Cora Diamonds einflußreiche Aufsätze zur Moralphilosophie sind ein beeindruckendes Zeugnis einer "Ethik nach Wittgenstein", dessen vielleicht originellste Interpretin die amerikanische Philosophin ist. Eine repräsentative Auswahl ihrer Texte liegt nun erstmals in deutscher Sprache vor. Darin befreit Diamond die Moralphilosophie aus dem Prokrustesbett spezialistischer Theorien, deren vermeintlich präzise Begrifflichkeit den Blick für die Vielfalt und die Bedeutung des Ethischen in unserem Leben oft gerade verstellt. In einer seltenen Mischung aus gedanklicher Klarheit und lebensweltlicher Nähe zeigt sie, daß es nicht so sehr darum geht, ethische Probleme zu "lösen", sondern das, was dabei auf dem Spiel steht, besser zu verstehen. Das belegen insbesondere ihre berühmten Arbeiten zum Verhältnis von Mensch und Tier, die einen Schwerpunkt dieses Bandes ausmachen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
An der Aufsatzsammlung der amerikanischen Philosophin Cora Diamond hat Dominik Perler einiges auszusetzen. Nicht dass die These von der gefühlsbasierten Handlung nicht neu ist, stört ihn, die Autorin geht auch über diese Tradition hinaus, erklärt er. Die detaillierten Fallbeschreibungen, anhand derer Diamond Haltungen beschreibt, und ihre Kritik an einem Intellektualismus der allgemeinen Prinzipien, lassen Perler vielmehr bald die Grenzen dieses Ansatzes erkennen. Den von der Autorin nahegelegten Abschied von einer Prinzipienethik beim Umgang mit Tieren etwa kann Perler nicht nachvollziehen. Zu unzuverlässig scheint ihm eine individuelle Sensibilität, die in der Vorstellung der Autorin, wie er schreibt, idealerweise auch noch von jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis frei sein soll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2012Der arme Käfer fühlt ein Leiden, als wenn ein Riese stirbt
Die amerikanische Moralphilosophin Cora Diamond denkt über unser Verhalten gegenüber Tieren nach
In seinen Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg berichtet George Orwell, er habe eines Tages aus nächster Nähe einen Faschisten beobachtet, der sich oberhalb des Schützengrabens gerade ankleidete und die Hose hochhielt. Er wusste, dass dies ein Feind war, der ihm in der nächsten Minute gefährlich werden konnte, und schoss trotzdem nicht auf ihn. Warum nicht? Die Erklärung scheint einfach: Er brachte es einfach nicht übers Herz, den Mitmenschen zu töten, auch wenn er gute Gründe dafür hatte und ihm diese Gründe auch bewusst waren.
Die amerikanische Philosophin Cora Diamond schildert dieses Beispiel, um zu verdeutlichen, dass wir in unserem moralischen Verhalten nicht nur von unseren Überzeugungen geleitet werden, sondern auch von unseren emotional tief verankerten Einstellungen gegenüber anderen Menschen. Wollen wir wissen, warum jemand auf eine bestimmte Weise handelt, sollten wir daher nicht einfach nach einem System von Überzeugungen suchen, sondern immer auch nach Gefühlen und Charakterdispositionen.
Diese These ist nicht neu. Schon die moralischen Sentimentalisten im achtzehnten Jahrhundert machten darauf aufmerksam, dass wir aufgrund moralischer Gefühle handeln, selbst wenn wir gelegentlich gute Gründe haben, die gegen sie sprechen. In ihrer Aufsatzsammlung knüpft Diamond an diese Tradition an, geht aber weit über sie hinaus, indem sie weniger einzelne Gefühle als umfassende Haltungen in den Blick nimmt. Warum, so fragt sie, essen wir andere Menschen nicht auf, wenn sie tot sind? Weil wir ihnen gegenüber Respekt zeigen. Und warum lehnen wir Grausamkeit ab? Weil wir Anteil am Leiden der Geschundenen nehmen.
In detaillierten Fallbeschreibungen zeigt sie, was es konkret bedeutet, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Dabei geht es ihr nicht einfach darum, eine bunte Menge von Beispielen anzuhäufen. Im Vordergrund steht vielmehr die Kritik an einem überzogenen Intellektualismus, aber auch an einem Universalismus. Häufig wird nämlich angenommen, die Anwendung allgemeiner Prinzipien sei für unser Handeln ausschlaggebend. Die Frage lautet dann nur noch, welche Prinzipien relevant sind und wie sie in die Tat umgesetzt werden. Genau diesen Ansatz lehnt Diamond ab. "Denk nicht, sondern schau!" - So könnte man in Anlehnung an Wittgenstein die Maxime nennen, der sie folgt. Man sollte nicht vorschnell annehmen, es gebe allgemeine Prinzipien, die sich rekonstruieren und auf alle Einzelfälle anwenden lassen. Wir müssen vielmehr einzelne Kontexte betrachten und für jeden Kontext sorgfältig untersuchen, welche individuelle Haltung das Handeln bestimmt.
Besonders anregend, aber auch problematisch ist die Anwendung dieser Maxime auf die Tierdebatte. Häufig wird versucht, unser Verhalten gegenüber Tieren mit Verweis auf allgemeine Prinzipien zu erklären. So wird etwa gesagt, dass wir viele Tiere genau wie Menschen für leidensfähig halten. Den Grundsatz "Was leidensfähig ist, darf nicht gequält werden" machen wir dann zu unserem Handlungsprinzip. Dagegen wendet Diamond ein, dass wir keineswegs aufgrund eines allgemeinen Prinzips handeln. Wir erfahren Tiere vielmehr als fühlende "Mitgeschöpfe" und reagieren unmittelbar auf ihr Leiden. Wenn wir "den moralischen Appell eines Tiers hören", wie die Autorin emphatisch festhält, nehmen wir eine entsprechende Haltung ein.
Spätestens an diesem Punkt werden die Grenzen ihres Erklärungsansatzes deutlich. Was tun wir, wenn jemand den moralischen Appell nicht hört? Können wir bloß darauf hoffen, dass er irgendwann für das Leiden der Tiere empfänglich wird? Dürfen wir keine Prinzipien oder moralischen Gründe anführen, die er sich zu eigen machen sollte? Noch schlimmer verhält es sich, wenn jemand eine pervertierte Haltung einnimmt. Angenommen, jemand findet ein sadistisches Vergnügen darin, Tiere zu quälen. Ihr Leiden, so sagt er, lacht ihn geradezu an und treibt ihn dazu, sie noch mehr zu quälen. Er hört offensichtlich den falschen Appell und reagiert mit der falschen Einstellung.
Sollen wir einfach warten, bis er seine Einstellung ändert? Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem. Sobald wir von jeder Prinzipienethik Abschied nehmen und an die individuelle Sensibilität appellieren, bemühen wir uns zwar um "die Wahrung eines menschlichen Standpunkts", wie die Herausgeber im Nachwort zu Recht festhalten. Es geht ja immer darum, wie jeder Einzelne auf das Leiden reagiert und wie er im besten Fall dazu erzogen werden kann, seine Sensibilität zu schärfen. Gleichzeitig verlieren wir aber die Möglichkeit, einen normativen Maßstab anzulegen und nach Prinzipien zu suchen, die jeder Einzelne in seinen Handlungen befolgen sollte. Für unseren Umgang mit Tieren heißt dies: Eine Person, die mit großer Lust Tiere quält, kann kaum zur Ordnung gerufen werden. Wir können ihr höchstens vorwerfen, dass sie kein Mitleid zeigt und dass ihr somit genau das fehlt, was eigentlich jeden Menschen auszeichnen sollte. Aber über den Appell, endlich eine menschliche Regung zu zeigen, können wir nicht hinausgehen.
Dazu kommt noch eine weitere Schwierigkeit. Diamond weist immer wieder darauf hin, dass Mitleid oder gar Respekt für Tiere - aber auch für Mitmenschen - nicht einfach durch Überzeugungsarbeit erworben wird. Wir können noch so lange auf den Sadisten einreden und ihm alle guten Gründe nennen, die gegen das Quälen sprechen, er wird nicht auf sie reagieren, solange er auf das Leiden der Tiere nicht aufmerksam wird. Wie sollten wir dann vorgehen? Wir sollten ihn sensibilisieren, indem wir ihm konkrete Fälle vor Augen führen, bis er sie tatsächlich als Leidensszenarien sieht, ja bis er mit den Tieren empfindet. Nüchterne Argumente helfen nicht weiter. Sie müssen gleichsam mit Leben gefüllt und emotional verinnerlicht werden. Das ist zweifellos überzeugend.
Allerdings sieht Diamond eine erstaunliche Kluft zwischen Argumenten und Emotionen. In Anlehnung an den Dichter W. H. Auden hält sie fest, es brauche "eine Verbindung von Staunen, Ehrfurcht und Verehrung", um andere Geschöpfe liebevoll zu betrachten. Doch warum sollten Argumente so wenig ausrichten können? Warum sollten wir nicht auch durch empirische Studien dazu kommen, eine Sensibilität für die Schmerzempfindung von Hunden oder Schimpansen zu entwickeln? Erstaunlicherweise werden naturwissenschaftliche Arbeiten, die Aufschluss über verschiedene Tierarten geben (etwa darüber, dass auch Fische Schmerzen haben können), vollkommen ausgeblendet. Solange die emotionale Haltung aber so stark von einer wissenschaftlichen abgetrennt wird, scheint es illusorisch, durch Einsicht in biologische Zusammenhänge eine Sensibilität zu erwerben - entweder wir beziehen uns liebevoll auf Tiere oder eben nicht.
DOMINIK PERLER.
Cora Diamond: "Menschen, Tiere und Begriffe". Aufsätze zur Moralphilosophie.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christoph Ammann und Andreas Hunziker. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 335 S., br., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die amerikanische Moralphilosophin Cora Diamond denkt über unser Verhalten gegenüber Tieren nach
In seinen Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg berichtet George Orwell, er habe eines Tages aus nächster Nähe einen Faschisten beobachtet, der sich oberhalb des Schützengrabens gerade ankleidete und die Hose hochhielt. Er wusste, dass dies ein Feind war, der ihm in der nächsten Minute gefährlich werden konnte, und schoss trotzdem nicht auf ihn. Warum nicht? Die Erklärung scheint einfach: Er brachte es einfach nicht übers Herz, den Mitmenschen zu töten, auch wenn er gute Gründe dafür hatte und ihm diese Gründe auch bewusst waren.
Die amerikanische Philosophin Cora Diamond schildert dieses Beispiel, um zu verdeutlichen, dass wir in unserem moralischen Verhalten nicht nur von unseren Überzeugungen geleitet werden, sondern auch von unseren emotional tief verankerten Einstellungen gegenüber anderen Menschen. Wollen wir wissen, warum jemand auf eine bestimmte Weise handelt, sollten wir daher nicht einfach nach einem System von Überzeugungen suchen, sondern immer auch nach Gefühlen und Charakterdispositionen.
Diese These ist nicht neu. Schon die moralischen Sentimentalisten im achtzehnten Jahrhundert machten darauf aufmerksam, dass wir aufgrund moralischer Gefühle handeln, selbst wenn wir gelegentlich gute Gründe haben, die gegen sie sprechen. In ihrer Aufsatzsammlung knüpft Diamond an diese Tradition an, geht aber weit über sie hinaus, indem sie weniger einzelne Gefühle als umfassende Haltungen in den Blick nimmt. Warum, so fragt sie, essen wir andere Menschen nicht auf, wenn sie tot sind? Weil wir ihnen gegenüber Respekt zeigen. Und warum lehnen wir Grausamkeit ab? Weil wir Anteil am Leiden der Geschundenen nehmen.
In detaillierten Fallbeschreibungen zeigt sie, was es konkret bedeutet, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Dabei geht es ihr nicht einfach darum, eine bunte Menge von Beispielen anzuhäufen. Im Vordergrund steht vielmehr die Kritik an einem überzogenen Intellektualismus, aber auch an einem Universalismus. Häufig wird nämlich angenommen, die Anwendung allgemeiner Prinzipien sei für unser Handeln ausschlaggebend. Die Frage lautet dann nur noch, welche Prinzipien relevant sind und wie sie in die Tat umgesetzt werden. Genau diesen Ansatz lehnt Diamond ab. "Denk nicht, sondern schau!" - So könnte man in Anlehnung an Wittgenstein die Maxime nennen, der sie folgt. Man sollte nicht vorschnell annehmen, es gebe allgemeine Prinzipien, die sich rekonstruieren und auf alle Einzelfälle anwenden lassen. Wir müssen vielmehr einzelne Kontexte betrachten und für jeden Kontext sorgfältig untersuchen, welche individuelle Haltung das Handeln bestimmt.
Besonders anregend, aber auch problematisch ist die Anwendung dieser Maxime auf die Tierdebatte. Häufig wird versucht, unser Verhalten gegenüber Tieren mit Verweis auf allgemeine Prinzipien zu erklären. So wird etwa gesagt, dass wir viele Tiere genau wie Menschen für leidensfähig halten. Den Grundsatz "Was leidensfähig ist, darf nicht gequält werden" machen wir dann zu unserem Handlungsprinzip. Dagegen wendet Diamond ein, dass wir keineswegs aufgrund eines allgemeinen Prinzips handeln. Wir erfahren Tiere vielmehr als fühlende "Mitgeschöpfe" und reagieren unmittelbar auf ihr Leiden. Wenn wir "den moralischen Appell eines Tiers hören", wie die Autorin emphatisch festhält, nehmen wir eine entsprechende Haltung ein.
Spätestens an diesem Punkt werden die Grenzen ihres Erklärungsansatzes deutlich. Was tun wir, wenn jemand den moralischen Appell nicht hört? Können wir bloß darauf hoffen, dass er irgendwann für das Leiden der Tiere empfänglich wird? Dürfen wir keine Prinzipien oder moralischen Gründe anführen, die er sich zu eigen machen sollte? Noch schlimmer verhält es sich, wenn jemand eine pervertierte Haltung einnimmt. Angenommen, jemand findet ein sadistisches Vergnügen darin, Tiere zu quälen. Ihr Leiden, so sagt er, lacht ihn geradezu an und treibt ihn dazu, sie noch mehr zu quälen. Er hört offensichtlich den falschen Appell und reagiert mit der falschen Einstellung.
Sollen wir einfach warten, bis er seine Einstellung ändert? Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem. Sobald wir von jeder Prinzipienethik Abschied nehmen und an die individuelle Sensibilität appellieren, bemühen wir uns zwar um "die Wahrung eines menschlichen Standpunkts", wie die Herausgeber im Nachwort zu Recht festhalten. Es geht ja immer darum, wie jeder Einzelne auf das Leiden reagiert und wie er im besten Fall dazu erzogen werden kann, seine Sensibilität zu schärfen. Gleichzeitig verlieren wir aber die Möglichkeit, einen normativen Maßstab anzulegen und nach Prinzipien zu suchen, die jeder Einzelne in seinen Handlungen befolgen sollte. Für unseren Umgang mit Tieren heißt dies: Eine Person, die mit großer Lust Tiere quält, kann kaum zur Ordnung gerufen werden. Wir können ihr höchstens vorwerfen, dass sie kein Mitleid zeigt und dass ihr somit genau das fehlt, was eigentlich jeden Menschen auszeichnen sollte. Aber über den Appell, endlich eine menschliche Regung zu zeigen, können wir nicht hinausgehen.
Dazu kommt noch eine weitere Schwierigkeit. Diamond weist immer wieder darauf hin, dass Mitleid oder gar Respekt für Tiere - aber auch für Mitmenschen - nicht einfach durch Überzeugungsarbeit erworben wird. Wir können noch so lange auf den Sadisten einreden und ihm alle guten Gründe nennen, die gegen das Quälen sprechen, er wird nicht auf sie reagieren, solange er auf das Leiden der Tiere nicht aufmerksam wird. Wie sollten wir dann vorgehen? Wir sollten ihn sensibilisieren, indem wir ihm konkrete Fälle vor Augen führen, bis er sie tatsächlich als Leidensszenarien sieht, ja bis er mit den Tieren empfindet. Nüchterne Argumente helfen nicht weiter. Sie müssen gleichsam mit Leben gefüllt und emotional verinnerlicht werden. Das ist zweifellos überzeugend.
Allerdings sieht Diamond eine erstaunliche Kluft zwischen Argumenten und Emotionen. In Anlehnung an den Dichter W. H. Auden hält sie fest, es brauche "eine Verbindung von Staunen, Ehrfurcht und Verehrung", um andere Geschöpfe liebevoll zu betrachten. Doch warum sollten Argumente so wenig ausrichten können? Warum sollten wir nicht auch durch empirische Studien dazu kommen, eine Sensibilität für die Schmerzempfindung von Hunden oder Schimpansen zu entwickeln? Erstaunlicherweise werden naturwissenschaftliche Arbeiten, die Aufschluss über verschiedene Tierarten geben (etwa darüber, dass auch Fische Schmerzen haben können), vollkommen ausgeblendet. Solange die emotionale Haltung aber so stark von einer wissenschaftlichen abgetrennt wird, scheint es illusorisch, durch Einsicht in biologische Zusammenhänge eine Sensibilität zu erwerben - entweder wir beziehen uns liebevoll auf Tiere oder eben nicht.
DOMINIK PERLER.
Cora Diamond: "Menschen, Tiere und Begriffe". Aufsätze zur Moralphilosophie.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christoph Ammann und Andreas Hunziker. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 335 S., br., 17,- [Euro].
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