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Es war im Spätherbst des zweiten Kriegsjahres, im Lazarettgarten einer kleinen österreichischen Provinzstadt, die am Fuße bewaldeter Hügel, wie hinter einer spanischen Wand verkrochen, ihr verschlafen friedfertiges Dreinschauen noch immer nicht abgelegt hatte. Tag und Nacht pfiffen die Lokomotiven, rollten die schwerbeladenen Züge mit singenden, geschmückten Soldaten, mit hochgeschichteten Heuballen, brüllendem Schlachtvieh, sorgfältig verschlossenen, finsteren Wagen mit Munition zur Front hinaus; krochen langsam die anderen heimwärts, gezeichnet mit dem blutenden Kreuz, das der Krieg über…mehr

Produktbeschreibung
Es war im Spätherbst des zweiten Kriegsjahres, im Lazarettgarten einer kleinen österreichischen Provinzstadt, die am Fuße bewaldeter Hügel, wie hinter einer spanischen Wand verkrochen, ihr verschlafen friedfertiges Dreinschauen noch immer nicht abgelegt hatte. Tag und Nacht pfiffen die Lokomotiven, rollten die schwerbeladenen Züge mit singenden, geschmückten Soldaten, mit hochgeschichteten Heuballen, brüllendem Schlachtvieh, sorgfältig verschlossenen, finsteren Wagen mit Munition zur Front hinaus; krochen langsam die anderen heimwärts, gezeichnet mit dem blutenden Kreuz, das der Krieg über Wände und Insassen geworfen. Mit Raseschritten durcheilte die große Wut das Städtchen, ohne seine Ruhe verscheuchen zu können, als hätten die niederen, hell getünchten Häuser mit den zopfig verschnörkelten Fassaden stillschweigend das kluge Übereinkommen getroffen, den anspruchsvollen, lärmenden Gesellen, der da das unterste zu oberst kehrte, vornehm zu ignorieren. In den Anlagen spielten die Kinder ungestört mit den großen, rostroten Blättern der alten Kastanien, Frauen standen schwatzend vor den Ladentüren, in jedem Gäßchen schwebte irgendwo ein Mädchen mit buntem Kopftuch, und rieb eine Fensterscheibe blank. Trotz der Spitalfahnen, die auf Schritt und Tritt von den Häusern wehten, trotz der vielen Tafeln, Aufschriften und Wegweiser, die der Eindringling dem wehrlosen Städtchen ins Antlitz geheftet, schien da, kaum fünfzig Kilometer hinter dem Gemetzel, dessen Schein, in klaren Nächten, wie Theaterfeuer über den Horizont zuckte, der Frieden immer noch in Permanenz. Wenn, für Augenblicke, der Strom der schweren, fauchenden Kraftwagen und rasselnden Fuhrwerke versiegte, kein Zug über die Eisenbahnbrücke polterte, und zufällig auch kein Trompetensignal und kein Säbelklirren kriegerisch tat, dann steckte das trotzige kleine Nest blitzschnell sein gutmütig-stumpfsinniges Provinzgesicht auf, um sich vor dem nächsten Generalstabsauto, das mit wichtigtuerischer Schnelle um die Ecke bog, resigniert hinter die schlechtsitzende Soldatenmaske zu verkriechen.
Autorenporträt
Andreas Latzko (* 1. September 1876 in Budapest, Königreich Ungarn, Österreich-Ungarn; ¿ 11. September 1943 in Amsterdam[1]) war ein österreichischer pazifistischer Schriftsteller.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.12.2014

Andreas Latzkos
„Menschen im Krieg“
Jeder kennt Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, aber wer spricht noch von Andreas Latzko und seiner Novellensammlung „Menschen im Krieg“, die 1917 in Zürich anonym erschien und über ein Jahrzehnt lang das international bekannteste Anti-Kriegsbuch deutscher Sprache war? Latzko, als Sohn einer ungarisch-jüdischen Großbürgerfamilie 1876 in Budapest geboren, siedelte kurz vor Kriegsausbruch nach München über und kehrte 1918 dorthin zurück. Wegen seines Engagements für die Räterepublik aus Bayern ausgewiesen, lebte er bis 1931 in Salzburg und danach in den Niederlanden, wo er 1943 starb. Als Reserveoffizier des k.u.k. „Ersatzheeres“ war Latzko 1915 an die Isonzo-Front geschickt worden und dort psychisch so schwer erkrankt, dass er sich 1916, nach monatelangen Lazarett-Aufenthalten, zur Rehabilitation nach Davos begeben musste. Dort entstanden, unter dem Eindruck seiner Erlebnisse und der Isonzo-Reportagen der Journalistin Alice Schalek, jene sechs Novellen, die in 15 Sprachen übersetzt wurden und zu den wichtigsten und erschütterndsten Beispielen pazifistischer Literatur zählen. Latzko schildert den Irrsinn und die mörderische Obszönität des Krieges aus der Perspektive der Verwundeten und Traumatisierten mit einer Schonungslosigkeit, gegen die alle medial erzeugten Bilder, ob dokumentarisch oder fiktional, wie weichgezeichnet wirken. Diese Prosa, die ein damals noch unerhörtes Entsetzen in Worte fasst, führt vor Augen, woran die Menschheit sich seitdem in zahlreichen Eskalationsschritten gewöhnt hat, und stellt unbarmherzig die Fragen, die auch in unserer Zeit immer wieder von munterem Waffengeklirr übertönt werden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
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