Nach "Millionen" das zweite Kunststück von Frank Cottrell Boyce - Ein Buch so skurril, witzig, liebevoll und originell: ein wahres MeisterwerkIn der kleinen walisischen Stadt Manod ist alles grau: der Himmel, die Häuser und es regnet jeden Tag. Für Dylan aber ist Manod der beste Ort der Welt. Mit einem Vater, der einfach einen Kessel heißes Wasser in die Irische See kippt, wenn es zu kalt zum Baden ist. Und dann, eines Tages, bringt ein wahrhaft außergewöhnliches Ereignis Farbe in den grauen Ort: Die Kunstwerke der Londoner National Gallery werden vorübergehend in das stillgelegte Bergwerk ausgelagert! Nach und nach beflügelt die Kunst die Einwohner von Manod und dazu tragen nicht nur Van Goghs "Sonnenblumen" bei...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2006Michelangelo war kein Turtle
Frank Cottrell Boyces witziger Kunst-Roman "Meisterwerk"
Sie gehörten einst zum Kanon der Kinderliteratur, die Schwänke um die verschrobenen Bewohner jenes Städtchens hinter dem Mond, wo die private Schrulle, da die Schrullen des Gemeinwesens bereichernd, Respekt erwarten durfte. Manod, ein walisisches Nest, auf das kein Ausfahrtsschild hinweist, stets von Regen verhangen, unterhalb einer stillgelegten Schiefermine, bringt alles mit, um sich den Titel "Schilda von heute" zu verdienen. Käuze gibt es dort zuhauf, etwa die Sellwood-Schwestern, zwei alte Damen mit Vorliebe für die Haarfarbe Blau (eine von ihnen ist blind, hat aber den Führerschein, weshalb sie weiterhin chauffiert, während die andere "vorsagt"). Oder Mr. Davis, der Metzger, der Elvis begegnete, als alle ihn für tot hielten. Oder der minderbemittelte Tom, Forever-Fan der Ninja-Turtles, der beinahe Manods Ruf als Ort mit der niedrigsten Kriminalitätsrate des Landes gefährdet hätte und nun an der Stätte seines Fast-Delikts Wiedergutmachung leistet.
Womit wir am roten Punkt des Ortsplans wären, von dem aus erzählt wird: der Snowdonia Kfz-Oase. Und bei Dylan, dem Erzähler. Interessen: Fußball, Autos, keinesfalls Mädchen - demnach irgendwo zwischen zehn und zwölf. Außerdem ist er der letzte Junge von Manod. Ein Zustand, dessen Exklusivität daran hängt, ob Dylans Eltern die Kfz-Oase werden halten können oder ebenfalls wegziehen müssen. Der Benzinlieferant will ab sofort Vorkasse, und das, obwohl pro Tag selten mehr als zwei Kraftfahrzeuge die Dienste der Oase beanspruchen (von Dylan penibel im Benzintagebuch festgehalten, inklusive Farbton, Besitzer und Wetterlage). Es muß etwas passieren, das Gesetz der Dramatik verlangt es und auch, weil Dylans Eltern zwei Prachtstücke sind mit der Mentalität jenes Sprichwortvogels, der unbeirrt weiterflötete, als ein Kuhfladen auf ihn fiel. Mum Hughes, passionierte Teilnehmerin aller im Umkreis von Manod ständig stattfindenden Kofferraum-Flohmärkte, rafft wieder mal eine Ladung Entbehrliches zusammen und verwandelt den Familientrödel in eine fast neue Espressomaschine. Um die alten Kunden der Oase zu verwöhnen und eventuell neue anzulocken. Aber der Neugierbonus verebbt rasch. Bis sich auf Seite 43 - endlich! - Wunderbares tut.
Denn die geheimnisvollen Transporter, die hinauf zur alten Mine fahren, sind mit großer Kunst vollgepackt. Wegen Überschwemmungsgefahr lagert die National Gallery hier einen Teil ihrer Schätze aus. Pro Woche wird der Allgemeinheit ein Bild präsentiert - erst den Leuten von Manod, dann in London. Der große Lackmustest beginnt: Wozu ist Kunst gut? Was vermag sie beim Individuum auszurichten? Bei der Jugend Manods offenbart sich erst mal der zeittypische Abgrund moderner Barbarei: "Madonna", lernen sie, ist von Rechts wegen "ein anderer Ausdruck für die Mutter von Jesus". Und Michelangelo, Donatello und Leonardo sind mitnichten bloß die allbekannten Turtle-Typen. Umgekehrt gibt es ein ähnliches Mißverständnis, vermutet doch der Chef der Auslagerungsaktion ausgerechnet in Dylan einen frühreifen kunstsinnigen Seelenverwandten.
Doch während die Gemälde in den Betrachtern aus Manod Blockaden öffnen, von Schwermut heilen, wiederum zu neuer Kunst führen (der minderbemittelte Tom dekoriert im Schaffensrausch alle Schaufenster à la Dada, der Metzger entdeckt durch Monets Ruderboote, was ihm all die Jahre gefehlt hat), während also der Finger der Kunst eine Seele nach der anderen berührt, bleibt Dylan der markenfixierte Banause, der er immer schon war. Es ehrt den Autor, daß er das Billigangebot der effektvollen Saulus-Paulus-Wandlung ablehnt. Im Gegenteil: Beinahe hätte Dylan Manods deliktfreien Status doch noch ins Wanken gebracht durch den Versuch, etwas von all der Kunst umzumünzen in Familienkapital. Womit die fabulöse Konstruktion des Romans das Motiv des Anfangs wiederholt - und der Vorhang fällt.
Man hat die schnurrige Geschichte nach gewissen Anlaufschwierigkeiten dann doch sehr ins Herz geschlossen und gönnt allen das traumhafte Ende. Leben allerdings möchte man dort oben im Regen eigentlich lieber nicht. Im übrigen: Daß der Raub eines millionenschweren Gemäldes unter Kapitalverbrechen fällt und auch Kinder mit derlei nicht ungeschoren davonkommen, wäre vielleicht erwähnenswert gewesen. Zur Abschreckung.
KARLA SCHNEIDER
Frank Cottrell Boyce: "Meisterwerk". Aus dem Englischen übersetzt von Sala Naoura. Carlsen Verlag, Hamburg 2006. 320 S., 14,90 [Euro]. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Cottrell Boyces witziger Kunst-Roman "Meisterwerk"
Sie gehörten einst zum Kanon der Kinderliteratur, die Schwänke um die verschrobenen Bewohner jenes Städtchens hinter dem Mond, wo die private Schrulle, da die Schrullen des Gemeinwesens bereichernd, Respekt erwarten durfte. Manod, ein walisisches Nest, auf das kein Ausfahrtsschild hinweist, stets von Regen verhangen, unterhalb einer stillgelegten Schiefermine, bringt alles mit, um sich den Titel "Schilda von heute" zu verdienen. Käuze gibt es dort zuhauf, etwa die Sellwood-Schwestern, zwei alte Damen mit Vorliebe für die Haarfarbe Blau (eine von ihnen ist blind, hat aber den Führerschein, weshalb sie weiterhin chauffiert, während die andere "vorsagt"). Oder Mr. Davis, der Metzger, der Elvis begegnete, als alle ihn für tot hielten. Oder der minderbemittelte Tom, Forever-Fan der Ninja-Turtles, der beinahe Manods Ruf als Ort mit der niedrigsten Kriminalitätsrate des Landes gefährdet hätte und nun an der Stätte seines Fast-Delikts Wiedergutmachung leistet.
Womit wir am roten Punkt des Ortsplans wären, von dem aus erzählt wird: der Snowdonia Kfz-Oase. Und bei Dylan, dem Erzähler. Interessen: Fußball, Autos, keinesfalls Mädchen - demnach irgendwo zwischen zehn und zwölf. Außerdem ist er der letzte Junge von Manod. Ein Zustand, dessen Exklusivität daran hängt, ob Dylans Eltern die Kfz-Oase werden halten können oder ebenfalls wegziehen müssen. Der Benzinlieferant will ab sofort Vorkasse, und das, obwohl pro Tag selten mehr als zwei Kraftfahrzeuge die Dienste der Oase beanspruchen (von Dylan penibel im Benzintagebuch festgehalten, inklusive Farbton, Besitzer und Wetterlage). Es muß etwas passieren, das Gesetz der Dramatik verlangt es und auch, weil Dylans Eltern zwei Prachtstücke sind mit der Mentalität jenes Sprichwortvogels, der unbeirrt weiterflötete, als ein Kuhfladen auf ihn fiel. Mum Hughes, passionierte Teilnehmerin aller im Umkreis von Manod ständig stattfindenden Kofferraum-Flohmärkte, rafft wieder mal eine Ladung Entbehrliches zusammen und verwandelt den Familientrödel in eine fast neue Espressomaschine. Um die alten Kunden der Oase zu verwöhnen und eventuell neue anzulocken. Aber der Neugierbonus verebbt rasch. Bis sich auf Seite 43 - endlich! - Wunderbares tut.
Denn die geheimnisvollen Transporter, die hinauf zur alten Mine fahren, sind mit großer Kunst vollgepackt. Wegen Überschwemmungsgefahr lagert die National Gallery hier einen Teil ihrer Schätze aus. Pro Woche wird der Allgemeinheit ein Bild präsentiert - erst den Leuten von Manod, dann in London. Der große Lackmustest beginnt: Wozu ist Kunst gut? Was vermag sie beim Individuum auszurichten? Bei der Jugend Manods offenbart sich erst mal der zeittypische Abgrund moderner Barbarei: "Madonna", lernen sie, ist von Rechts wegen "ein anderer Ausdruck für die Mutter von Jesus". Und Michelangelo, Donatello und Leonardo sind mitnichten bloß die allbekannten Turtle-Typen. Umgekehrt gibt es ein ähnliches Mißverständnis, vermutet doch der Chef der Auslagerungsaktion ausgerechnet in Dylan einen frühreifen kunstsinnigen Seelenverwandten.
Doch während die Gemälde in den Betrachtern aus Manod Blockaden öffnen, von Schwermut heilen, wiederum zu neuer Kunst führen (der minderbemittelte Tom dekoriert im Schaffensrausch alle Schaufenster à la Dada, der Metzger entdeckt durch Monets Ruderboote, was ihm all die Jahre gefehlt hat), während also der Finger der Kunst eine Seele nach der anderen berührt, bleibt Dylan der markenfixierte Banause, der er immer schon war. Es ehrt den Autor, daß er das Billigangebot der effektvollen Saulus-Paulus-Wandlung ablehnt. Im Gegenteil: Beinahe hätte Dylan Manods deliktfreien Status doch noch ins Wanken gebracht durch den Versuch, etwas von all der Kunst umzumünzen in Familienkapital. Womit die fabulöse Konstruktion des Romans das Motiv des Anfangs wiederholt - und der Vorhang fällt.
Man hat die schnurrige Geschichte nach gewissen Anlaufschwierigkeiten dann doch sehr ins Herz geschlossen und gönnt allen das traumhafte Ende. Leben allerdings möchte man dort oben im Regen eigentlich lieber nicht. Im übrigen: Daß der Raub eines millionenschweren Gemäldes unter Kapitalverbrechen fällt und auch Kinder mit derlei nicht ungeschoren davonkommen, wäre vielleicht erwähnenswert gewesen. Zur Abschreckung.
KARLA SCHNEIDER
Frank Cottrell Boyce: "Meisterwerk". Aus dem Englischen übersetzt von Sala Naoura. Carlsen Verlag, Hamburg 2006. 320 S., 14,90 [Euro]. Ab 11 J.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Siggi Seuss hat Frank Cottrell Boyces "skurril-liebevolles Meisterwerk" noch lange nach der Lektüre beschäftigt. Die Geschichte um die Bewohner des walisischen Dorfes Manod, die durch die in der Nähe eingelagerte Kunst aus der Nationalgalerie zum Besseren verändert werden, könnte einen laut Seuss sogar dazu animieren, den Sommerurlaub in Wales zu verbringen, um sich die Örtlichkeiten einmal selbst anzusehen. So "vielschichtig und assoziationsreich" beschreibe Boyce das "bunte Leben" vor dem grauen Hintergrund der Schieferberge, dass Seuss ganz hingerissen ist und den Autor im gleichen Atemzug als "Meister des Gedankensprungs, des Hintersinns und der Ironie" preist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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