nichts Besorgniserregendes also.
Dem Herzen geht es den Umständen entsprechend gut, will Müller damit sagen. Das wichtigste Organ seines Körpers verfügt nur noch über 35 Prozent Pumpleistung. Die Laufschuhe schnürt der ehemalige Fußballprofi deshalb nicht mehr. Radfahren und eine 18-Loch-Golfrunde seien aber inzwischen wieder möglich. Auslöser waren ein Herzinfarkt im Jahr 2012, nach dem Müller fünf Tage im Koma lag, und ein weiterer Zwischenfall drei Jahre später beim Joggen. Was sich am 5. Oktober 2012 ereignete, bezeichnet er heute als Wunder. 31 lange Minuten ohne Herzschlag - die Chance, das zu überleben, liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Seine Frau Johanna leistete schnell Erste Hilfe. Müller hatte großes Glück. Glück, das ihm nahestehenden Menschen verwehrt blieb. Auch davon handelt sein Buch, das den Untertitel "Was mir das Schicksal genommen und der Fußball gegeben hat" trägt: von seiner außergewöhnlichen Lebensgeschichte abseits des Platzes und zahlreichen Schicksalsschlägen, die in einem kaum vorstellbaren Kontrast zur glorreichen Fußballkarriere von einem der besten deutschen Stürmer aller Zeiten stehen.
Begonnen hat alles 1954 in Offenbach: Seine Mutter und sein Vater gaben Müller kurz nach seiner Geburt zu den Großeltern, wo er nach dem Krieg in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Seinen leiblichen Vater sieht er nach 42 Jahren zum ersten Mal. Die Beziehung zu Oma und Opa beschreibt er als liebevoll. Erst später weiß Müller eine Blutgruppentätowierung richtig zu deuten und versteht, dass sein Großvater Teil der SS war. Seine Mutter holte ihn im Alter von zehn Jahren wieder zu sich, nachdem sie einen reichen Offenbacher Bauunternehmer geheiratet hatte. Müller, der "nach Vaterfiguren lechzte", lebte plötzlich in zuvor nie für möglich gehaltenem Reichtum und baute trotz manchem gewalttätigen Übergriff unter Alkoholeinfluss ein gutes Verhältnis zu seinem Stiefvater auf. Er war der Erste, der seine Fußballkarriere förderte, sein Profidebüt aber nie erlebte, weil er an einem Gehirnschlag starb. Es sollte nicht der letzte Verlust eines geliebten Menschen bleiben: Müllers Schwester und ihr Mann waren alkoholabhängig, hinterließen nach ihrem frühen Tod zwei Kinder. Mit nur 16 Jahren starb sein einziger Sohn Alexander an einem Gehirntumor - die größte Tragödie. "Ich wusste, wie man eine gegnerische Abwehrreihe auseinandernimmt, doch den Schicksalsschlägen des Lebens stand ich mehr als einmal ohnmächtig gegenüber", sagt Müller in seiner Biographie.
Mit ihr will der 66-Jährige anderen Menschen Kraft geben, die Ähnliches erfahren haben, ihnen eine Perspektive aufzeigen, wie man mit solchen traumatischen Erlebnissen umgehen kann - nicht als Fußballstar, sondern als Mensch. Das Buch, das der ehemalige "Kicker"-Redakteur Mounir Zitouni geschrieben hat, ist für Müller aber auch "Vergangenheitsbewältigung und Würdigung seiner Lebensleistung", erklärt er. Halt gibt ihm in schwierigen Zeiten nicht nur seine Frau, sondern auch seine Fußballschule, die er noch immer betreibt und mit der er sozial schwache Kinder und Jugendliche unterstützt. Im Jahr 2017 kam Zitouni bei einem Interview die Idee, eine Biographie über Müller zu verfassen. Der stimmte zu. Die beiden trafen sich mehr als 50 Mal. Herausgekommen ist ein gut recherchiertes Buch mit 240 Seiten voll interessanter Geschichten aus der Fußballkarriere von Müller, der bis heute der einzige Spieler ist, dem sechs Treffer in einer Bundesligapartie gelangen. Zweimal wurde er Pokalsieger, einmal deutscher Meister mit dem FC Köln. Auch die französische Meisterschaft gewann Müller mit Girondins Bordeaux. Die Biographie lebt von der Mischung aus der Leichtigkeit des Profifußballerlebens und der Schwere, die aus den zahlreichen Schicksalsschlägen resultiert. Zur Sprache kommen auch Müllers Selbstzweifel, die er während seiner Laufbahn hatte, wenn die Kritik an ihm lauter wurde. Oder sein Streben nach Harmonie im Umfeld und sein Auftreten als Lebemann. 18 Porsche besaß er schon. Sein Dasein hat der Weinkenner stets genossen - mit gutem Essen, dem einen oder anderen Gläschen Vino und so mancher Party. Dass er auf einer Nationalmannschaftsreise nach einer durchfeierten Nacht in Rio um sieben Uhr morgens auf Bundestrainer Helmut Schön an der Rezeption traf, trug nicht unbedingt zur Besserung des angespannten Verhältnisses zwischen den beiden bei. Sein Debüt, bei dem er im EM-Halbfinale 1976 nach seiner Einwechslung in der 79. Minute die Mannschaft mit drei Treffern zum 4:2-Sieg nach Verlängerung gegen Jugoslawien führte, bleibt unvergessen.
Obwohl internationale Titel in seiner Vita fehlen, wäre Müller mit seinen Leistungen von damals heute ein globaler Superstar: Mit 48 Toren (34 in der Liga, 14 im Pokal) in einer Saison stünde er auf einer Stufe mit Robert Lewandowski. Doch vom Profifußball hat er inzwischen Abstand genommen. "Vieles hat sich verändert. Diese ganze Maschinerie: Es dreht sich alles viel mehr um Geld als früher", sagt Müller mit Blick auf eingeflogene Friseure oder exorbitant hohe Spielerberatergehälter. Auch die Aggressivität der Fans sei ein Grund dafür. "Feindschaften gegenüber Spielern oder integren Menschen wie Dietmar Hopp machen mich traurig. Deshalb habe ich eine Distanz zum Fußball gewonnen." Werte wie Respekt, die er von seinen Großeltern vermittelt bekam, seien verlorengegangen. Ob Zeugwart oder Millionär, sagt Müller, von ihm sei jeder gleich behandelt worden. Noch heute nimmt er sich eine Indianer-Weisheit zu Herzen: "Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin."
Dieter Müller mit Mounir Zitouni: Meine zwei Leben: Was mir das Schicksal genommen und der Fußball gegeben hat. Edel Books Verlag, Hamburg 2020. 240 Seiten, 22 Euro.
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