Zu seinen Lebzeiten konnte August Sander sein größtes fotografisches Projekt nur ansatzweise verwirklichen. Die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ begannen 1927 als Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, der 1929 eine erste Buchveröffentlichung mit 60 Fotos folgte. Das Konzept für einen umfassenden,
gesellschaftlichen Spiegel seiner Zeit hatte August Sander da bereits entwickelt, doch hinderten ihn…mehrZu seinen Lebzeiten konnte August Sander sein größtes fotografisches Projekt nur ansatzweise verwirklichen. Die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ begannen 1927 als Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, der 1929 eine erste Buchveröffentlichung mit 60 Fotos folgte. Das Konzept für einen umfassenden, gesellschaftlichen Spiegel seiner Zeit hatte August Sander da bereits entwickelt, doch hinderten ihn die politischen Umstände an der geplanten Umsetzung. Nach dem Krieg wurde das Projekt von ihm nicht weiter verfolgt, aber die nachfolgenden Generationen näherten sich über Sanders Archiv in mehreren fragmentarischen Publikationsversuchen dem heute anerkannten Konvolut, das mit über 600 Aufnahmen den Ruf August Sanders als einem der bedeutendsten Portraitfotografen des 20. Jahrhunderts mit begründet hat. Der Grundstein hierfür wurde 2002 in einer siebenbändigen Ausgabe gelegt, deren Illustrationen im aufwendigen Tritone-Druckverfahren realisiert wurden, mit dem Grauwerte äußerst präzise, fast wie bei einem Originalabzug übersetzt werden. Vor allem in den USA wurde Sander damit schlagartig bekannt und seine Originalabzüge gehören heute zu den teuersten Fotografien im Auktionshandel.
Der vorliegende Band basiert auf dieser siebenbändigen Vorzugsausgabe, nur wurden die Fotografien im Duotone-Verfahren reproduziert (das heutzutage allerdings fast an die Leistung des Tritone-Drucks heranreicht) und von Sanders Vorgabe, nur jeweils ein Foto auf der rechten Buchseite zu zeigen, wurde zugunsten von doppelseitigen Abbildungen abgewichen. Auf diese Weise wird Sanders Werk auch größeren Leserkreisen zugänglich, denn die siebenbändige Ausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Die Fotos entstanden im Zeitraum von 1911-1914 und wieder nach dem Weltkrieg ab etwa 1920. Es sind Portraits aus allen Gesellschaftsschichten, vom Arbeiter bis zum Schauspieler, vom Bauern bis zum Stadtmenschen, Frauen und Männer, Kinder und Greise. Keines der Bilder entstand in einem natürlichen Kontext, sie sind alle inszeniert, sei es im Studio oder im Freien, und doch vereint alle Motive ein psychologisierendes Element: Sie alle geben eine individuelle Persönlichkeit wieder, die gleichzeitig stellvertretend für eine größere Gruppe steht. Sander hatte das Projekt von Anfang an in sozialen Schichten gedacht und diese Einteilung hat auch die Gesamtausgabe beibehalten. Jedes Portrait steht also für eine Person, aber auch für einen Stand, für eine Haltung, für ein soziales Umfeld, für eine Überzeugung. Die Untertitel unterstützen diesen generalisierten Blick, indem sie keine Namen nennen (außer in Einzelfällen als erklärende Ergänzung der Editoren), sondern Berufs- oder Klassenbezeichnungen. Auch heute grenzen sich Menschen durch Mode, Körpersprache und Verhalten von anderen sozialen Gruppen ab. August Sander hat diese Kennzeichen einer Gruppe durch seine Fotos in unserer Zeit lesbar gemacht. Trotz der Distanz zur Weimarer Republik fühlt man sich den Menschen verbunden, man sucht nach Gemeinsamkeiten und den „Codes“ ihrer sozialen Gruppe. Die Mechanismen sind erstaunlicherweise die gleichen geblieben, anders ausgeprägt natürlich, visuell verschieden, aber das Prinzip der Abgrenzung gegen andere scheint ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein. August Sanders Fotos kann man als Sozialkritik lesen, was sie in Teilen sicher sind. Man kann sie aber auch als Suche nach Gruppenzugehörigkeit lesen, die sich in einer Zeit, in der soziale und kulturelle Unterschiede mit verbaler (und manchmal auch physischer) Gewalt unterdrückt werden, wie ein Mahnmal der Natur des Menschen ausnimmt. Erst die Unterschiede machen August Sanders Werk interessant. Alle Menschen haben die gleichen Rechte, aber dennoch sind nicht alle Menschen gleich. Das wird gerne verwechselt, sowohl von links, wie von rechts.