Familie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu feiern: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel Henrik. Wurden Sie Opfer eines Verbrechens? Die scheinbar heile Familienwelt beginnt zu bröckeln - und Kommissar Barbarotti ermittelt ...
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Peter Körtes Begeisterung für Hakan Nessers neuen Kriminalroman hält sich in Grenzen, wie er in seiner Besprechung in der FAZ am Sonntag bekundet. Dabei schätzt er Nesser als den besten Krimi-Autor Schwedens. Ein wenig wehmütig blickt er zurück auf die zehn Romane mit Kommissar Van Vetteren. In "Mensch ohne Hund" tritt ein neuer Kommissar auf, Gunnar Barbarotti. Wie Körte berichtet, ist er geschieden, hat eine 18-jährige Tochter, die bei ihm lebt, und eine Affäre. Wirklich aufregend scheint ihm Barbarotti nicht, ebenso wenig wie der Fall, den er in vorliegendem Roman zu lösen hat. Er bescheinigt dem Autor, seine Geschichte routiniert zu erzählen, die Ermittlungen gekonnt an einen toten Punkt zu treiben. Allerdings ist für Körte das Ende recht absehbar und so langweilt er sich ein wenig, lange bevor es erreicht ist. Wobei er es gelassen nimmt und erklärt, Schlüsse und Lösungen seien nie Nessers größte Stärke gewesen. Bezeichnend findet er es daher auch, dass Nessers seines Erachtens bester Roman, "Kim Novak badete nie im See von Genezareth", auch keine klassische Kriminalgeschichte sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2007Wo nur die Toten aussteigen
Håkan Nessers Roman „Mensch ohne Hund” ist mehr als ein Krimi
Im Sommer 2007 hatte Håkan Nessers Kommissar van Weteren seinen letzten Auftritt im deutschen Fernsehen. Der neue Nesser-Kommissar taucht in „Mensch ohne Hund” zum ersten Mal, und zwar erst auf Seite 193, auf. Ihn bringt ein lapidarer Satz zum Leben: „Inspektor Gunnar Barbarotti hätte auch ebenso gut Giuseppe Larsson heißen können.” Womit klar ist, dass es bei Nesser auf den Kommissar weniger ankommt als zum Beispiel auf Wallander bei Mankell. Dass der neue Roman unter anderem auch mit halb aufgeklärten Verbrechen zu tun hat und deswegen die Polizei darin auftaucht, ist noch kein Grund, ihn als Kriminalroman zu bezeichnen und damit in die zur Zeit bekannteste skandinavische Literaturschublade der deutschsprachigen Rezeption zu versenken.
Spielten einige frühere Nesser-Romane in einem abstrakt-nebligen Holland, so ist der Schauplatz Kymlinge im neuen Roman eindeutig Schweden: Eindeutiger schwedische Kleinstadt, irgendwo an der Westküste, geht kaum. Dass der Ort nicht real existiert, darauf macht der Verfasser vorbemerkend aufmerksam. Und verschweigt etwas, was in Schweden viele wissen: Kymlinge ist eine real geplante und nie fertiggestellte U-Bahnstation in Stockholm, zwischen den Stationen Hallonberga und Kista gelegen. In den achtziger Jahren redete man in Schweden im Zusammenhang mit Kymlinge auch von Geisterzügen – „dort steigen nur die Toten aus”, sagte man.
Familienfest bei Hermanssons: Der Lehrervater Karl Erik wird kurz vor Weihnachten 65 und pensioniert. Mama Rosemarie, 63, unterrichtet Handarbeit und Deutsch und hat eigentlich keine Lust, dem Spanienfimmel ihres Mannes zu folgen und mit ihm dorthin zu ziehen. Ein Geburtstags- und Pensionierungsfest ist seit langem angesetzt, die Kinder (Ebba, Kristina, Walter) mit den Enkelkindern (Henrik, Kristoffer, Kelvin) werden kommen, die älteste Tochter Ebba hat am gleichen Tag Geburtstag, und halb Kymlinge soll ebenfalls dabei sein. Der Sohn Walter, erfolgloser Schriftsteller und auch sonst nicht vom Schicksal verwöhnt, ist jedoch ein Problem: Er hat im Herbst bei einer schwedischen Doku-Soap mitgemacht und ist nach einer Folge in ganz Schweden über Nacht als „Wichs-Walter” in allen Medien peinlich bekannt (schöne Übertragung: der schwedische „Runk-Robert” muss auf deutsch mit W anfangen). Also wird ein eher stilles Fest im Familienkreis anberaumt.
Gemordeter Mörder
Am Abend vor dem Fest gehen alle nett und sorgsam miteinander um. Die meisten ziehen sich zeitig zum Schlafen zurück, Walter macht noch einen Spaziergang. Die letzten, die ihn sehen, sind seine Schwester Kristina und Ebbas Sohn Henrik. Die sind in einem klassischen Wunderbare-Tante-berät-sensiblen-Neffen-Gespräch vertieft. Walter kommt nicht zurück, am nächsten Abend verschwindet Henrik. Monate später wird Walters Leiche gefunden, was mit ihm passiert ist, bleibt unaufgeklärt. Henriks Tod wird aufgeklärt, sein Mörder gemordet – und insgesamt verführt die Lektüre zu der Einsicht, dass die Familie Quell alles Unangenehmen ist.
Der Roman bietet aber auch andere Themenstränge – so den Umzug der beiden alten Hermanssons nach Spanien und die Entdeckung des Sherrys durch Rosemarie. Oder das Burn-Out-Syndrom einer chirurgischen Oberärztin. Inspektor Barbarotti ist eher eine Randfigur. Er hat aber eine bemerkenswerte Abmachung mit Gott, um empirisch-quantitativ dessen Existenz nachzuweisen. So ist er einer, der auch zusehen muss, dass er das alte Spiel von Zufall und Notwendigkeit ordentlich auf die Reihe kriegt. STEPHAN OPITZ
HÅKAN NESSER: Mensch ohne Hund. Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2007. 542 S., 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Håkan Nessers Roman „Mensch ohne Hund” ist mehr als ein Krimi
Im Sommer 2007 hatte Håkan Nessers Kommissar van Weteren seinen letzten Auftritt im deutschen Fernsehen. Der neue Nesser-Kommissar taucht in „Mensch ohne Hund” zum ersten Mal, und zwar erst auf Seite 193, auf. Ihn bringt ein lapidarer Satz zum Leben: „Inspektor Gunnar Barbarotti hätte auch ebenso gut Giuseppe Larsson heißen können.” Womit klar ist, dass es bei Nesser auf den Kommissar weniger ankommt als zum Beispiel auf Wallander bei Mankell. Dass der neue Roman unter anderem auch mit halb aufgeklärten Verbrechen zu tun hat und deswegen die Polizei darin auftaucht, ist noch kein Grund, ihn als Kriminalroman zu bezeichnen und damit in die zur Zeit bekannteste skandinavische Literaturschublade der deutschsprachigen Rezeption zu versenken.
Spielten einige frühere Nesser-Romane in einem abstrakt-nebligen Holland, so ist der Schauplatz Kymlinge im neuen Roman eindeutig Schweden: Eindeutiger schwedische Kleinstadt, irgendwo an der Westküste, geht kaum. Dass der Ort nicht real existiert, darauf macht der Verfasser vorbemerkend aufmerksam. Und verschweigt etwas, was in Schweden viele wissen: Kymlinge ist eine real geplante und nie fertiggestellte U-Bahnstation in Stockholm, zwischen den Stationen Hallonberga und Kista gelegen. In den achtziger Jahren redete man in Schweden im Zusammenhang mit Kymlinge auch von Geisterzügen – „dort steigen nur die Toten aus”, sagte man.
Familienfest bei Hermanssons: Der Lehrervater Karl Erik wird kurz vor Weihnachten 65 und pensioniert. Mama Rosemarie, 63, unterrichtet Handarbeit und Deutsch und hat eigentlich keine Lust, dem Spanienfimmel ihres Mannes zu folgen und mit ihm dorthin zu ziehen. Ein Geburtstags- und Pensionierungsfest ist seit langem angesetzt, die Kinder (Ebba, Kristina, Walter) mit den Enkelkindern (Henrik, Kristoffer, Kelvin) werden kommen, die älteste Tochter Ebba hat am gleichen Tag Geburtstag, und halb Kymlinge soll ebenfalls dabei sein. Der Sohn Walter, erfolgloser Schriftsteller und auch sonst nicht vom Schicksal verwöhnt, ist jedoch ein Problem: Er hat im Herbst bei einer schwedischen Doku-Soap mitgemacht und ist nach einer Folge in ganz Schweden über Nacht als „Wichs-Walter” in allen Medien peinlich bekannt (schöne Übertragung: der schwedische „Runk-Robert” muss auf deutsch mit W anfangen). Also wird ein eher stilles Fest im Familienkreis anberaumt.
Gemordeter Mörder
Am Abend vor dem Fest gehen alle nett und sorgsam miteinander um. Die meisten ziehen sich zeitig zum Schlafen zurück, Walter macht noch einen Spaziergang. Die letzten, die ihn sehen, sind seine Schwester Kristina und Ebbas Sohn Henrik. Die sind in einem klassischen Wunderbare-Tante-berät-sensiblen-Neffen-Gespräch vertieft. Walter kommt nicht zurück, am nächsten Abend verschwindet Henrik. Monate später wird Walters Leiche gefunden, was mit ihm passiert ist, bleibt unaufgeklärt. Henriks Tod wird aufgeklärt, sein Mörder gemordet – und insgesamt verführt die Lektüre zu der Einsicht, dass die Familie Quell alles Unangenehmen ist.
Der Roman bietet aber auch andere Themenstränge – so den Umzug der beiden alten Hermanssons nach Spanien und die Entdeckung des Sherrys durch Rosemarie. Oder das Burn-Out-Syndrom einer chirurgischen Oberärztin. Inspektor Barbarotti ist eher eine Randfigur. Er hat aber eine bemerkenswerte Abmachung mit Gott, um empirisch-quantitativ dessen Existenz nachzuweisen. So ist er einer, der auch zusehen muss, dass er das alte Spiel von Zufall und Notwendigkeit ordentlich auf die Reihe kriegt. STEPHAN OPITZ
HÅKAN NESSER: Mensch ohne Hund. Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2007. 542 S., 19,95 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2007Warum wir das Morden im Norden lieben
Unter den schwedischen Krimi-Exporten ist Håkan Nesser wohl der beste Schriftsteller. Nun hat er einen neuen Kommissar erfunden, der in "Mensch ohne Hund" zum ersten Mal ermittelt
Es gibt dort oben ja entschieden zu viele Mücken im Sommer, im Winter herrschen Dunkelheit und arktische Kälte, welche die Menschen in tiefste Schwermut treiben wie in den Filmen Ingmar Bergmans; auch sind in Deutschland nur wenige der Landessprache mächtig, und dennoch ist da eine große Gemeinde für alles Schwedische, nicht erst, seit wir dort auch Königin sind, lange bevor wir in Rom Papst waren. Wir leben zwischen Tischen, Sesseln und Lampen, die auf besonders nordische Namen hören. Und was den Kindern seit Jahrzehnten Astrid Lindgren ist, das sind den Erwachsenen schwedische Krimiautoren. Das Paar Sjöwall/Wahlöö hatte bis in die neunziger Jahre hinein eine Art Monopol für seine marxistisch inspirierten Romane, weil sonst kaum jemand Krimis schrieb, dann tauchte Henning Mankell auf, es kamen Leif GW Persson, Liza Marklund, Helene Tursten und Håkan Nesser. In Schweden erscheinen mittlerweile jährlich mehr als fünfzig Kriminalromane, was bei einem Land mit rund neun Millionen Einwohnern rekordverdächtig ist.
Warum das Morden im Norden so attraktiv ist, ob es an den depressiven, mürrischen Kommissaren mit ihren Gewichts- und Eheproblemen liegt, ob da eine geheime deutsch-schwedische Seelenverwandtschaft ist, die Geschichten von düsteren Verbrechen und hellen Kiefernmöbeln zu Bestsellern macht, das ist schwer zu sagen; wohingegen es ziemlich leicht zu verstehen ist, warum künstliche Paradiese wie Bullerbü und Lönneberga oder die Einödbauernidylle des alten Pettersson und seines Katers Findus auch von Erwachsenen gerne besucht werden. Wie das beides zusammenpasst, die oft tödliche Gemütsschwere und die unbeschwerte Kindheit, das hat uns bisher kein schwedischer Krimiautor erklären können.
Auch der Bestsellerautor Håkan Nesser nicht, der sicher der beste Schriftsteller unter den bei uns bekannten Schweden ist und der interessantere Charaktere erfunden hat, als es, nur zum Beispiel, Mankells sozialdemokratisierter Kurt Wallander ist. Der 57-jährige Nesser ist ein Spätstarter. Mit 38 hat er seinen ersten Roman veröffentlicht. Vorher war er Gymnasiallehrer, und wenn die Schüler Aufsätze schrieben, schrieb er an einem Manuskript. Irgendwann konnte er dann in Ruhe zu Hause arbeiten, und seit 1988 hat er daher zwanzig Bücher publiziert, die durchweg komplexer und literarisch ambitionierter sind als die Arbeiten anderer Vielschreiber.
Einige seiner Romane aus der Serie um Kommissar Van Veeteren sind, wie die Romane vom Kollegen Mankell, längst vom Fernsehen verfilmt worden, wobei sie da schwedischer aussehen, als sie es auf den Buchseiten sind, was womöglich auch die Idiotie erklärt, mit der die "Bild am Sonntag" Nessers "Schweden-Krimis" preist und der Verlag das artig auf dem Buchumschlag nachdruckt, obwohl sich Håkan Nesser schon etwas dabei gedacht haben wird, als er für die Van-Veeteren-Dekalogie Städte, Dörfer und Kneipen in einem namenlosen Land errichtete und sie so benannte, dass alles sehr niederländisch klingt.
Die Orte heißen Maardam oder Kaalbringen, es gibt Gulden, Hausboote und Kanäle, nur von Schären, Holzhäusern oder Smörgåsbord ist nicht die Rede. "Die Landschaft in einem Roman", hat Nesser gesagt, "ist so wichtig, dass man es nicht der Natur überlassen kann, sie zu schaffen." Und wer nicht in Van Veeteren das Echo des Krimikollegen van de Wetering hört, dem ist sowieso nicht zu helfen.
Auch Van Veeteren hat natürlich familiäre Probleme, er lässt sich scheiden, er verliert einen Sohn, und er hat sich, wie jeder Serienheld, in einer Welt voller Echos, Querverweise und Motive eingerichtet, die nicht einfach Wiederholungen sind, sondern denen man sofort anmerkt, dass sie dem fortlaufenden Ausbau eines fiktionalen Universums dienen. Spätestens als "Sein letzter Fall" erschien, war da jedoch das Gefühl, Van Veeteren habe sich überlebt, weil die Bücher immer selbstbezüglicher geworden waren, und man kann, auch wenn die Geschichte sich nicht schlecht liest, behaupten, dass die Basisidee aus Hitchcocks Film "Vertigo" beziehungsweise dem Roman von Boileau/Narcejac importiert und für die Van-Veeteren-Welt ein wenig variiert wurde.
Nach zehn Büchern hatte Nesser dann offenbar genug, fünf Romane hatte Van Veeteren ohnehin schon nicht mehr im Polizeidienst, sondern als Antiquar verbracht; das ewige Schachspielen, die ewigen Eheprobleme, die immer gleiche Interaktion mit den Inspektoren hatten sich erschöpft. Obwohl es natürlich immer eine Double-bind-Beziehung gibt: Leser wollen ihren vertrauten Helden haben, um sich dann hinterher leise zu beschweren, viel Neues gebe es da ja nicht.
Vielleicht war es deshalb auch nicht Håkan Nessers zwingendste Idee, sich gleich einen neuen Serienhelden zu suchen, der Gunnar Barbarotti heißt, weil er einer früh gescheiterten schwedisch-italienischen Ehe entstammt, dessen Dienst allerdings von vornherein auf vier Bücher befristet ist. Auf Schwedisch gibt es bereits zwei, auf Deutsch bislang nur das erste. Es heißt "Mensch ohne Hund", und es stellt die Familie Hermansson, um die es geht, fast ein wenig lieblos vor uns hin: ein pensioniertes Lehrerehepaar, der Mann kaum mehr als eine Steißtrommler-Karikatur, drei erwachsene Kinder, zwei Schwiegersöhne, drei Enkel. Und es mag Nesser ja vorgeschwebt haben, die Mordfälle als Katalysator familiärer Krisen zu benutzen, doch dazu hätte es ein bisschen mehr Sorgfalt im Detail gebraucht.
Die Ausgangskonstellation allerdings ist klassisch. Barbarotti beschreibt sie so: "Wir haben zwei Personen, einen Onkel und einen Neffen. Gemeinsam mit einigen Verwandten kommen sie ein paar Tage vor Weihnachten zusammen, um ein Familienfest zu feiern. In der ersten Nacht verschwindet der Onkel spurlos. In der nächsten Nacht verschwindet der Neffe spurlos. Warum?"
Das ist gut und klar und richtig. Aber es muss einen eben auch der Mann interessieren, der eine Antwort auf das Warum finden soll. Dass Barbarotti eine Art private Punkteliste mit Gott führt, deren Schlussbilanz seine Existenz oder Nicht-Existenz beweisen soll, ist im Vergleich zum Agnostiker Van Veeteren eine Neuerung - aber keine, die einen übermäßig reizte. Ansonsten ist auch Gunnar Barbarotti geschieden, er hat eine heiße Affäre und eine 18-jährige Tochter, die bei ihm lebt, im fiktiven schwedischen Städtchen Kymlinge, von wo aus man in reale Städte wie Stockholm oder Uppsala fahren kann.
Nesser benutzt ein bewährtes Verfahren, um die Spannung zu schüren, die Vermutungen des Lesers zu enttäuschen und ihn genau dadurch zu fesseln. Es ist, als stieße jeder Ermittlungsschritt gegen eine unsichtbare Wand, an der alle Spuren enden. Das Entscheidende an solchen unlösbar erscheinenden Rätselaufgaben jedoch ist: Wie kommt man hinaus, ohne sich an Logik und Wahrscheinlichkeit zu vergehen oder willkürliche Volten zu schlagen, die einen Täter präsentieren, mit dem niemand hat rechnen können?
Nesser schafft es mit Geschick und Routine, die Ermittlungen an den toten Punkt zu führen - allerdings nur für den Kommissar, wohingegen er für den Leser in einzelnen Kapiteln Informationen einstreut, welche der Kommissar nicht hat, die das Ganze jedoch auf ein sehr absehbares Ende zutreiben lassen. Und wie der Kommissar dann die Fäden entwirrt, ist auch nicht mehr allzu aufregend. Denn auch retardierende Momente sind eine Frage präzisen Timings, oder simpler gesagt: Braucht der Mann zu lange, ist die Luft raus. Und so ist man weit vorm Ende von "Mensch ohne Hund" auch ein Leser ohne Spannung.
Aber Schlüsse und Lösungen waren nie Nessers Stärke. Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, dass sein bestes Buch keine klassische Kriminalgeschichte ist. In "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" (1998) passiert zwar ein Mord, doch er wird nicht wirklich aufgeklärt. Das Buch mit dem etwas angestrengten Titel ist eine wunderbare Coming-of-age-Geschichte, eine Erzählung von den letzten Tagen der Kindheit in den sechziger Jahren. Sie erzählt von Erik und Edmund, die den langen Sommer an einem schwedischen See verbringen und tun, was man in einem solchen Sommer eben tut: baden, dösen, reden, lesen, zeichnen, von unerreichbaren Frauen träumen wie Ewa, der Freundin von Eriks älterem Bruder - und Verlobten eines lokalen Handballstars, der ermordet aufgefunden wird.
Erik ist ein sympathischer, wenngleich nur bedingt zuverlässiger Ich-Erzähler, und genau das gibt dem Buch seinen lakonischen, melancholischen und geheimnisvollen Ton - bis zum Schluss, der das Gefühl eines Verlusts eben nicht in einer sauberen Gleichung aufgehen lässt.
PETER KÖRTE
Håkan Nesser: "Mensch ohne Hund". Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb-Verlag, 544 Seiten, 19,95 Euro. Auch die übrigen Bücher von Håkan Nesser sind bei btb erschienen. Die sechs Fernsehfilme nach Romanen von Nesser sind auf DVD erhältlich (bei Galileo Medien AG).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unter den schwedischen Krimi-Exporten ist Håkan Nesser wohl der beste Schriftsteller. Nun hat er einen neuen Kommissar erfunden, der in "Mensch ohne Hund" zum ersten Mal ermittelt
Es gibt dort oben ja entschieden zu viele Mücken im Sommer, im Winter herrschen Dunkelheit und arktische Kälte, welche die Menschen in tiefste Schwermut treiben wie in den Filmen Ingmar Bergmans; auch sind in Deutschland nur wenige der Landessprache mächtig, und dennoch ist da eine große Gemeinde für alles Schwedische, nicht erst, seit wir dort auch Königin sind, lange bevor wir in Rom Papst waren. Wir leben zwischen Tischen, Sesseln und Lampen, die auf besonders nordische Namen hören. Und was den Kindern seit Jahrzehnten Astrid Lindgren ist, das sind den Erwachsenen schwedische Krimiautoren. Das Paar Sjöwall/Wahlöö hatte bis in die neunziger Jahre hinein eine Art Monopol für seine marxistisch inspirierten Romane, weil sonst kaum jemand Krimis schrieb, dann tauchte Henning Mankell auf, es kamen Leif GW Persson, Liza Marklund, Helene Tursten und Håkan Nesser. In Schweden erscheinen mittlerweile jährlich mehr als fünfzig Kriminalromane, was bei einem Land mit rund neun Millionen Einwohnern rekordverdächtig ist.
Warum das Morden im Norden so attraktiv ist, ob es an den depressiven, mürrischen Kommissaren mit ihren Gewichts- und Eheproblemen liegt, ob da eine geheime deutsch-schwedische Seelenverwandtschaft ist, die Geschichten von düsteren Verbrechen und hellen Kiefernmöbeln zu Bestsellern macht, das ist schwer zu sagen; wohingegen es ziemlich leicht zu verstehen ist, warum künstliche Paradiese wie Bullerbü und Lönneberga oder die Einödbauernidylle des alten Pettersson und seines Katers Findus auch von Erwachsenen gerne besucht werden. Wie das beides zusammenpasst, die oft tödliche Gemütsschwere und die unbeschwerte Kindheit, das hat uns bisher kein schwedischer Krimiautor erklären können.
Auch der Bestsellerautor Håkan Nesser nicht, der sicher der beste Schriftsteller unter den bei uns bekannten Schweden ist und der interessantere Charaktere erfunden hat, als es, nur zum Beispiel, Mankells sozialdemokratisierter Kurt Wallander ist. Der 57-jährige Nesser ist ein Spätstarter. Mit 38 hat er seinen ersten Roman veröffentlicht. Vorher war er Gymnasiallehrer, und wenn die Schüler Aufsätze schrieben, schrieb er an einem Manuskript. Irgendwann konnte er dann in Ruhe zu Hause arbeiten, und seit 1988 hat er daher zwanzig Bücher publiziert, die durchweg komplexer und literarisch ambitionierter sind als die Arbeiten anderer Vielschreiber.
Einige seiner Romane aus der Serie um Kommissar Van Veeteren sind, wie die Romane vom Kollegen Mankell, längst vom Fernsehen verfilmt worden, wobei sie da schwedischer aussehen, als sie es auf den Buchseiten sind, was womöglich auch die Idiotie erklärt, mit der die "Bild am Sonntag" Nessers "Schweden-Krimis" preist und der Verlag das artig auf dem Buchumschlag nachdruckt, obwohl sich Håkan Nesser schon etwas dabei gedacht haben wird, als er für die Van-Veeteren-Dekalogie Städte, Dörfer und Kneipen in einem namenlosen Land errichtete und sie so benannte, dass alles sehr niederländisch klingt.
Die Orte heißen Maardam oder Kaalbringen, es gibt Gulden, Hausboote und Kanäle, nur von Schären, Holzhäusern oder Smörgåsbord ist nicht die Rede. "Die Landschaft in einem Roman", hat Nesser gesagt, "ist so wichtig, dass man es nicht der Natur überlassen kann, sie zu schaffen." Und wer nicht in Van Veeteren das Echo des Krimikollegen van de Wetering hört, dem ist sowieso nicht zu helfen.
Auch Van Veeteren hat natürlich familiäre Probleme, er lässt sich scheiden, er verliert einen Sohn, und er hat sich, wie jeder Serienheld, in einer Welt voller Echos, Querverweise und Motive eingerichtet, die nicht einfach Wiederholungen sind, sondern denen man sofort anmerkt, dass sie dem fortlaufenden Ausbau eines fiktionalen Universums dienen. Spätestens als "Sein letzter Fall" erschien, war da jedoch das Gefühl, Van Veeteren habe sich überlebt, weil die Bücher immer selbstbezüglicher geworden waren, und man kann, auch wenn die Geschichte sich nicht schlecht liest, behaupten, dass die Basisidee aus Hitchcocks Film "Vertigo" beziehungsweise dem Roman von Boileau/Narcejac importiert und für die Van-Veeteren-Welt ein wenig variiert wurde.
Nach zehn Büchern hatte Nesser dann offenbar genug, fünf Romane hatte Van Veeteren ohnehin schon nicht mehr im Polizeidienst, sondern als Antiquar verbracht; das ewige Schachspielen, die ewigen Eheprobleme, die immer gleiche Interaktion mit den Inspektoren hatten sich erschöpft. Obwohl es natürlich immer eine Double-bind-Beziehung gibt: Leser wollen ihren vertrauten Helden haben, um sich dann hinterher leise zu beschweren, viel Neues gebe es da ja nicht.
Vielleicht war es deshalb auch nicht Håkan Nessers zwingendste Idee, sich gleich einen neuen Serienhelden zu suchen, der Gunnar Barbarotti heißt, weil er einer früh gescheiterten schwedisch-italienischen Ehe entstammt, dessen Dienst allerdings von vornherein auf vier Bücher befristet ist. Auf Schwedisch gibt es bereits zwei, auf Deutsch bislang nur das erste. Es heißt "Mensch ohne Hund", und es stellt die Familie Hermansson, um die es geht, fast ein wenig lieblos vor uns hin: ein pensioniertes Lehrerehepaar, der Mann kaum mehr als eine Steißtrommler-Karikatur, drei erwachsene Kinder, zwei Schwiegersöhne, drei Enkel. Und es mag Nesser ja vorgeschwebt haben, die Mordfälle als Katalysator familiärer Krisen zu benutzen, doch dazu hätte es ein bisschen mehr Sorgfalt im Detail gebraucht.
Die Ausgangskonstellation allerdings ist klassisch. Barbarotti beschreibt sie so: "Wir haben zwei Personen, einen Onkel und einen Neffen. Gemeinsam mit einigen Verwandten kommen sie ein paar Tage vor Weihnachten zusammen, um ein Familienfest zu feiern. In der ersten Nacht verschwindet der Onkel spurlos. In der nächsten Nacht verschwindet der Neffe spurlos. Warum?"
Das ist gut und klar und richtig. Aber es muss einen eben auch der Mann interessieren, der eine Antwort auf das Warum finden soll. Dass Barbarotti eine Art private Punkteliste mit Gott führt, deren Schlussbilanz seine Existenz oder Nicht-Existenz beweisen soll, ist im Vergleich zum Agnostiker Van Veeteren eine Neuerung - aber keine, die einen übermäßig reizte. Ansonsten ist auch Gunnar Barbarotti geschieden, er hat eine heiße Affäre und eine 18-jährige Tochter, die bei ihm lebt, im fiktiven schwedischen Städtchen Kymlinge, von wo aus man in reale Städte wie Stockholm oder Uppsala fahren kann.
Nesser benutzt ein bewährtes Verfahren, um die Spannung zu schüren, die Vermutungen des Lesers zu enttäuschen und ihn genau dadurch zu fesseln. Es ist, als stieße jeder Ermittlungsschritt gegen eine unsichtbare Wand, an der alle Spuren enden. Das Entscheidende an solchen unlösbar erscheinenden Rätselaufgaben jedoch ist: Wie kommt man hinaus, ohne sich an Logik und Wahrscheinlichkeit zu vergehen oder willkürliche Volten zu schlagen, die einen Täter präsentieren, mit dem niemand hat rechnen können?
Nesser schafft es mit Geschick und Routine, die Ermittlungen an den toten Punkt zu führen - allerdings nur für den Kommissar, wohingegen er für den Leser in einzelnen Kapiteln Informationen einstreut, welche der Kommissar nicht hat, die das Ganze jedoch auf ein sehr absehbares Ende zutreiben lassen. Und wie der Kommissar dann die Fäden entwirrt, ist auch nicht mehr allzu aufregend. Denn auch retardierende Momente sind eine Frage präzisen Timings, oder simpler gesagt: Braucht der Mann zu lange, ist die Luft raus. Und so ist man weit vorm Ende von "Mensch ohne Hund" auch ein Leser ohne Spannung.
Aber Schlüsse und Lösungen waren nie Nessers Stärke. Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, dass sein bestes Buch keine klassische Kriminalgeschichte ist. In "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" (1998) passiert zwar ein Mord, doch er wird nicht wirklich aufgeklärt. Das Buch mit dem etwas angestrengten Titel ist eine wunderbare Coming-of-age-Geschichte, eine Erzählung von den letzten Tagen der Kindheit in den sechziger Jahren. Sie erzählt von Erik und Edmund, die den langen Sommer an einem schwedischen See verbringen und tun, was man in einem solchen Sommer eben tut: baden, dösen, reden, lesen, zeichnen, von unerreichbaren Frauen träumen wie Ewa, der Freundin von Eriks älterem Bruder - und Verlobten eines lokalen Handballstars, der ermordet aufgefunden wird.
Erik ist ein sympathischer, wenngleich nur bedingt zuverlässiger Ich-Erzähler, und genau das gibt dem Buch seinen lakonischen, melancholischen und geheimnisvollen Ton - bis zum Schluss, der das Gefühl eines Verlusts eben nicht in einer sauberen Gleichung aufgehen lässt.
PETER KÖRTE
Håkan Nesser: "Mensch ohne Hund". Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb-Verlag, 544 Seiten, 19,95 Euro. Auch die übrigen Bücher von Håkan Nesser sind bei btb erschienen. Die sechs Fernsehfilme nach Romanen von Nesser sind auf DVD erhältlich (bei Galileo Medien AG).
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