Lepenies' Studie über Melancholie und Gesellschaft erschien zuerst 1969. Melancholie wird als sozial bedingtes Phänomen dargestellt - auch und gerade dort, wo melancholisches Verhalten als Gesellschaftsflucht erscheint. Die benutzten Quellen sind unterschiedlicher Natur: der Roman steht neben der Utopie, neben soziologischer Analyse der Aphorismus. Diese Disparatheit erzwingt der Gegenstand: weder Melancholie noch utopisches Denken und Langeweile lassen sich einer einzelnen Disziplin zuschlagen und in ihr verarbeiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.1998Wertschöpfung ex nihilo
Das Räderwerk der Denkgewohnheiten: Wie Wolf Lepenies der Wissenschaft das Benehmen beibringen will
Als Benehmen noch Glückssache war, fiel es leicht, sich danebenzubenehmen. Nun aber, da - wie man so sagt - die großen Rahmenerzählungen des Lebens zerbrochen sind, lastet auf dem Benehmen eine existentielle Bedeutung. Statt zur Glückssache erklärt man es zur Hauptsache. Benimm dich und und alles wird gut - das ist die Philosophie dessen, der im Wald zu pfeifen versteht. Je dunkler es nach dem Tode Gottes und dem Ende der Utopien geworden ist, desto wichtiger ist die Sekundärtugend des Sichzusammenreißens. "Benimm und Erkenntnis", so der Titel des jüngsten Werkes von Wolf Lepenies, stehen deshalb in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis.
Lepenies legt ein Buch mit Eingreifcharakter vor, eine Art Knigge des Denkens. Es entstand auf der Grundlage von zwei Vorträgen, die er vor dem Potsdamer "Einstein Forum" gehalten hat, einem aufs Bilanzieren spezialisierten Haus. Der Autor spricht in eine Zeit hinein, in der es angeblich nichts mehr zu finden, dafür um so mehr zu erfinden gibt. Erstaunlich ist daher, daß Lepenies trotzdem so tut, als sei erkenntnistheoretisch nichts gewesen, als habe die Geltung keine Geltungsprobleme bekommen. Um der "orientierungslosen" Ausdifferenzierung einen Riegel vorzuschieben, plädiert er umstandslos für die "Wiederkehr der Werte in die Wissenschaft". Schließlich könne es nicht angehen, daß sich "jetzt allenthalben die Fragezeichen tummeln" und der "soziale Kitt" bröckelt. Insbesondere die Ökonomie mit ihrem formalisierten Modelldenken fernab der "realen" und "wahren" Probleme ist ihm ein Dorn im Auge. Um nach vorne zu denken, will er zurück zum politisierenden Wertewissenschaftler, und keine historische Erfahrung soll diesem Begehr in die Quere kommen. Hundertfünfzig Jahre nach dem Kommunistischen Manifest fordert Wolf Lepenies: "Wir brauchen einen neuen, einen anderen Marx".
Das "wir brauchen" ist denn auch das windige Gewand, in welches er jedweden gut erzogenen Gedanken gehüllt sehen möchte. Wir brauchen - so Lepenies - mehr Sinn, eine Politik der Mentalitäten, viel Re-Spiritualisierung, dauerhafte Bindungskräfte und im übrigen ein radikales Überdenken unserer kognitiven Grundannahmen. Man stutzt über die Unbekümmertheit, mit der hier ein Sozialwissenschaftler mit einem umfassenden Forderungskatalog an die Schöpfung herantritt. Nichts läßt erkennen, daß Lepenies zwischen Machbarem und Unmachbarem unterscheidet, daß er ein Gefühl für die Kontingenz von Zielen besitzt. Unter seinem Zugriff erscheint nicht nur die Wissenschaft, sondern das ganze Leben als ein großer Betrieb, in dem im Zweifelsfall alles immer schon vernetzt ist. Eben dies ist die Pointe eines Denkens, das auf Benimm abstellt: Sämtliche Sphären verschmelzen im milden Licht des savoir vivre.
Erst wer aufhört, "eine Lampe aus- und eine andere anzuknipsen", erhält ein Licht, in dem man nirgendwo mehr anstößt - wohl weil die Kanten des Erkannten nicht länger ins Auge fallen. Lepenies spricht in diesem Zusammenhang gern auch von einer "gesellschaftspolitischen Dimmer-Mentalität", die es auszubilden gelte. Dann ist alles in einem, und es gilt nicht länger: "Staub dort, Ewigkeit hier". Wer zu leben versteht, darf also vor allem nicht zu genau hinschauen wollen. Gewiß, wir brauchen "Sozialcharaktere mit festen Kernüberzeugungen". Aber eben doch solche "von hoher innerer Flexibilität", wenn es darauf ankommt. Die Straße des Benimms, sie ist eher breit als schmal. Auf ihr braucht sich niemand durch ein Nadelöhr zu zwängen.
Aus diesem Grund versteht man auch nicht recht, warum Lepenies in seiner jetzt neu verfaßten Einleitung zur Dissertation "Melancholie und Gesellschaft" von einer allfälligen "Wiederkehr der Melancholie" spricht. Melancholisch kann doch nur einer werden, dem es nicht gelingt, sich mit dem dezisionistischen "Wir brauchen" ins Benehmen zu setzen, der sich lieber dem Kontrast von hell und dunkel aussetzt, als im Dimmerlicht zu dösen. Der Melancholiker ist immer einer, der mehr weiß, als er zu nehmen weiß. Lepenies indes führt einen Gestus vor, der sämtliche Erbschaften unserer Zeit mühelos zu managen scheint. In der inszenierten weiten Perspektive treibt er ein kokettes Spiel mit großen Worten. Aber während man bei Horst-Eberhard Richter oder Dorothee Sölle schon gar nicht mehr hinhört, bleibt man bei Wolf Lepenies erst einmal hängen. Woran liegt's? An den salvatorischen Klauseln, die seinen bombastischen Thesen die Spitze nehmen sollen. Der Effekt ist gut kalkuliert. Denn wer möchte schon jemandem böse sein, der etwas Gutgemeintes und Schlechtgedachtes in die Welt setzt, wenn er es gleich danach mit anderen Worten wieder zurückzunehmen scheint? Beispiel Wertevermehrung: Lepenies will "engagierte Gelehrsamkeit", vergißt aber nicht, gleichzeitig gegen "Bekennertum" zu sein. Es dauert erst einige Zeit, bis einem aufgeht, daß das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Aber dann ist es schon zu spät: Die These ist geschluckt.
Um den Bluff zu tarnen, greift Lepenies zusätzlich auf ein Repertoire von kolloquialen Stimuli zurück. Dazu gehört die kunstvoll durchgehaltene Technik, einem eher unscheinbaren Begriff Gewicht zu verleihen, indem man ihn in ein imposantes Fremdwort rückübersetzt. So sind wir alle nicht nur Besserwisser, sondern experts before experience, die provisorische Moral ist zugleich eine morale par provision, die Denkfaulheit heißt wheeles of custome, und dann gibt es da noch Jacques Delors' repli sur soi. Oft scheint ein Gedanke nur deshalb aufzugehen, weil er eine gesuchte Alternative beschreibt ("Es ist nicht Zeit für eine Gegenaufklärung, sondern für ein Überdenken der Aufklärung in kritischem Geist").
Zur Beglaubigung einer globalisierten Mentalität läßt Lepenies keine noch so aufgesetzt wirkende Fußnote aus. Als es zum Beispiel einmal um Europa geht, wird Goethes Schulgedicht "Amerika, du hast es besser" in einer Anmerkung vollständig zitiert, nicht ohne den Hinweis, daß "aus dem Basaltstreit, der Goethes Gedicht zum Anlaß diente, längst ein Streit der Mentalitäten zwischen den Kontinenten" geworden sei. Auf diese Weise wandeln sich Fußnoten zu Duftnoten. Ihrer betörenden Wirkung weiß nur der prüde auf Erkenntnis Pochende zu widerstehen. Im besten frankophilen Reflexionsstil verwendet Lepenies zur manierlichen Bekleidung nackter Thesen gern auch moralisierende Pathosworte. So darf man nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern hat sich "einzugestehen", wie sehr "die Geschichte Europas stets auch Geistesgeschichte gewesen ist"; eine Einsicht, zu der man sich angeblich "durchringen" muß, lautet: "Europa ist sterblich - wie alle Zivilisationen"; und stets und zu allem ist "Mut" gefragt.
Aber vielleicht tut man Wolf Lepenies mit solchen Einwänden, die ihn beim Wort nehmen, auch Unrecht. Denn könnte es nicht sein, daß der wissenschaftliche Verfechter von Benimm und Melancholie ein mit allen Wassern des Betriebs gewaschener Ironiker ist? Dann hätte er allerdings vergessen, die Ironiesignale zu setzen. CHRISTIAN GEYER
Wolf Lepenies: "Benimm und Erkenntnis". Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 100 S., br., 14,80 DM.
Wolf Lepenies: "Melancholie und Gesellschaft". Mit einer neuen Einleitung: "Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie".Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998. 337 S., br., 24,80 DM.
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Das Räderwerk der Denkgewohnheiten: Wie Wolf Lepenies der Wissenschaft das Benehmen beibringen will
Als Benehmen noch Glückssache war, fiel es leicht, sich danebenzubenehmen. Nun aber, da - wie man so sagt - die großen Rahmenerzählungen des Lebens zerbrochen sind, lastet auf dem Benehmen eine existentielle Bedeutung. Statt zur Glückssache erklärt man es zur Hauptsache. Benimm dich und und alles wird gut - das ist die Philosophie dessen, der im Wald zu pfeifen versteht. Je dunkler es nach dem Tode Gottes und dem Ende der Utopien geworden ist, desto wichtiger ist die Sekundärtugend des Sichzusammenreißens. "Benimm und Erkenntnis", so der Titel des jüngsten Werkes von Wolf Lepenies, stehen deshalb in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis.
Lepenies legt ein Buch mit Eingreifcharakter vor, eine Art Knigge des Denkens. Es entstand auf der Grundlage von zwei Vorträgen, die er vor dem Potsdamer "Einstein Forum" gehalten hat, einem aufs Bilanzieren spezialisierten Haus. Der Autor spricht in eine Zeit hinein, in der es angeblich nichts mehr zu finden, dafür um so mehr zu erfinden gibt. Erstaunlich ist daher, daß Lepenies trotzdem so tut, als sei erkenntnistheoretisch nichts gewesen, als habe die Geltung keine Geltungsprobleme bekommen. Um der "orientierungslosen" Ausdifferenzierung einen Riegel vorzuschieben, plädiert er umstandslos für die "Wiederkehr der Werte in die Wissenschaft". Schließlich könne es nicht angehen, daß sich "jetzt allenthalben die Fragezeichen tummeln" und der "soziale Kitt" bröckelt. Insbesondere die Ökonomie mit ihrem formalisierten Modelldenken fernab der "realen" und "wahren" Probleme ist ihm ein Dorn im Auge. Um nach vorne zu denken, will er zurück zum politisierenden Wertewissenschaftler, und keine historische Erfahrung soll diesem Begehr in die Quere kommen. Hundertfünfzig Jahre nach dem Kommunistischen Manifest fordert Wolf Lepenies: "Wir brauchen einen neuen, einen anderen Marx".
Das "wir brauchen" ist denn auch das windige Gewand, in welches er jedweden gut erzogenen Gedanken gehüllt sehen möchte. Wir brauchen - so Lepenies - mehr Sinn, eine Politik der Mentalitäten, viel Re-Spiritualisierung, dauerhafte Bindungskräfte und im übrigen ein radikales Überdenken unserer kognitiven Grundannahmen. Man stutzt über die Unbekümmertheit, mit der hier ein Sozialwissenschaftler mit einem umfassenden Forderungskatalog an die Schöpfung herantritt. Nichts läßt erkennen, daß Lepenies zwischen Machbarem und Unmachbarem unterscheidet, daß er ein Gefühl für die Kontingenz von Zielen besitzt. Unter seinem Zugriff erscheint nicht nur die Wissenschaft, sondern das ganze Leben als ein großer Betrieb, in dem im Zweifelsfall alles immer schon vernetzt ist. Eben dies ist die Pointe eines Denkens, das auf Benimm abstellt: Sämtliche Sphären verschmelzen im milden Licht des savoir vivre.
Erst wer aufhört, "eine Lampe aus- und eine andere anzuknipsen", erhält ein Licht, in dem man nirgendwo mehr anstößt - wohl weil die Kanten des Erkannten nicht länger ins Auge fallen. Lepenies spricht in diesem Zusammenhang gern auch von einer "gesellschaftspolitischen Dimmer-Mentalität", die es auszubilden gelte. Dann ist alles in einem, und es gilt nicht länger: "Staub dort, Ewigkeit hier". Wer zu leben versteht, darf also vor allem nicht zu genau hinschauen wollen. Gewiß, wir brauchen "Sozialcharaktere mit festen Kernüberzeugungen". Aber eben doch solche "von hoher innerer Flexibilität", wenn es darauf ankommt. Die Straße des Benimms, sie ist eher breit als schmal. Auf ihr braucht sich niemand durch ein Nadelöhr zu zwängen.
Aus diesem Grund versteht man auch nicht recht, warum Lepenies in seiner jetzt neu verfaßten Einleitung zur Dissertation "Melancholie und Gesellschaft" von einer allfälligen "Wiederkehr der Melancholie" spricht. Melancholisch kann doch nur einer werden, dem es nicht gelingt, sich mit dem dezisionistischen "Wir brauchen" ins Benehmen zu setzen, der sich lieber dem Kontrast von hell und dunkel aussetzt, als im Dimmerlicht zu dösen. Der Melancholiker ist immer einer, der mehr weiß, als er zu nehmen weiß. Lepenies indes führt einen Gestus vor, der sämtliche Erbschaften unserer Zeit mühelos zu managen scheint. In der inszenierten weiten Perspektive treibt er ein kokettes Spiel mit großen Worten. Aber während man bei Horst-Eberhard Richter oder Dorothee Sölle schon gar nicht mehr hinhört, bleibt man bei Wolf Lepenies erst einmal hängen. Woran liegt's? An den salvatorischen Klauseln, die seinen bombastischen Thesen die Spitze nehmen sollen. Der Effekt ist gut kalkuliert. Denn wer möchte schon jemandem böse sein, der etwas Gutgemeintes und Schlechtgedachtes in die Welt setzt, wenn er es gleich danach mit anderen Worten wieder zurückzunehmen scheint? Beispiel Wertevermehrung: Lepenies will "engagierte Gelehrsamkeit", vergißt aber nicht, gleichzeitig gegen "Bekennertum" zu sein. Es dauert erst einige Zeit, bis einem aufgeht, daß das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Aber dann ist es schon zu spät: Die These ist geschluckt.
Um den Bluff zu tarnen, greift Lepenies zusätzlich auf ein Repertoire von kolloquialen Stimuli zurück. Dazu gehört die kunstvoll durchgehaltene Technik, einem eher unscheinbaren Begriff Gewicht zu verleihen, indem man ihn in ein imposantes Fremdwort rückübersetzt. So sind wir alle nicht nur Besserwisser, sondern experts before experience, die provisorische Moral ist zugleich eine morale par provision, die Denkfaulheit heißt wheeles of custome, und dann gibt es da noch Jacques Delors' repli sur soi. Oft scheint ein Gedanke nur deshalb aufzugehen, weil er eine gesuchte Alternative beschreibt ("Es ist nicht Zeit für eine Gegenaufklärung, sondern für ein Überdenken der Aufklärung in kritischem Geist").
Zur Beglaubigung einer globalisierten Mentalität läßt Lepenies keine noch so aufgesetzt wirkende Fußnote aus. Als es zum Beispiel einmal um Europa geht, wird Goethes Schulgedicht "Amerika, du hast es besser" in einer Anmerkung vollständig zitiert, nicht ohne den Hinweis, daß "aus dem Basaltstreit, der Goethes Gedicht zum Anlaß diente, längst ein Streit der Mentalitäten zwischen den Kontinenten" geworden sei. Auf diese Weise wandeln sich Fußnoten zu Duftnoten. Ihrer betörenden Wirkung weiß nur der prüde auf Erkenntnis Pochende zu widerstehen. Im besten frankophilen Reflexionsstil verwendet Lepenies zur manierlichen Bekleidung nackter Thesen gern auch moralisierende Pathosworte. So darf man nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern hat sich "einzugestehen", wie sehr "die Geschichte Europas stets auch Geistesgeschichte gewesen ist"; eine Einsicht, zu der man sich angeblich "durchringen" muß, lautet: "Europa ist sterblich - wie alle Zivilisationen"; und stets und zu allem ist "Mut" gefragt.
Aber vielleicht tut man Wolf Lepenies mit solchen Einwänden, die ihn beim Wort nehmen, auch Unrecht. Denn könnte es nicht sein, daß der wissenschaftliche Verfechter von Benimm und Melancholie ein mit allen Wassern des Betriebs gewaschener Ironiker ist? Dann hätte er allerdings vergessen, die Ironiesignale zu setzen. CHRISTIAN GEYER
Wolf Lepenies: "Benimm und Erkenntnis". Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 100 S., br., 14,80 DM.
Wolf Lepenies: "Melancholie und Gesellschaft". Mit einer neuen Einleitung: "Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie".Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998. 337 S., br., 24,80 DM.
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