Leonard Engel steht an einem entscheidenden Punkt seines Lebens: Die geliebte Kindheit in Mainfranken ist vorbei, das Abitur bestanden, die Zukunft voller Möglichkeiten, doch die erste Liebe zu seinem Freund Marius weicht schnell einer großen Leere und dem Gefühl, dass mit ihm "etwas Grundsätzliches nicht stimmt". Aus erotischen Verwirrungen und inszenierten Exzessen flieht er zum Studium nach Wien, wo ihn die Intrigen seiner Leidensgenossin Feline in die Arme des Strichers Tiago treiben. Weder ein Sprung in die Donau noch der Aufbruch zur Schwester nach Südfrankreich verheißen einen Ausweg aus dem Alptraum. Erst in der Begegnung mit Boris findet die rastlose Suche ihr Ziel. Besessen von dem Wunsch, mit diesem Menschen sein Leben zurückzuerobern, beginnt er, seine Geschichte aufzuschreiben.
Es entsteht das leidenschaftliche Selbstportrait eines jungen Mannes, der unter den Menschen, im Reich der Tiere und in der Welt der Engel gleichermaßen seine Wahrheit sucht und dabei ganz nebenbei erzählt, warum das Leben eigentlich nicht zu bestehen ist, und wenn doch, dann nur mit Hilfe der Literatur.
Es entsteht das leidenschaftliche Selbstportrait eines jungen Mannes, der unter den Menschen, im Reich der Tiere und in der Welt der Engel gleichermaßen seine Wahrheit sucht und dabei ganz nebenbei erzählt, warum das Leben eigentlich nicht zu bestehen ist, und wenn doch, dann nur mit Hilfe der Literatur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.01.2009Wenn Engel schreiben
Gunther Geltinger sperrt den Leser ins Fühligkeitsgefängnis
Es ist eine alte Geschichte: Ein Jüngling hat die Schulen durchlaufen und muss hinaus in die Welt; das Begehren ist stark, Sex bleibt nicht aus, Enttäuschungen stellen sich ein. Noch fallen Trieb und Neugier in eins, aber kein Erlebnis genügt, befriedigt das Sinnbedürfnis. Das ist allzu bekannt. Und doch liest man immer wieder gern von der Zeit, als die Gegenden hinter dem Fluss viel versprachen und man sich selbst alles zutraute, weil man noch nicht wusste, was man konnte, wer man war. Davon muss immer wieder erzählt werden, glaubt doch jeder beim Aufbruch aus dem Kinderzimmer, Einmaliges zu durchleben.
„Als er wegging über den Fluss”, ist Leonard Engel, der Held des Debütromans von Gunther Geltinger, neunzehn Jahre alt. Er war kurz zuvor noch in Marius verliebt, einen „braun gelockten Jungen mit dem trotzigen und wie mit einem braunroten Federstrich konturierten Lippenschwung”. Sie fanden zueinander, und ehe sie recht wussten, wie ihnen geschieht, entdeckte Leonard den Riss durch die Welt, den Abgrund, über dem menschliches Dasein stattfindet.
Er stößt Marius von sich, wechselt hinfort die Männer und die Wohnorte und wird doch die innere Leere nicht los. Sie bleibt ihm, auch wenn er – zehn Jahre später – an der Seite eines Lehrers so etwas wie Alltagsroutine für seine Unruhe findet, sein Heim der Heimatlosigkeit. Es liegt in Köln.
Dergleichen geschieht regelmäßig. Das etwas abgestandene Sujet – mit voraussehbaren Szenen, bekannten Gesichtern und gemischten Gefühlen – kann durch Frische oder Raffinement gewinnen, durch neu gesehene Details, unbeschriebene Gesten. Gunther Geltinger, Jahrgang 1974, hat sich für einen dritten Weg entschieden: das Aufplustern. Konsequent wird die kleine Geschichte aufgeblasen: die Handlung überinszeniert, die Erzählsituation auffallend arrangiert, der Stil überinstrumentiert.
Engel kennt nicht allein das Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er schläft auch schlecht und meist nicht ohne ein paar Tavor-Tabletten geschluckt zu haben. Er verletzt im Geschäftsgang der Liebe nicht nur andere, er malträtiert auch seinen eigenen Leib. Von Tod und Selbstmord ist ausführlich die Rede. Unter dem großen Spiegel eines Wiener Stricherlokals verfällt Engel dem Brasilianer Tiago. Warum? Weil es so ist. Wozu? Um noch verrückter zu werden.
Die Neigung zu dramatischen, pseudo-allegorischen Effekten stört alle Erzähldramaturgie. In diesem Roman herrscht die Logik der Dekoration, so gewinnen die Figuren keine Konturen. Sie bleiben Statisten in Bildern der Gefühligkeit. Der Schmerz ist bloß behauptet, das Sehnen angelesen. Fast ließe man sich das – als eine Art Operette des Aus-der-Welt-Fallens – gefallen, wäre da nicht der Erzähler, der den Leser im ersten Satz beim Nacken packt und ihn bis zum Letzten nicht aus seinem Würgegriff entlässt. Der Roman „Mensch Engel” erzählt vor allem, wie Engel über sein Erleben schreibt. Das gibt die Lizenz zum Selbstkommentar: Glaubt Engel, der Hilflose, „Fett rascheln zu hören”, weiß Engel, der Erzählende, „dass Fett nicht raschelt” und erklärt, warum der Satz dennoch stehen bleibt.
Er ringt, schreibt er einmal, „nach echten, unverfälschten Worten”. Man liest von diesem Ringen und hofft vergeblich auf Ergebnisse. Geltinger schreibt geläufig, wortreich und rhythmisch ausschwingend. Das hat einlullende Wirkung: „Als er vor einigen Tagen auf der Flucht vor dem Chaos der letzten Jahre in Wien, einem von marzipanfarbenen Kaiserburgen, verträumten Mozartgassen und grünblauen Donauarmen flankierten Moloch aus Einsamkeit, Wahnsinn und Tod, in der Hoffnung, bei seiner Schwester in Grasse vorübergehend ein neues Zuhause zu finden, übermüdet und abgerissen vor ihrer Tür stand, rollte sie nur mit ihren großen Kobaltaugen und seufzte: Noch ein Kind!”
Viele Variationen über Lieb-, Schlaf- und Gefühllosigkeit folgen. Der Leser weiß längst, dass Marius so unrecht nicht hatte, als er zu Engel sagte: „Du bist einer von denen, die einen ficken und dann fallenlassen, stimmt’s?” Über einen solchen Kerl hätte man gern etwas erfahren. Stattdessen wird man mit Behauptungen und Kunstgewerbe abgespeist. Der Rest sind Worte. JENS BISKY
GUNTHER GELTINGER: Mensch Engel. Roman. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2008. 272 Seiten, 19,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Gunther Geltinger sperrt den Leser ins Fühligkeitsgefängnis
Es ist eine alte Geschichte: Ein Jüngling hat die Schulen durchlaufen und muss hinaus in die Welt; das Begehren ist stark, Sex bleibt nicht aus, Enttäuschungen stellen sich ein. Noch fallen Trieb und Neugier in eins, aber kein Erlebnis genügt, befriedigt das Sinnbedürfnis. Das ist allzu bekannt. Und doch liest man immer wieder gern von der Zeit, als die Gegenden hinter dem Fluss viel versprachen und man sich selbst alles zutraute, weil man noch nicht wusste, was man konnte, wer man war. Davon muss immer wieder erzählt werden, glaubt doch jeder beim Aufbruch aus dem Kinderzimmer, Einmaliges zu durchleben.
„Als er wegging über den Fluss”, ist Leonard Engel, der Held des Debütromans von Gunther Geltinger, neunzehn Jahre alt. Er war kurz zuvor noch in Marius verliebt, einen „braun gelockten Jungen mit dem trotzigen und wie mit einem braunroten Federstrich konturierten Lippenschwung”. Sie fanden zueinander, und ehe sie recht wussten, wie ihnen geschieht, entdeckte Leonard den Riss durch die Welt, den Abgrund, über dem menschliches Dasein stattfindet.
Er stößt Marius von sich, wechselt hinfort die Männer und die Wohnorte und wird doch die innere Leere nicht los. Sie bleibt ihm, auch wenn er – zehn Jahre später – an der Seite eines Lehrers so etwas wie Alltagsroutine für seine Unruhe findet, sein Heim der Heimatlosigkeit. Es liegt in Köln.
Dergleichen geschieht regelmäßig. Das etwas abgestandene Sujet – mit voraussehbaren Szenen, bekannten Gesichtern und gemischten Gefühlen – kann durch Frische oder Raffinement gewinnen, durch neu gesehene Details, unbeschriebene Gesten. Gunther Geltinger, Jahrgang 1974, hat sich für einen dritten Weg entschieden: das Aufplustern. Konsequent wird die kleine Geschichte aufgeblasen: die Handlung überinszeniert, die Erzählsituation auffallend arrangiert, der Stil überinstrumentiert.
Engel kennt nicht allein das Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er schläft auch schlecht und meist nicht ohne ein paar Tavor-Tabletten geschluckt zu haben. Er verletzt im Geschäftsgang der Liebe nicht nur andere, er malträtiert auch seinen eigenen Leib. Von Tod und Selbstmord ist ausführlich die Rede. Unter dem großen Spiegel eines Wiener Stricherlokals verfällt Engel dem Brasilianer Tiago. Warum? Weil es so ist. Wozu? Um noch verrückter zu werden.
Die Neigung zu dramatischen, pseudo-allegorischen Effekten stört alle Erzähldramaturgie. In diesem Roman herrscht die Logik der Dekoration, so gewinnen die Figuren keine Konturen. Sie bleiben Statisten in Bildern der Gefühligkeit. Der Schmerz ist bloß behauptet, das Sehnen angelesen. Fast ließe man sich das – als eine Art Operette des Aus-der-Welt-Fallens – gefallen, wäre da nicht der Erzähler, der den Leser im ersten Satz beim Nacken packt und ihn bis zum Letzten nicht aus seinem Würgegriff entlässt. Der Roman „Mensch Engel” erzählt vor allem, wie Engel über sein Erleben schreibt. Das gibt die Lizenz zum Selbstkommentar: Glaubt Engel, der Hilflose, „Fett rascheln zu hören”, weiß Engel, der Erzählende, „dass Fett nicht raschelt” und erklärt, warum der Satz dennoch stehen bleibt.
Er ringt, schreibt er einmal, „nach echten, unverfälschten Worten”. Man liest von diesem Ringen und hofft vergeblich auf Ergebnisse. Geltinger schreibt geläufig, wortreich und rhythmisch ausschwingend. Das hat einlullende Wirkung: „Als er vor einigen Tagen auf der Flucht vor dem Chaos der letzten Jahre in Wien, einem von marzipanfarbenen Kaiserburgen, verträumten Mozartgassen und grünblauen Donauarmen flankierten Moloch aus Einsamkeit, Wahnsinn und Tod, in der Hoffnung, bei seiner Schwester in Grasse vorübergehend ein neues Zuhause zu finden, übermüdet und abgerissen vor ihrer Tür stand, rollte sie nur mit ihren großen Kobaltaugen und seufzte: Noch ein Kind!”
Viele Variationen über Lieb-, Schlaf- und Gefühllosigkeit folgen. Der Leser weiß längst, dass Marius so unrecht nicht hatte, als er zu Engel sagte: „Du bist einer von denen, die einen ficken und dann fallenlassen, stimmt’s?” Über einen solchen Kerl hätte man gern etwas erfahren. Stattdessen wird man mit Behauptungen und Kunstgewerbe abgespeist. Der Rest sind Worte. JENS BISKY
GUNTHER GELTINGER: Mensch Engel. Roman. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2008. 272 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ina Hartwig ist von Gunther Geltingers Debütroman "Mensch Engel" sehr beeindruckt, und das, obwohl sie dem Autor unumwunden beipflichtet, es handele sich um ein "uncooles" Buch. Der Roman ist das Ergebnis einer Selbsterforschung durch den alles Normale verabscheuenden Leonard Engel, der darunter leidet, nicht lieben und nicht schlafen zu können und sich zudem regelmäßig selbst verletzt, erzählt die Rezensentin. Großartig findet sie, wie der Autor Engels Zelebrieren alles "Kaputten" inhaltlich und formal ins Werk setzt und so den Balanceakt zwischen der Psychologie des Helden und der "übergeordneten Poetik" seines Romans meistert. Dabei weist Hartwig darauf hin, dass es Geltinger nicht darum geht, erotische "Räume zu erobern", auch wenn er unerschrocken in einer "grandiosen Szene" Engels Erfahrungen mit dem Stricher Tiago in einer Wiener Schwulenbar ausleuchtet, wie sie applaudiert. Genauso wenig aber versuche der Autor, seinen Helden zu "heilen" und so ist dieser Roman laut der begeisterten Rezensentin ein sehr wahrhaftiges, aber eben auch ein sehr "trauriges Buch" geworden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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