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Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf Kopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der Wellen an die Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das Unglück selbst es in seinen harten Händen hielte. »Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich mich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitscht, ein…mehr

Produktbeschreibung
Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf Kopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der Wellen an die Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das Unglück selbst es in seinen harten Händen hielte. »Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich mich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen. Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden am Horizont die Küste von Holland und mit ihr die letzten freundlichen Lichter. Ich war allein ¿ ganz allein. Ich sammelte meine Gedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt hatte wie der Sturm die Schaumperlen auf dem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens, das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen stolz und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus gewesen, das ein Stoß mit der Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit: meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ich konnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen.
Autorenporträt
Lily Braun, geboren als Amelia Jenny Emilie Klothilde Johanna von Kretschmann[1], in erster Ehe Lily von Gizycki, (* 2. Juli 1865 in Halberstadt; ¿ 9. August 1916 in Kleinmachnow[2]) war eine deutsche Schriftstellerin, Sozialdemokratin, Frauenrechtlerin und Journalistin. Besonders setzte sie sich für die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit ein. Mit Memoiren einer Sozialistin hat sie ihre Autobiografie veröffentlicht und darin vor allem ihr Engagement für Frauenemanzipation beschrieben.