»Die Menschen können sich heute eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen«, lautet ein oft zitierter Befund. Alexandra Schauer geht dieser spätmodernen Malaise in ihrem überaus materialreichen Buch auf den Grund. In drei historischen Rekonstruktionsbewegungen zeigt sie am Wandel der Zeiterfahrung, der Öffentlichkeit und der Stadt, wie es kam, dass die Welt als Ort wechselseitiger Verständigung und gemeinsamen Handelns an Bedeutung und die für die politische Moderne einst so zentrale Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft an Strahlkraft eingebüßt hat. Das hat schwerwiegende Konsequenzen für das vergesellschaftete Individuum der Gegenwart, das sich in der von ihm hervorgebrachten Wirklichkeit nicht mehr aus- und wiedererkennt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2023Dahintreibend in einer breiten Gegenwart
Wenn schon Verfallsgeschichte, dann richtig: Alexandra Schauer zieht alle Register, um die Fatalität der modernen Welt zu beleuchten
Mit ihrer kolossalen Gegenwartskritik "Mensch ohne Welt" ruft die Frankfurter Soziologin Alexandra Schauer nach der Risiko-, Erlebnis-, Informations- und Empörungs-Gesellschaft nun so etwas wie die Epoche des Verschwindens aus. In drei Themenblöcken über Zeiterfahrung und Geschichte, Öffentlichkeit und Markt sowie über Stadt und Gesellschaft warnt sie vor der zerstörerischen Raum-Zeit-Kompression durch die Augenblicksorientierung der Moderne, in der alles Stehende verdampft.
Schauers Nachrichten aus dem Jammertal sind niederschmetternd: Die Menschen der Spätmoderne hätten sich von der Welt der kollektiven Selbstverständigung und politischen Gesellschaftsgestaltung verabschiedet; sie lebten in einem "omnipräsenten Hier und Jetzt" ohne Vergangenheitsbezug und ohne Zukunftshoffnungen; ihre desorganisierte Zeiterfahrung erzeuge eine immer dominantere, breite Gegenwart, in der "Geschichte in die Gleichzeitigkeit historischer Fragmente zerfällt" und "Zukunft beständig wie ein Unfall in die Gegenwart einbricht"; angesichts unkalkulierbarer Risiken und Angstszenarios zögen sich die Menschen ins grenzenlos gewordene Private zurück und übten Selbstoptimierung anstelle von Weltverbesserung. Sie litten nicht mehr an den Entsagungen der Disziplinargesellschaft, sondern am Versagen bei der Verfehlung ihrer Ich-Ideale.
Die Autorin beschreibt, wie der "weiche" Kapitalismus mit seinen vagabundierenden Finanz-, Arbeits- und auch sozialen Beziehungsmärkten das Selbst- und Weltverhältnis heutiger Menschen von innen her umkrempelt. Sie thematisiert einen modernen "Riss in der Zeiterfahrung", den sie nacheinander mit Kosellecks "Erfahrungsraum und Erwartungshorizont", Blumenbergs "Lebenszeit und Weltzeit" und Musils "Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn" belegt. Seit 1800 waren diese Pole auseinandergeflogen, und heute verschmölzen sie zu einer diffusen Allgegenwart, in der den bindungslosen und desorientierten Menschen die Welt abhandengekommen sei.
Damit meint die Autorin freilich nicht das Liebeslied Friedrich Rückerts ("Ich bin der Welt abhandengekommen"), sondern das Buch "Mensch ohne Welt" von Günther Anders, der 1984 schrieb, dass die Welt nicht mehr den Menschen gehört, die sie produziert haben. Für Schauer ging dieser Entfremdung der lange Frieden der mythischen Schicksalszeit und der steten Wiederholung des christlichen Heilsgeschehens im Kirchenjahr voraus, bis in der Moderne die chronologische Fortschrittsorientierung und Zeitdressur mittels Messung und Synchronisierung alle Ordnungsmuster auf den Kopf stellten.
Mit seltsamer Industrie-Nostalgie sieht Schauer die Welt noch bis zum Feierabend-Pfiff der Fabriksirene zufrieden im Takt des kollektiven Fortschritts marschieren. Doch mit der Flexibilisierung der Zeitwahrnehmung, die die Autorin spitzfindig im Verschwinden öffentlicher Uhren und dem Gebrauch digitaler Quarzuhren an jedem Handgelenk festmacht, verwandelten sich die einst pünktlichen Lohnarbeiter in zeitjonglierende Spieler ohne Feierabend, die keinem Lebensplan mehr folgen, sondern situativ agieren.
Diese vermeintliche "Zeitautonomie" führe aber im "leichten Kapitalismus" der postfordistischen Spätmoderne zu Bastelbiographien radikal kreativer, selbstoptimierter, flexibler Ich-Unternehmer, die nur noch "ziellos dahintreiben" und im Handy-"Snapshot" ihr letztes Ordnungsmodell finden. Weil den Leuten die eigene Zukunft entgleitet, kehrt laut der Autorin "der zerbrochene Pfeil der Zeit über den spätmodernen Umweg zur vormodernen Schicksalhaftigkeit zurück". Das ist immerhin noch beste Frankfurter Schule, allerdings ohne jede emanzipatorische Perspektive.
Ähnlich verfallsgeschichtlich urteilt die Autorin über die Entstehung von Öffentlichkeit. Im Marktgeschehen sieht sie zutreffend den Kern der Entgrenzung des Privaten ins Öffentliche, aber nicht als sozialen Urknall, sondern als Sündenfall. Das ist Schauers zentrales Narrativ: die Privatisierung von Gott und der Welt. So münde die heutige Ökonomie in multiple, undurchschaubare Privatverhältnisse, angetrieben von technokratischen Eliten, die angeblich alternativlose Entscheidungen ohne politische Konsensfindung durchboxten. So etwas kann nur schreiben, wer die Existenz von Parlamenten, Parteien und Podien ignoriert, auf deren Knochenarbeit alle Meinungs- und Entscheidungsbildung aufbaut.
Ähnlich alltagsfern ist Schauers alarmistische Auffassung der neueren Weltwirtschaft. Die kapitalistische "Restrukturierung und Finanzialisierung" ersetze langfristige Gewinnbeteiligungen durch kurzfristige Aktionärsprofite. Billionenwerte würden zur Ausbeute "ungewisser Zukunftserwartungen" immer zerstörerischer um den Globus gejagt. So verschwinde die Logik des kollektiven Schadensausgleichs früherer "Versicherungsgesellschaften" zugunsten spätmoderner "Risikogesellschaften", die alle Verluste individualisieren und öffentliche durch private Vorsorge ersetzen. Aber Schauer verliert kein Wort darüber, dass trotz dieser Höllenwirtschaft weltweit Hunger, Armut und Sterblichkeit signifikant gesunken sind.
Durchweg vertraut die Autorin auf den Kampfbegriff "neoliberal". Das deregulierte neoliberale "Marktdiktat" sei im Kern ein "autoritärer Kapitalismus", wie er angeblich erstmals von Pinochet in Chile 1973 eingesetzt wurde und heute in den autoritären Systemen Chinas, Russlands und der Türkei floriert. In Wahrheit aber stammt die neoliberale Auffassung aus der europäischen Zwischenkriegszeit, als internationale Ökonomen den absterbenden Laissez-faire-Liberalismus mit neuen Regulierungen gegen den aufkommenden Totalitarismus stärken wollten - nicht um die Einzelnen des Schutzes durch den Staat zu berauben, sondern um ihre persönliche Freiheit vor staatsterroristischen Eingriffen zu schützen, und zwar mit harter ordoliberaler Hand.
Der dritte Themenblock über die Stadt als Brennpunkt aller spätmodernen Verwerfungen schildert das Elend früher Industriestädte, dann die bürgerlich-liberalen bis sozialistischen Reformen von Paris, Wien und Berlin, um schließlich bei der sozialen Polarisierung von egoistischen "gated communities" und "edge cities" in Amerika zu landen. Das ist reine Fleißarbeit, die nichts von der ungeheuren zivilisatorischen Kraft der Verstädterung weiß.
Im Epilog schreibt die Autorin, was sie antreibt: "Die Überzeugung, dass die Welt, so wie sie ist, nicht sein sollte". Daher möchte sie andere Zukünfte denken, wie sie die Arbeiterbewegung und die modernen Sozialreformer mit ihrer Liebe zur Utopie ersannen. Dagegen wüsste man am Ende dieser von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie preisgekrönten Arbeit gern, ob nicht auch die Selbststeigerungen und Instant-Erlösungen der weltlosen Augenblicks-Generationen seit 1800 zu einer enormen Verbreiterung der Gegenwart mit großen Freiheitsgewinnen beigetragen haben. Deren Lebensqualität muss aber eine weniger defizitorientierte soziologische Krisenwissenschaft erst noch beschreiben. MICHAEL MÖNNINGER
Alexandra Schauer: "Mensch ohne Welt". Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 704 S., Abb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn schon Verfallsgeschichte, dann richtig: Alexandra Schauer zieht alle Register, um die Fatalität der modernen Welt zu beleuchten
Mit ihrer kolossalen Gegenwartskritik "Mensch ohne Welt" ruft die Frankfurter Soziologin Alexandra Schauer nach der Risiko-, Erlebnis-, Informations- und Empörungs-Gesellschaft nun so etwas wie die Epoche des Verschwindens aus. In drei Themenblöcken über Zeiterfahrung und Geschichte, Öffentlichkeit und Markt sowie über Stadt und Gesellschaft warnt sie vor der zerstörerischen Raum-Zeit-Kompression durch die Augenblicksorientierung der Moderne, in der alles Stehende verdampft.
Schauers Nachrichten aus dem Jammertal sind niederschmetternd: Die Menschen der Spätmoderne hätten sich von der Welt der kollektiven Selbstverständigung und politischen Gesellschaftsgestaltung verabschiedet; sie lebten in einem "omnipräsenten Hier und Jetzt" ohne Vergangenheitsbezug und ohne Zukunftshoffnungen; ihre desorganisierte Zeiterfahrung erzeuge eine immer dominantere, breite Gegenwart, in der "Geschichte in die Gleichzeitigkeit historischer Fragmente zerfällt" und "Zukunft beständig wie ein Unfall in die Gegenwart einbricht"; angesichts unkalkulierbarer Risiken und Angstszenarios zögen sich die Menschen ins grenzenlos gewordene Private zurück und übten Selbstoptimierung anstelle von Weltverbesserung. Sie litten nicht mehr an den Entsagungen der Disziplinargesellschaft, sondern am Versagen bei der Verfehlung ihrer Ich-Ideale.
Die Autorin beschreibt, wie der "weiche" Kapitalismus mit seinen vagabundierenden Finanz-, Arbeits- und auch sozialen Beziehungsmärkten das Selbst- und Weltverhältnis heutiger Menschen von innen her umkrempelt. Sie thematisiert einen modernen "Riss in der Zeiterfahrung", den sie nacheinander mit Kosellecks "Erfahrungsraum und Erwartungshorizont", Blumenbergs "Lebenszeit und Weltzeit" und Musils "Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn" belegt. Seit 1800 waren diese Pole auseinandergeflogen, und heute verschmölzen sie zu einer diffusen Allgegenwart, in der den bindungslosen und desorientierten Menschen die Welt abhandengekommen sei.
Damit meint die Autorin freilich nicht das Liebeslied Friedrich Rückerts ("Ich bin der Welt abhandengekommen"), sondern das Buch "Mensch ohne Welt" von Günther Anders, der 1984 schrieb, dass die Welt nicht mehr den Menschen gehört, die sie produziert haben. Für Schauer ging dieser Entfremdung der lange Frieden der mythischen Schicksalszeit und der steten Wiederholung des christlichen Heilsgeschehens im Kirchenjahr voraus, bis in der Moderne die chronologische Fortschrittsorientierung und Zeitdressur mittels Messung und Synchronisierung alle Ordnungsmuster auf den Kopf stellten.
Mit seltsamer Industrie-Nostalgie sieht Schauer die Welt noch bis zum Feierabend-Pfiff der Fabriksirene zufrieden im Takt des kollektiven Fortschritts marschieren. Doch mit der Flexibilisierung der Zeitwahrnehmung, die die Autorin spitzfindig im Verschwinden öffentlicher Uhren und dem Gebrauch digitaler Quarzuhren an jedem Handgelenk festmacht, verwandelten sich die einst pünktlichen Lohnarbeiter in zeitjonglierende Spieler ohne Feierabend, die keinem Lebensplan mehr folgen, sondern situativ agieren.
Diese vermeintliche "Zeitautonomie" führe aber im "leichten Kapitalismus" der postfordistischen Spätmoderne zu Bastelbiographien radikal kreativer, selbstoptimierter, flexibler Ich-Unternehmer, die nur noch "ziellos dahintreiben" und im Handy-"Snapshot" ihr letztes Ordnungsmodell finden. Weil den Leuten die eigene Zukunft entgleitet, kehrt laut der Autorin "der zerbrochene Pfeil der Zeit über den spätmodernen Umweg zur vormodernen Schicksalhaftigkeit zurück". Das ist immerhin noch beste Frankfurter Schule, allerdings ohne jede emanzipatorische Perspektive.
Ähnlich verfallsgeschichtlich urteilt die Autorin über die Entstehung von Öffentlichkeit. Im Marktgeschehen sieht sie zutreffend den Kern der Entgrenzung des Privaten ins Öffentliche, aber nicht als sozialen Urknall, sondern als Sündenfall. Das ist Schauers zentrales Narrativ: die Privatisierung von Gott und der Welt. So münde die heutige Ökonomie in multiple, undurchschaubare Privatverhältnisse, angetrieben von technokratischen Eliten, die angeblich alternativlose Entscheidungen ohne politische Konsensfindung durchboxten. So etwas kann nur schreiben, wer die Existenz von Parlamenten, Parteien und Podien ignoriert, auf deren Knochenarbeit alle Meinungs- und Entscheidungsbildung aufbaut.
Ähnlich alltagsfern ist Schauers alarmistische Auffassung der neueren Weltwirtschaft. Die kapitalistische "Restrukturierung und Finanzialisierung" ersetze langfristige Gewinnbeteiligungen durch kurzfristige Aktionärsprofite. Billionenwerte würden zur Ausbeute "ungewisser Zukunftserwartungen" immer zerstörerischer um den Globus gejagt. So verschwinde die Logik des kollektiven Schadensausgleichs früherer "Versicherungsgesellschaften" zugunsten spätmoderner "Risikogesellschaften", die alle Verluste individualisieren und öffentliche durch private Vorsorge ersetzen. Aber Schauer verliert kein Wort darüber, dass trotz dieser Höllenwirtschaft weltweit Hunger, Armut und Sterblichkeit signifikant gesunken sind.
Durchweg vertraut die Autorin auf den Kampfbegriff "neoliberal". Das deregulierte neoliberale "Marktdiktat" sei im Kern ein "autoritärer Kapitalismus", wie er angeblich erstmals von Pinochet in Chile 1973 eingesetzt wurde und heute in den autoritären Systemen Chinas, Russlands und der Türkei floriert. In Wahrheit aber stammt die neoliberale Auffassung aus der europäischen Zwischenkriegszeit, als internationale Ökonomen den absterbenden Laissez-faire-Liberalismus mit neuen Regulierungen gegen den aufkommenden Totalitarismus stärken wollten - nicht um die Einzelnen des Schutzes durch den Staat zu berauben, sondern um ihre persönliche Freiheit vor staatsterroristischen Eingriffen zu schützen, und zwar mit harter ordoliberaler Hand.
Der dritte Themenblock über die Stadt als Brennpunkt aller spätmodernen Verwerfungen schildert das Elend früher Industriestädte, dann die bürgerlich-liberalen bis sozialistischen Reformen von Paris, Wien und Berlin, um schließlich bei der sozialen Polarisierung von egoistischen "gated communities" und "edge cities" in Amerika zu landen. Das ist reine Fleißarbeit, die nichts von der ungeheuren zivilisatorischen Kraft der Verstädterung weiß.
Im Epilog schreibt die Autorin, was sie antreibt: "Die Überzeugung, dass die Welt, so wie sie ist, nicht sein sollte". Daher möchte sie andere Zukünfte denken, wie sie die Arbeiterbewegung und die modernen Sozialreformer mit ihrer Liebe zur Utopie ersannen. Dagegen wüsste man am Ende dieser von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie preisgekrönten Arbeit gern, ob nicht auch die Selbststeigerungen und Instant-Erlösungen der weltlosen Augenblicks-Generationen seit 1800 zu einer enormen Verbreiterung der Gegenwart mit großen Freiheitsgewinnen beigetragen haben. Deren Lebensqualität muss aber eine weniger defizitorientierte soziologische Krisenwissenschaft erst noch beschreiben. MICHAEL MÖNNINGER
Alexandra Schauer: "Mensch ohne Welt". Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 704 S., Abb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Michael Mönninger hält das Buch der Soziologin Alexandra Schauer für allzu "defizitorientiert". Das Jammertal der "Augenblicksorientierung" ohne Vergangenheit und Zukunft, in dem sich der Mensch nur noch von einem Insta-Moment zum nächsten hangelt, wie es die Autorin mit Koselleck und Blumenberg beschreibt und kritisiert, scheint Mönninger nicht zu kennen. Die Nostalgie der Autorin, wenn sie auf eine Zeit zurückblickt, in der es noch öffentliche Uhren gab, teilt Mönninger nicht. Alltagsfern findet er auch Schauers "alarmistischen" Blick auf die Weltwirtschaft, der Erfolge im Kampf gegen Sterblichkeit und Hunger ausblendet, wie Mönninger meint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine wirklich brillante Studie!« Tania Martini taz. die tageszeitung 20240320