Die Literatur als Labor des Nachdenkens über die Beziehung zwischen Mensch und Natur.Zur Entfaltung dessen, was seit 1866 »ökologisch« heißt, hat die Literatur auf ihre Weise ebenso beigetragen wie die Wissenschaft - in Lehrgedichten und Gedankenexperimenten, in der Kunst des genauen Hinsehens und mit spekulativer Energie. Seit dem Beginn der Aufklärung hat sie neue Modelle von den Beziehungen zwischen den Lebewesen entwickelt, unter Einschluss der Menschen. »Zuerst war ich ein Kraut«, dichtet Albrecht von Haller 1736, »und lange war ich noch ein Tier«. Goethe denkt diesen Gedanken weiter, von der »Metamorphose der Pflanzen« bis ans Ende des »Faust«. Aus Einfällen wie der Möglichkeit einer menschengemachten globalen Klimaerwärmung erzeugt Lichtenberg um 1800 seine aufgeklärte Science Fiction, und Alexander von Humboldt demonstriert in literarisch-wissenschaftlichen Grenzgängen, dass »alles Wechselwirkung« ist.Heinrich Deterings Buch verfolgt die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von den Anfängen bis zur letzten Ausgabe von Humboldts »Ansichten der Natur.« Und es zeigt die einzigartigen Denkmöglichkeiten der literarischen Vorstellungskraft im Nachdenken über die »Menschen im Weltgarten«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.02.2020Entstehen und sich verwandeln
Eine Literaturgeschichte der Ökologie: Heinrich Deterings "Menschen im Weltgarten" preisen, kultivieren, nutzen und zerstören die Natur.
Als im vergangenen Jahr der Universalgelehrte Alexander von Humboldt wie nie zuvor ediert und gefeiert wurde, erklärte man ihn auch zum Pionier der Ökologiebewegung. Selten zuvor hatte ein Forscher die vielfältigen Beziehungen zwischen biologischen Entwicklungen, geographischen Bedingungen, klimatischen Veränderungen, geologischen Prozessen und menschlichen Einwirkungen genauer als er durchschaut. Mit der Formel "Alles ist Wechselwirkung" aus dem Reisetagebuch 1803 ist diese universale und dynamische Betrachtung der Natur, die sich deutlich von Linnés starrer Klassifikation unterscheidet, zum geflügelten Wort geworden. Die darin komprimierte Idee nimmt die erst 1866 von Ernst Haeckel formulierte Definition von Ökologie als "gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt" bereits vorweg. Humboldt schwebt sie schon seit seiner ersten Publikation 1789 über den ostindischen Giftbaum Bohon-Upas vor, dessen Sonderstellung er mehr aus dem Umweltkontext als der Pflanze selbst begreift. Daran ist nichts ungewöhnlich, denn Konzepte gehen Begriffen fast immer voran.
Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering begnügt sich nicht mit dieser Vordatierung um einige Jahrzehnte. Seine große Literaturgeschichte der Ökologie endet mit Humboldt, beginnt aber rund hundert Jahre früher mit Albrecht von Hallers "Die Alpen". Auf dem langen Weg dazwischen liegen Brockes' Schöpfungslob und Katastrophenängste oder Lichtenbergs Weltuntergangsphantasien, vor allem aber Goethes Metamorphosenlehre und die total bezwungene Natur in Fausts Kolonie, schließlich das Manufaktur- und Bergwerkswesen der Romantik. Der Titelbegriff "Weltgarten" verdankt sich Goethe, der ihm auf der "Italienischen Reise" am 17. April 1787 beim Besuch des Botanischen Gartens in Palermo einfällt. Dreierlei treibt ihn dabei um, das naturkundliche Interesse des Botanikers, die philosophisch-morphologische Frage nach "der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze", die der Flora weltweit zugrunde liegen könnte. Und schließlich der poetische Gedanke an den Garten des Alkinous aus der "Odyssee" oder an das eigene, noch entstehende Metamorphosengedicht, zu dem auch Pflanzenliebe im fast menschlich-erotischen Sinne gehört.
Genau solche Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und ihrer Umwelt auf der einen und zwischen Naturkunde und Dichtung auf der anderen stehen im Zentrum von Deterings Studie. Gleich der Auftakt mit Hallers etwas langatmigem Gedicht "Die Alpen" ist eine Überraschung. Denn die scheinbar bukolische Idylle vom unverdorbenen Bergleben entpuppt sich auf den zweiten Blick als lokaler Prozess der Zivilisation: Ganz pragmatisch geht es da um Ackerbau mit - in der Schlussvignette gezeigten - Werkzeugen, um Landschaftsökonomie und Subsistenzwirtschaft, letztlich um "ein Paradies als Arbeitswelt, eine Arbeitswelt als Paradies". Anders als im "Rauch von großen Städten" oder den ausbeuterischen Bergwerken Perus, auf die ebenfalls angespielt wird, genießt der genügsame Selbstversorger in den Alpen seine republikanische Freiheit. Dagegen werden im Verlauf weiterer Auflagen "Das Joch, das heute noch Europens Hälfte trägt", also etwa Absolutismus und Kolonialismus, kritisch abgegrenzt. Die rhetorische, "beschwerliche Art" der Darstellung - so Haller selbst - stehen zu der propagierten Freiheit allerdings in Konflikt, selbst wenn im Gedicht ein Hirte gegen "knechtisches Gesetz" beansprucht, zu schreiben, "wie er denket".
Wie Haller, der Form und Inhalt später geschmeidiger miteinander vermittelt, verteidigt Detering auch Brockes gegen den Vorwurf der Dekorationskunst. Denn bei beiden entdeckt er Züge des naturkundlich ganzheitlichen Gedankenexperiments, sei es in Hallers Besinnung auf die Spiegelung embryonaler Entwicklung in der Stammesgeschichte oder in Brockes' Phantasien, dass die im vielbändigen "Irdischen Vergnügen in Gott" unaufhörlich beschworene perfekte Schöpfung auch Fehlstellen aufweisen kann. Der Mensch ist größter Störfaktor der Harmonie, er hat Hungersnöte und Seuchen, Krieg und Knechtschaft, Ausbeutung und Zerstörung der Natur zu verantworten. Solche Bedrohungen des ökologischen Gleichgewichts erscheinen auch schon in der "Lappländischen Reise" Carl von Linnés, dessen Horrorbild vom Bergwerk in Falun Detering ein eigenes Kapitel widmet. Für den dort im schmutzigen Vitriol konservierten Bergmann werden später literarische Bergungsmanöver von Arnim, Hebel, Hoffmann, Rückert bis zu Wagner und Hofmannsthal unternommen.
Die Abschnitte über Goethes "Faust" gehören zu den besten Passagen des Buches. Detering sucht Wege aus der Kontroverse, ob das Landgewinnungsprojekt im fünften Akt einen diktatorischen Herrschaftsakt darstellt oder aus dem biblischen Buch Hiob hergeleitet werden kann. Dort tritt Gott und nicht der Mensch als Dammbauer auf, Faust hingegen nimmt den Auftrag der Genesis an, sich die Welt untertan zu machen. Sein am Panamakanal orientiertes Riesenwerk fordert Zwangsarbeit, viele "Menschenopfer", Sumpfbildung und - zentrales Symbol - die Hütte von Philemon und Baucis, die einem imperialen Aussichtsturm weichen muss. Der erblindende Meister kann da zwischen eigenem Grab und neuem Graben kaum noch unterscheiden. Detering bindet nun Fausts "Unterwerfungsphantasien" an die Klassische Walpurgisnacht im zweiten Akt zurück, wo das später zurückgedrängte Meer noch als ökologischer Urgrund alles Lebens gilt. "Im Feuchten ist Lebendiges entstanden", eben auch der Homunkulus, den der Meergott Nereus deshalb zur Frage auffordert: "Wie man entstehn und sich verwandlen kann." Charles Darwin witterte sofort das Potential des aus dem Wasser keimenden und zum Menschen verwandelten Homunkulus und erklärte Goethe deshalb zum "extreme partisan in similar views".
Hegel witzelte einmal über die Aufklärung, die in Berlin gemacht, anderswo aber erdacht werde. Deterings Verdienst ist umgekehrt: Er greift aktuelle Trends aus "Ecocriticism" und "Environmental Studies" als Anregungen auf, lässt sich durch Theorie von seiner konzentrierten, nur manchmal etwas lang geratenden Textlektüre aber nie ablenken. Wie nur noch selten in der Literaturwissenschaft steht in diesem Buch die Literatur und deren Durchdringung immer an erster Stelle. Deshalb ist es so aufschlussreich und lesenswert.
ALEXANDER KOSENINA
Heinrich Detering:
"Menschen im Weltgarten". Die Entdeckung der
Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 464 S., geb., 36,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Literaturgeschichte der Ökologie: Heinrich Deterings "Menschen im Weltgarten" preisen, kultivieren, nutzen und zerstören die Natur.
Als im vergangenen Jahr der Universalgelehrte Alexander von Humboldt wie nie zuvor ediert und gefeiert wurde, erklärte man ihn auch zum Pionier der Ökologiebewegung. Selten zuvor hatte ein Forscher die vielfältigen Beziehungen zwischen biologischen Entwicklungen, geographischen Bedingungen, klimatischen Veränderungen, geologischen Prozessen und menschlichen Einwirkungen genauer als er durchschaut. Mit der Formel "Alles ist Wechselwirkung" aus dem Reisetagebuch 1803 ist diese universale und dynamische Betrachtung der Natur, die sich deutlich von Linnés starrer Klassifikation unterscheidet, zum geflügelten Wort geworden. Die darin komprimierte Idee nimmt die erst 1866 von Ernst Haeckel formulierte Definition von Ökologie als "gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt" bereits vorweg. Humboldt schwebt sie schon seit seiner ersten Publikation 1789 über den ostindischen Giftbaum Bohon-Upas vor, dessen Sonderstellung er mehr aus dem Umweltkontext als der Pflanze selbst begreift. Daran ist nichts ungewöhnlich, denn Konzepte gehen Begriffen fast immer voran.
Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering begnügt sich nicht mit dieser Vordatierung um einige Jahrzehnte. Seine große Literaturgeschichte der Ökologie endet mit Humboldt, beginnt aber rund hundert Jahre früher mit Albrecht von Hallers "Die Alpen". Auf dem langen Weg dazwischen liegen Brockes' Schöpfungslob und Katastrophenängste oder Lichtenbergs Weltuntergangsphantasien, vor allem aber Goethes Metamorphosenlehre und die total bezwungene Natur in Fausts Kolonie, schließlich das Manufaktur- und Bergwerkswesen der Romantik. Der Titelbegriff "Weltgarten" verdankt sich Goethe, der ihm auf der "Italienischen Reise" am 17. April 1787 beim Besuch des Botanischen Gartens in Palermo einfällt. Dreierlei treibt ihn dabei um, das naturkundliche Interesse des Botanikers, die philosophisch-morphologische Frage nach "der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze", die der Flora weltweit zugrunde liegen könnte. Und schließlich der poetische Gedanke an den Garten des Alkinous aus der "Odyssee" oder an das eigene, noch entstehende Metamorphosengedicht, zu dem auch Pflanzenliebe im fast menschlich-erotischen Sinne gehört.
Genau solche Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und ihrer Umwelt auf der einen und zwischen Naturkunde und Dichtung auf der anderen stehen im Zentrum von Deterings Studie. Gleich der Auftakt mit Hallers etwas langatmigem Gedicht "Die Alpen" ist eine Überraschung. Denn die scheinbar bukolische Idylle vom unverdorbenen Bergleben entpuppt sich auf den zweiten Blick als lokaler Prozess der Zivilisation: Ganz pragmatisch geht es da um Ackerbau mit - in der Schlussvignette gezeigten - Werkzeugen, um Landschaftsökonomie und Subsistenzwirtschaft, letztlich um "ein Paradies als Arbeitswelt, eine Arbeitswelt als Paradies". Anders als im "Rauch von großen Städten" oder den ausbeuterischen Bergwerken Perus, auf die ebenfalls angespielt wird, genießt der genügsame Selbstversorger in den Alpen seine republikanische Freiheit. Dagegen werden im Verlauf weiterer Auflagen "Das Joch, das heute noch Europens Hälfte trägt", also etwa Absolutismus und Kolonialismus, kritisch abgegrenzt. Die rhetorische, "beschwerliche Art" der Darstellung - so Haller selbst - stehen zu der propagierten Freiheit allerdings in Konflikt, selbst wenn im Gedicht ein Hirte gegen "knechtisches Gesetz" beansprucht, zu schreiben, "wie er denket".
Wie Haller, der Form und Inhalt später geschmeidiger miteinander vermittelt, verteidigt Detering auch Brockes gegen den Vorwurf der Dekorationskunst. Denn bei beiden entdeckt er Züge des naturkundlich ganzheitlichen Gedankenexperiments, sei es in Hallers Besinnung auf die Spiegelung embryonaler Entwicklung in der Stammesgeschichte oder in Brockes' Phantasien, dass die im vielbändigen "Irdischen Vergnügen in Gott" unaufhörlich beschworene perfekte Schöpfung auch Fehlstellen aufweisen kann. Der Mensch ist größter Störfaktor der Harmonie, er hat Hungersnöte und Seuchen, Krieg und Knechtschaft, Ausbeutung und Zerstörung der Natur zu verantworten. Solche Bedrohungen des ökologischen Gleichgewichts erscheinen auch schon in der "Lappländischen Reise" Carl von Linnés, dessen Horrorbild vom Bergwerk in Falun Detering ein eigenes Kapitel widmet. Für den dort im schmutzigen Vitriol konservierten Bergmann werden später literarische Bergungsmanöver von Arnim, Hebel, Hoffmann, Rückert bis zu Wagner und Hofmannsthal unternommen.
Die Abschnitte über Goethes "Faust" gehören zu den besten Passagen des Buches. Detering sucht Wege aus der Kontroverse, ob das Landgewinnungsprojekt im fünften Akt einen diktatorischen Herrschaftsakt darstellt oder aus dem biblischen Buch Hiob hergeleitet werden kann. Dort tritt Gott und nicht der Mensch als Dammbauer auf, Faust hingegen nimmt den Auftrag der Genesis an, sich die Welt untertan zu machen. Sein am Panamakanal orientiertes Riesenwerk fordert Zwangsarbeit, viele "Menschenopfer", Sumpfbildung und - zentrales Symbol - die Hütte von Philemon und Baucis, die einem imperialen Aussichtsturm weichen muss. Der erblindende Meister kann da zwischen eigenem Grab und neuem Graben kaum noch unterscheiden. Detering bindet nun Fausts "Unterwerfungsphantasien" an die Klassische Walpurgisnacht im zweiten Akt zurück, wo das später zurückgedrängte Meer noch als ökologischer Urgrund alles Lebens gilt. "Im Feuchten ist Lebendiges entstanden", eben auch der Homunkulus, den der Meergott Nereus deshalb zur Frage auffordert: "Wie man entstehn und sich verwandlen kann." Charles Darwin witterte sofort das Potential des aus dem Wasser keimenden und zum Menschen verwandelten Homunkulus und erklärte Goethe deshalb zum "extreme partisan in similar views".
Hegel witzelte einmal über die Aufklärung, die in Berlin gemacht, anderswo aber erdacht werde. Deterings Verdienst ist umgekehrt: Er greift aktuelle Trends aus "Ecocriticism" und "Environmental Studies" als Anregungen auf, lässt sich durch Theorie von seiner konzentrierten, nur manchmal etwas lang geratenden Textlektüre aber nie ablenken. Wie nur noch selten in der Literaturwissenschaft steht in diesem Buch die Literatur und deren Durchdringung immer an erster Stelle. Deshalb ist es so aufschlussreich und lesenswert.
ALEXANDER KOSENINA
Heinrich Detering:
"Menschen im Weltgarten". Die Entdeckung der
Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 464 S., geb., 36,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In atemberaubenden Studien hat Detering die Vorgeschichte ökologischen Denkens in der deutschen Literatur seit dem Barock nachgezeichnet.« (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 18./19.07.2020) »In diesem Buch (steht) die Literatur und deren Durchdringung immer an erster Stelle. Deshalb ist es so aufschlussreich und lesenswert.« (Alexander Kosenina, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.02.2020) »Im vorwissenschaftlichen Raum des klassischen Zeitalters wird die Geschichte der Natur interessant.« (Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 11.05.2020) »Mit den Mitteln eines close reading (...) vor weit gespanntem literatur- und kulturhistorischen Horizont bringt (Detering) seine Texte zum Leuchten.« (Hans von Trotha, Deutschlandfunk Kultur Buchkritik, 27.04.2020) »Eine Entdeckungsreise durch eine literarische Textlandschaft.« (Gudrun Braunsperger, ORF Ö1 Ex libris, 11.05.2020) »Es gibt sie noch: die gute wissenschaftliche Monographie« (Johann Hinrich Claussen, zeitzeichen, 8/2020) »So fügen sich bei der Lektüre Zeitreise und Gegenwartsdiagnose zu einer Einheit, die überrascht.« (Berbeli, Wanning, Forschung & Lehre, 11/20)