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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.1996

Angst und Läuse
Bunt verknotet: Marge Piercy beschreibt Menschen im Krieg

Ein jüdisches Mädchen leidet unter Albträumen. Jede Nacht glaubt Naomi, die vor den Deutschen nach Amerika flüchten konnte, sie sei ihre Zwillingsschwester Rivkah, die im besetzten Frankreich zurückbleiben mußte; im Schlaf erlebt sie, wie Rivkah zusammen mit ihrer Mutter deportiert wird. Nach dem Aufwachen haßt Naomi sich dafür, daß sie so sorgenfrei dahinlebt.

Naomis ältere Schwester, Jacqueline Lévy-Monot, ist ein altkluger Teenager und hält nichts von Feindbildern. "Ich bin überzeugt", vertraut sie in Paris ihrem Tagebuch an, "daß die Deutschen . . . sich von uns hauptsächlich insoweit verschieden erweisen werden, wie wir uns als Individuen voneinander unterscheiden." Mit "uns" meint Jaqueline die Franzosen. Die zionistischen Spinnereien ihres Vaters findet sie schlichtweg absurd. Doch nach der Deportation ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester muß Jacqueline erkennen, daß die Deutschen sie und ihresgleichen zu Freiwild erklärt haben. Sie schließt sich einer jüdischen Widerstandsgruppe an und schleust Kinder über die Grenze nach Spanien.

Jeff ist kein Jude, sondern ein weißer angelsächsischer Protestant aus gutem Hause. Außerdem ist Jeff ein romantischer Bohemien: ein Landschaftsmaler, Herumtreiber und Taugenichts. Eines Tages gerät er durch die Vermittlung eines guten Freundes zum amerikanischen Geheimdienst. Abenteuerhungrig läßt er sich mit einem Fallschirm hinter den feindlichen Linien in Frankreich absetzen. Dort stößt er just zu jener Gruppe jüdischer Resistancekämpfer, der auch Jacqueline Lévy-Monot angehört. Bald führt Jeff einen Zweifrontenkrieg: gegen Nazis und ihre französischen Kollaborateure, aber auch gegen die Alliierten, die der Resistance anfangs nur sehr zögerlich beistehen.

Jeffs Schwester, Berenice, spielt unterdessen das Heimchen am Herd. Nach dem Tod der Mutter arbeitet sie für ihren Vater als kostenlose Haushälterin, sie kocht, putzt, flickt und wäscht. Gleichzeitig träumt sie von der Fliegerei. Der Krieg eröffnet Berenice eine einzigartige Chance, und sie nutzt sie. Berenice wird Pilotin.

Ruthie Segal liebt Murray. Doch bevor sie ihn heiraten kann, muß Murray in den Krieg ziehen. Als Marineinfanterist kämpft er im Pazifik gegen die Japaner. Ruthie weiß nicht, ob er wiederkommen wird; ob ihr Bild von ihm noch mit der Wirklichkeit übereinstimmt; ob er sie noch liebt.

Eine Handvoll Menschenschicksale, bunt ineinander verknotet. Dabei sind Naomi, Rivkah, Jacqueline, Jeff, Berenice, Ruthie und Murray nur ein paar von den Figuren in Marge Piercys Roman "Menschen im Krieg". Vielleicht sind es noch nicht einmal die wichtigsten. In diesem breit angelegten Erzählteppich gibt es keine Hauptfigur. Das Muster aber, nach dem Marge Piercy ihren Roman gewebt hat, ist bei näherem Hinsehen verblüffend einfach. Zwischen den verschiedenen Erzählsträngen flitzt als Weberschiffchen ein kleines Wort hin und her; es wird so gut wie nie genannt und ist doch stets präsent - das Wörtchen "während".

Drastisch führt Marge Piercy uns die monströse Inkommensurabilität der Gleichzeitigkeiten vor Augen: Während Naomi ihre erste Monatsblutung hat, verblutet irgendwo auf dem Schlachtfeld ein Soldat. Während die linke Humanistin Louise Kahan, die sich ihr Geld als Autorin von Kitschromanen verdient, in New York Paella ißt, werden den französischen Juden die Lebensmittelrationen gekürzt. Während das junge Sprachgenie Daniel Balaban versucht, codierte japanische Funkmeldungen zu entziffern, tobt am anderen Ende der Welt die Entscheidungsschlacht.

Es ist ein untrügliches Zeichen für Trivialität, wenn in einem Roman sozusagen inkognito Gestalten aus dem Reich der Literatur und Mythologie auftreten. Nach dieser Definition wäre "Menschen im Krieg" ein klassisches Beispiel für Trivialliteratur: Jacqueline Lévy-Monot ist unverkennbar Jeanne d'Arc. Naomi und Rivkah sind die zwei Königskinder, die zueinander nicht kommen können, weil die Wasser des großen Teichs viel zu tief sind. Jeff ist Lawrence von Arabien - natürlich nicht der historische T. E. Lawrence, sondern jene mythische Figur, die Lawrence in seinem Buch "Die sieben Säulen der Weisheit" erfunden hat. Berenice übernimmt die Rolle von Ibsens Nora. Ruthie Segal ist Penelope, und Murray ist der listenreiche Odysseus.

Bliebe es bei solch trivialen Schablonen, würde "Menschen im Krieg" sich an seinem Thema versündigen. Doch Marge Piercy hat die erzählerische Kraft, die vertrauten Bahnen auch wieder zu verlassen. Denn Lawrence von Arabien vergiftet sich mit Zyankali, nachdem er der französischen Miliz in die Hände gefallen ist, um nicht an die SS ausgeliefert zu werden. Jeanne d'Arc wird von französischen Faschisten vergewaltigt und überlebt Auschwitz. Berenice stürzt mit dem Flugzeug ab, nachdem sie sich von ihrem Haustyrannen befreit hat. Eines der beiden Königskinder schuftet sich tief unter der Erde im Konzentrationslager Dora I erbärmlich zu Tode. Penelope muß keine Freier abwehren, sondern in der Fabrik arbeiten. Und Odysseus kriecht auf verschiedenen japanischen Inseln durch Kot, Blut und fauliges Salzwasser.

Die Schlachtszenen gehören zu den stärksten dieses Romans. Alles ist da: die Langeweile, das Durcheinander, die Angst, der Dreck, die Läuse. Auch ein gerechter Krieg ist ein Krieg, und Marge Piercy erspart uns nichts. Immer wieder staunt der Leser, daß eine Autorin, die doch offenbar nicht dabeigewesen ist, das große Sterben so lebensnah beschreiben konnte.

Leider wundert sich der Leser daneben noch über etwas anderes: Er hat selten eine dermaßen schlampige Übersetzung gesehen. Sie ist eine trübe Mixtur aus kruden Anglizismen ("Seine Trauer war echt genug") und unangebrachten Dialektausdrücken ("grantig", "kabbelig"). Das Resultat, eine Art norddeutsches Amerikano-Bayrisch, vermag nur mäßig zu erheitern. Wenn Kapitelüberschriften so lauten: "Der Seemann ist heim", "Freunde wissen am besten zu verletzen", "Talent zu Romanzen" - dann weckt das den frommen Wunsch, die Hölle für Übersetzer möge gut geheizt sein.

Indessen hat sogar die mißglückte Übersetzung ihr dialektisch Positives. Sie erleichtert dem Rezensenten sein Geschäft, denn sie ist eine Art Test. Ein Roman, der einen solchen Mordversuch übersteht, verfügt offenbar über enorme Lebenskräfte; kein Zweifel, Marge Piercy ist eine begabte Erzählerin. HANNES STEIN

Marge Piercy: "Menschen im Krieg". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heidi Zerning. Argument Verlag, Hamburg 1995. 759 S., geb., 56,- DM.

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