'Es gibt keinen italienischen Schriftsteller, der den Italienern fremder wäre als Savinio.' Diese Aussage des enthusiastischen Savinio-Lesers Leonardo Sciascia aus dem Jahre 1976 gilt heute nicht mehr. Der Schriftsteller, Maler und Komponist Alberto Savinio (Athen 1891- Rom 1952), mit bürgerlichem Namen Andrea De Chirico, wird in Italien heute als einer der faszinierendsten Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet. Es ist an der Zeit, diesen höchst originellen Vertreter der italienischen Moderne auch in Deutschland zu entdecken. Savinio, der mit seinem älteren Bruder Giorgio De Chirico das Konzept der 'arte metafisica' entwickelt und damit eine wichtige Variante der europäischen Kunst der Moderne geschaffen hat, ist lange Zeit als Surrealist vereinnahmt worden, nicht zuletzt durch André Breton. Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass ihm diese Zuordnung nicht gerecht wird. Das bestätigt auch diese Arbeit, die repräsentativen Texten Savinios gewidmet ist: den frühen ästhetischen Schriften aus den Jahren 1914 bis 1921, dem um 1920 entstandenen Roman 'Tragedia dell'infanzia', dem 1925 für Pirandellos 'Teatro d'Arte' konzipierten Theaterstück 'Capitano Ulisse' sowie der Erzählung 'Il signor Münster' aus der Sammlung 'Casa 'la Vita'' (1943).
Die Analyse dieser Texte belegt die eminente Bedeutung, die der 'negativen Philosophie' Schopenhauers und vor allem Nietzsches für das Denken und die Poetik Savinios zukommt, dessen Werk von der für die Moderne konstitutiven Erfahrung der 'entgötterten Welt' und 'leeren Transzendenz' geprägt ist. Die Auseinandersetzung mit der hieraus resultierenden 'Melancholie der Moderne' und das Streben nach ihrer Überwindung stellen das zentrale Thema des melancholischen Ironikers Savinio dar. In detaillierten Einzeluntersuchungen arbeitet die Studie die Funktion des medizinisch-philosophischen Melancholie-Diskurses für die Konstituierung seiner literarischen Welt heraus. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Verwendung des Mythischen durch Savinio, in der seine Theorie der 'memoria' ihre künstlerische Umsetzung findet. Mit dieser Thematisierung der Erinnerung schließt Savinio an die Theorie des kulturellen Gedächtnisses und damit an einen weiteren zentralen Diskurs der Moderne an.
Die Analyse dieser Texte belegt die eminente Bedeutung, die der 'negativen Philosophie' Schopenhauers und vor allem Nietzsches für das Denken und die Poetik Savinios zukommt, dessen Werk von der für die Moderne konstitutiven Erfahrung der 'entgötterten Welt' und 'leeren Transzendenz' geprägt ist. Die Auseinandersetzung mit der hieraus resultierenden 'Melancholie der Moderne' und das Streben nach ihrer Überwindung stellen das zentrale Thema des melancholischen Ironikers Savinio dar. In detaillierten Einzeluntersuchungen arbeitet die Studie die Funktion des medizinisch-philosophischen Melancholie-Diskurses für die Konstituierung seiner literarischen Welt heraus. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Verwendung des Mythischen durch Savinio, in der seine Theorie der 'memoria' ihre künstlerische Umsetzung findet. Mit dieser Thematisierung der Erinnerung schließt Savinio an die Theorie des kulturellen Gedächtnisses und damit an einen weiteren zentralen Diskurs der Moderne an.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2002Wandel durch Annäherung
Überhole dich selbst: Andrea Grewes Studie zu Alberto Savinio
Kunstschaffender Bruder eines - älteren - kunstschaffenden Bruders zu sein macht eine Selbstfindung nicht einfacher. Vielleicht ist es am Ende effektiver, sich wie Heinrich und Thomas Mann in Abgrenzung vom jeweils anderen zu definieren. Kaum eine halbe Generation jünger als sie war ein anderes Bruderpaar. Ihr Verhältnis steht gerade im Zeichen des ausgebliebenen Bruchs: Giorgio de Chirico, der Maler (1888 bis 1978), und sein Bruder Andrea (1891 bis 1952). Innerhalb der Avantgarden gewann der Ältere schnell eine Position. Der jüngere dagegen schien weithin in seinem Schatten zu stehen.
Nicht als ob er seinen eigenen Ausdruck nicht gesucht hätte. Er gab sich einen anderen Namen: Alberto Savinio; hat Musik und Komposition in Athen, dann in München bei Max Reger studiert. Im Krieg, an der Seite von Futuristen, kam er zur Literatur. Danach, in Mailand, verfaßte er kunsttheoretische Schriften; über Apollinaire und Pirandello fand er Zugang zum Sprech- und Musiktheater; durch die Ballets russes in Paris zum Tanztheater. 1926 findet er Anschluß an den surrealistischen Zirkel und wird - Maler. Intensive feuilletonistische Tätigkeiten treten hinzu, vor allem ist er ein Pionier der Filmkritik. Wieder in Italien; Rückkehr zum Theater; zur Radiooper; Autor, Komponist, Essayist; Librettist, Bühnen-, Kostümbildner, Regisseur an der Mailänder Scala.
Und dennoch wird André Breton, der surrealistische Expeditionsleiter, sagen, daß die ungleichen De-Chirico-Brüder in ihrer geistigen Haltung fast nicht zu unterscheiden seien, er meinte ihr Projekt einer arte metafisica. Giorgio porträtiert sie beide 1924 als "die Dioskuren". Savinio: also doch nur einer, der zwar vorne dabei ist, aber die Richtung von anderen bestimmen läßt? Sein Fall ist anders - und interessanter.
Er muß früh bemerkt haben, wie sehr die Umdrehungen seines Lebens den schnellen Gesten der Avantgarde entgegenkamen. Als einer, der in Griechenland als Italiener geboren wurde, in Deutschland ein Ausländer war; in Frankreich Italiener, in Italien französisch erschien, wurde er vor allem sich selbst der Fremde, der Außenstehende. Doch gerade einem wie ihm bot die Avantgarde eine Heimat, entsprach er doch ihrem kosmopolitischen Familiensinn. Daß er alle Diskurse erstürmte, in jedes Medium drängte - für sie war das Programm. Seinen Bruder Giorgio erkennt man sofort. Er hingegen war "Proteus", der stets Wandelbare. Deshalb erschien er als der Unfertige, dem eine nachhaltige Wirkung versagt war. Der Außenseiter von damals wurde zum Abwesenden. Noch 1976 konnte Leonardo Sciascia sagen, es gäbe keinen italienischen Schriftsteller, der den Italienern fremder sei als er.
Seit den achtziger Jahren hat der Suhrkamp Verlag begonnen, ihm eine komfortable Bleibe in Deutschland einzurichten. Eine umfangreiche Studie von Andrea Grewe verleiht ihm jetzt wissenschaftliche Statur. Vielleicht war erst eine Nachmoderne nötig, um einen Sinn für seine negative Metaphysik zu bekommen: Ich lege mich fest, also bin ich nicht(s) - eine Reverenz an seine intellektuellen Ahnherren, vor allem Nietzsche, aber auch Schopenhauer und Otto Weininger. Mit ihnen vor allem hat er den Versuch unternommen, sich und seine Existenz als ein Gesamtkunstwerk anzulegen. Mit der Besonderheit allerdings, daß sie ein "Gesamtes" nicht mehr kennt.
Im Grund kreist Savinio um nichts anderes als um diese immer präsente Abwesenheit. Gott also ist tot; was folgt daraus? Für Savinio haben mit seiner Unsterblichkeit wir Sterblichen die Möglichkeit verloren, uns in einem seiner Namen unsterblich zu machen. Dadurch fallen wir uns völlig selbst anheim. Andere Notbehelfe kamen hinzu, wie die Ideale nationaler Einheit, die im Faschismus endeten.
Epistemologische Schiffbrüche, die einer neuen Vertreibung aus dem Paradies (der Kindheit und des Künstlertums) gleichkamen, gestaltete Savinio in seiner "Tragödie der Kindheit" (1937; dt. 1999). Nach dem Ersten Weltkrieg war die ganze Saat jenes "Dividuums" (Novalis) aufgegangen, das an der Schwelle zur Moderne zum ersten Mal aufgetreten war: Jeder muß der andere seiner selbst sein. Und so richtet sich Savinio in zwiespältigen Gestalten ein: dem Kentaur; den Hermaphroditen; in Merkur, dem Grenzgänger, oder Orpheus, dem Sänger und Witwer, Double des Künstlers ohne Muse. Ein Selbstbildnis von 1936 zeigt ihn mit Eulenkopf.
Wie also sich verhalten? Sich einem "continuo divenire" ohne Ziel verschreiben? Sich selbst erfinden? Nicht als ob dadurch etwas besser würde. Was Savinio auch anstellt, es bleibt Kunst nach dem Tode Gottes. Dennoch scheint er in diesen metaphysischen Rückständen noch einmal ein äußerstes, negatives Projekt aufgespürt zu haben, das dem seines Alters- und Zeitgenossen Giuseppe Ungaretti gleicht. Was bleibt, ist das Bewußtsein, Herr wenigstens der eigenen Selbstüberholungen zu sein.
Die Avantgarde muß mit Savinio nicht neu erfunden werden. Aber mehr als andere kann er ihr ästhetisches Drehmoment repräsentieren und der Nachmoderne zeigen, wie modern sie noch immer ist.
WINFRIED WEHLE
Andrea Grewe: "Melancholie der Moderne". Studien zur Poetik Alberto Savinios. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2001. 468 S., br., 74,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überhole dich selbst: Andrea Grewes Studie zu Alberto Savinio
Kunstschaffender Bruder eines - älteren - kunstschaffenden Bruders zu sein macht eine Selbstfindung nicht einfacher. Vielleicht ist es am Ende effektiver, sich wie Heinrich und Thomas Mann in Abgrenzung vom jeweils anderen zu definieren. Kaum eine halbe Generation jünger als sie war ein anderes Bruderpaar. Ihr Verhältnis steht gerade im Zeichen des ausgebliebenen Bruchs: Giorgio de Chirico, der Maler (1888 bis 1978), und sein Bruder Andrea (1891 bis 1952). Innerhalb der Avantgarden gewann der Ältere schnell eine Position. Der jüngere dagegen schien weithin in seinem Schatten zu stehen.
Nicht als ob er seinen eigenen Ausdruck nicht gesucht hätte. Er gab sich einen anderen Namen: Alberto Savinio; hat Musik und Komposition in Athen, dann in München bei Max Reger studiert. Im Krieg, an der Seite von Futuristen, kam er zur Literatur. Danach, in Mailand, verfaßte er kunsttheoretische Schriften; über Apollinaire und Pirandello fand er Zugang zum Sprech- und Musiktheater; durch die Ballets russes in Paris zum Tanztheater. 1926 findet er Anschluß an den surrealistischen Zirkel und wird - Maler. Intensive feuilletonistische Tätigkeiten treten hinzu, vor allem ist er ein Pionier der Filmkritik. Wieder in Italien; Rückkehr zum Theater; zur Radiooper; Autor, Komponist, Essayist; Librettist, Bühnen-, Kostümbildner, Regisseur an der Mailänder Scala.
Und dennoch wird André Breton, der surrealistische Expeditionsleiter, sagen, daß die ungleichen De-Chirico-Brüder in ihrer geistigen Haltung fast nicht zu unterscheiden seien, er meinte ihr Projekt einer arte metafisica. Giorgio porträtiert sie beide 1924 als "die Dioskuren". Savinio: also doch nur einer, der zwar vorne dabei ist, aber die Richtung von anderen bestimmen läßt? Sein Fall ist anders - und interessanter.
Er muß früh bemerkt haben, wie sehr die Umdrehungen seines Lebens den schnellen Gesten der Avantgarde entgegenkamen. Als einer, der in Griechenland als Italiener geboren wurde, in Deutschland ein Ausländer war; in Frankreich Italiener, in Italien französisch erschien, wurde er vor allem sich selbst der Fremde, der Außenstehende. Doch gerade einem wie ihm bot die Avantgarde eine Heimat, entsprach er doch ihrem kosmopolitischen Familiensinn. Daß er alle Diskurse erstürmte, in jedes Medium drängte - für sie war das Programm. Seinen Bruder Giorgio erkennt man sofort. Er hingegen war "Proteus", der stets Wandelbare. Deshalb erschien er als der Unfertige, dem eine nachhaltige Wirkung versagt war. Der Außenseiter von damals wurde zum Abwesenden. Noch 1976 konnte Leonardo Sciascia sagen, es gäbe keinen italienischen Schriftsteller, der den Italienern fremder sei als er.
Seit den achtziger Jahren hat der Suhrkamp Verlag begonnen, ihm eine komfortable Bleibe in Deutschland einzurichten. Eine umfangreiche Studie von Andrea Grewe verleiht ihm jetzt wissenschaftliche Statur. Vielleicht war erst eine Nachmoderne nötig, um einen Sinn für seine negative Metaphysik zu bekommen: Ich lege mich fest, also bin ich nicht(s) - eine Reverenz an seine intellektuellen Ahnherren, vor allem Nietzsche, aber auch Schopenhauer und Otto Weininger. Mit ihnen vor allem hat er den Versuch unternommen, sich und seine Existenz als ein Gesamtkunstwerk anzulegen. Mit der Besonderheit allerdings, daß sie ein "Gesamtes" nicht mehr kennt.
Im Grund kreist Savinio um nichts anderes als um diese immer präsente Abwesenheit. Gott also ist tot; was folgt daraus? Für Savinio haben mit seiner Unsterblichkeit wir Sterblichen die Möglichkeit verloren, uns in einem seiner Namen unsterblich zu machen. Dadurch fallen wir uns völlig selbst anheim. Andere Notbehelfe kamen hinzu, wie die Ideale nationaler Einheit, die im Faschismus endeten.
Epistemologische Schiffbrüche, die einer neuen Vertreibung aus dem Paradies (der Kindheit und des Künstlertums) gleichkamen, gestaltete Savinio in seiner "Tragödie der Kindheit" (1937; dt. 1999). Nach dem Ersten Weltkrieg war die ganze Saat jenes "Dividuums" (Novalis) aufgegangen, das an der Schwelle zur Moderne zum ersten Mal aufgetreten war: Jeder muß der andere seiner selbst sein. Und so richtet sich Savinio in zwiespältigen Gestalten ein: dem Kentaur; den Hermaphroditen; in Merkur, dem Grenzgänger, oder Orpheus, dem Sänger und Witwer, Double des Künstlers ohne Muse. Ein Selbstbildnis von 1936 zeigt ihn mit Eulenkopf.
Wie also sich verhalten? Sich einem "continuo divenire" ohne Ziel verschreiben? Sich selbst erfinden? Nicht als ob dadurch etwas besser würde. Was Savinio auch anstellt, es bleibt Kunst nach dem Tode Gottes. Dennoch scheint er in diesen metaphysischen Rückständen noch einmal ein äußerstes, negatives Projekt aufgespürt zu haben, das dem seines Alters- und Zeitgenossen Giuseppe Ungaretti gleicht. Was bleibt, ist das Bewußtsein, Herr wenigstens der eigenen Selbstüberholungen zu sein.
Die Avantgarde muß mit Savinio nicht neu erfunden werden. Aber mehr als andere kann er ihr ästhetisches Drehmoment repräsentieren und der Nachmoderne zeigen, wie modern sie noch immer ist.
WINFRIED WEHLE
Andrea Grewe: "Melancholie der Moderne". Studien zur Poetik Alberto Savinios. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2001. 468 S., br., 74,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die ungleichen de-Chirico-Brüder waren gar nicht so ungleich, behauptet Winfried Wehle und berichtet, dass es im Verhältnis der beiden, anders als bei den Manns, nie zum Bruch gekommen sei. Zwar hat Alberto, der Jüngere, viel unternommen, um aus dem Schatten des Älteren und Bekannteren Giorgio zu treten - er hat einen anderen Namen angenommen, Komposition studiert, Filmkritiken und Kunstessays geschrieben -, aber schließlich landete er doch bei den Surrealisten und der Malerei. Winfried Wehle lässt die Vita von Alberto Savinio, wie er sich fortan nannte, Revue passieren und stellt fest: er war vielseitiger als sein Bruder, doch die Geisteshaltung war nicht zu unterscheiden, beide verband das "Projekt einer arte metafisica". Die umfangreiche wissenschaftliche Studie von Andrea Grewe untersucht die intellektuellen Bezüge von Savinios negativer Metaphysik - als Referenzen werden Nietzsche, Schopenhauer und Otto Weininger angeführt. Auf die Studie selbst geht Wehle nicht genauer ein, sondern kommt allgemein zu dem Schluss, Savinio nicht als Kopf der Avantgarde zu bezeichnen, wohl aber als jemanden, der ihr "ästhetisches Drehmoment" auf interessante Weise repräsentiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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