Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170751
  • ISBN-10: 393217075X
  • Artikelnr.: 14159918
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005

Hat wer gesagt, es wäre Zeit für Helden?
Dissidenten ohne Erkennungsmelodie: Jonathan Lethems neue Geschichten / Von Verena Lueken

Superziegenmann kennen selbst Verehrer anderer Superhelden nicht unbedingt. Die Serie, in der er auftrat, kam über fünf Folgen nicht hinaus und erschien im falschen Verlag, nicht bei Marvel, sondern bei Electric Comics. Superziegenmanns Heldentaten waren etwas müde, er rettete junge Katzen von brennenden Bäumen oder alte Damen vor schlingernden Lastwagen, und die Zeichnungen, in denen diese Abenteuer erzählt wurden, wirkten nicht sensationeller. Auch gab es keine Butterbrotdosen, die er zierte, und keine Erkennungsmelodie, die sein Erscheinen ankündigte.

Er zog sich, nachdem seine Serie eingestellt worden war, in eine Hippiekommune in Brooklyn zurück, und irgendwann bekam er einen Ruf ans Corcoran College, um den Walt-Whitman-Lehrstuhl für Geistesgeschichte zu übernehmen. Das einzige Seminar, das Superziegenmann dort jemals anbot, trug den Titel "Dissidententum und Wunschdenken: Helden am Rande der amerikanischen Gesellschaft 1955-1975", und es heißt, vor allem bei Studentinnen sei es sehr beliebt gewesen. Superziegenmanns Haarbüschel waren schon deutlich ergraut, als eines Nachts ein paar vorlaute Verbindungsstudenten betrunken auf den Campus-Campanile stiegen, dort oben gefährlich herumwankten, weil sie nicht nur Schnapsflaschen, sondern auch Claes-Oldenburg-artige Riesenskulpturen in Form von Büroklammern bei sich trugen, und nach Superziegenmann riefen, der sie retten sollte. Mit einiger Behendigkeit gelang es ihm, an den Turmwänden nach oben zu klettern, was er lange nicht mehr getan hatte, doch als einer der Studenten fiel und Superziegenmann seinen Arm ausstreckte, um ihn im Fall aufzufangen, bekam er nur die Büroklammer zu fassen.

Die Geschichte vom Superziegenmann ist eine der stärksten in Jonathan Lethems Kurzgeschichtenband "Menschen und Superhelden", den Michael Zöllner gewohnt souverän ins Deutsche gebracht hat. Das Superhelden-Thema verbindet sie mit Lethems letztem Roman, "Festung der Einsamkeit", die College-Umgebung mit dem früheren "Als sie über den Tisch kletterte". Und die Geschichte vom Erwachsenwerden, die der Ich-Erzähler durchlebt, während er dem Superziegenmann begegnet, ihn aus den Augen verliert und ihm wiederbegegnet, ist sowieso das große Thema dieses amerikanischen Schriftstellers, der in den vergangenen Jahren auch in Deutschland bekannt geworden ist.

Die selbstverständliche Verbindung fantastischer und realistischer Figuren und Ereignisse in einem wirklichkeitsnahen und vollkommen glaubwürdig beschriebenen Alltag formt das spezifische Lethem-Universum. Es ist bevölkert von Figuren, die in ihren kindlichen, in der Popkultur zusammengeklaubten Identitäten gefangen bleiben und die, wenn sie gezwungen werden, sich von den Helden und Visionen ihrer Jugend zu verabschieden, mit leeren Händen dastehen. Daß uns darüber nicht das Herz bricht, liegt einerseits daran, daß Lethem kein Erzähler mit Interesse an psychologischem Tiefgang ist und seine Figuren diesmal in uns keine Gefühle jenseits eines mehr oder weniger engagierten Interesses wecken. Andererseits und gleichzeitig aber blickt der Autor selbst auf die von ihm geschaffenen Charaktere und ihre Welt mit mehr Humor als mit Trauer.

Neun Geschichten über diese merkwürdigen Wesen ohne Erfahrung jenseits populärer Musik und Comic-Heften, über Superhelden ohne Aufgabe, Visionäre der seltsamen Art und Zukunftswesen ohne Zukunft sind in dem schmalen Band versammelt, und ein wenig gewinnt man den Eindruck, Lethem habe sich hier von der Arbeit an seinem dickleibigen letzten Roman ausgeruht. Viele der Geschichten fangen vielversprechend an, um dann lustlos zu verläppern - wie etwa "Die Brille". Andere, die allerletzte zum Beispiel, die in Briefform gehalten ist ("Die Nationalhymne"), gehören, wie es scheint, überhaupt nicht hierher. Nur über die Erinnerung an gemeinsame Schul- und Collegezeiten und die Lehrhaftigkeit von "Mad"-Magazinen, Woody Allen, Frank Zappa, Talking Heads und Devo, über die sich die Briefschreibenden offenbar austauschen - offenbar, weil wir nur einen Brief zu lesen bekommen -, ist diese Coda mit den vorhergehenden Stories verbunden. Außerdem beweist Lethem hier seinen Sinn fürs Absurde in der ganz normalen Wirklichkeit: "Eine heimliche Affäre aufzugeben", heißt es da, "ist gespenstisch einfach: A und ich mußten nur aufhören, unsere Existenz zu leugnen." Was der Band in seiner ungleichmäßigen Qualität aber auf jeden Fall beweist, ist die Formenvielfalt, die Lethem beherrscht.

Sein Thema setzt Lethem schon in der ersten Geschichte, die "Vision" überschrieben ist. Der Erzähler trifft Adam Cressner wieder, der zu ihrer gemeinsamen Schulzeit sein Gesicht mit roter Lebensmittelfarbe beschmierte, manchmal einen Umhang trug und, obwohl er seine Körperdichte nicht verändern und daher weder durch Häuserwände gehen noch Kugeln an sich abprallen lassen konnte, der festen Überzeugung war, der Superheld Vision zu sein, "ein grüblerischer Android mit übernatürlichen Kräften aus dem Marvel-Universum". Diesen Adam also trifft der Erzähler wieder, als beide längst erwachsen sind, und die beiden kommen mit Adams Frau und ein paar anderen zu einer Party zusammen. Das Partyspiel, das dort zunächst gespielt wird, heißt Mafia und wird von Adam moderiert, eine gruppendynamische Angelegenheit, die den Erzähler etwas auflockert. Er will Adam lächerlich machen, seine alberne Verkleidung, die er in ihren Kindertagen gar nicht so albern fand, verraten und ihn so vor seiner Frau blamieren. Das gelingt ihm nicht, was ein überraschendes Ende ist, aber Lethem schreibt es so nachlässig daher, daß es wirkt, als habe er die Lust an der Geschichte verloren.

Diesen Eindruck erweckt auch der Schluß einer ansonsten starken Story, die Lethem im Ton von Philip K. Dick geschrieben hat, "Auffahrt Fantasie": Die Menschheit ist geteilt in solche, die im Stau leben, und die anderen, deren Welt jenseits der "Monopermeablen Membran" liegt und von Robotern "mit unverhüllten Hirnkästen und schlechtem Benehmen" geführt wird. Jeder im Stau muß seine Wohnphantasien mit Videos von Apartments befriedigen und will selbstverständlich in diese andere Welt, doch die einzige Möglichkeit, in die Freiheit zu gelangen, ist die Sklaverei. Werbefirmen rekrutieren nämlich jeden Tag eine Reihe von Staubewohnern, kleben ihnen ein Pflaster hinters Ohr und schicken sie in die Welt jenseits der Membran.

Dort laufen die "Reklame" genannten Figuren herum und sagen, bis die Wirkung des Pflasters nachläßt, immer wieder dieselben Sätze auf: "Hallo, Sie da, sind Sie durstig? Ja? Sehnen Sie sich nach einem Schluck? Nein? Ja? Haben Sie schon Very Old Money probiert?", und so weiter. Diese futuristische Apokalypse verbindet Lethem mit einem Kriminalfall - auch darin hat er, wenn wir uns an seinen Roman "Der kurze Schlaf" erinnern, Erfahrung -, und auch hier läßt er uns wieder mit dem Gefühl zurück, am Ende der Geschichte liege ihm nicht viel. Wir aber wissen nach dieser Lektüre, daß, wie sehr Lethems Helden inzwischen auch daran zweifeln mögen, die Welt ohne Superhelden nicht zu retten ist.

Jonathan Lethem: "Menschen und Superhelden". Stories. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Berlin 2005. 172 S., geb., 17,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Lethem sei ein "moderner Märchenerzähler", meint Rezensent Hans-Peter Kunisch begeistert. Sein neuer Erzählband schaffe es, "alltägliche Figuren" mit "großen Themen" zu verknüpfen. Es geht also nicht um das (comichafte) Auftreten der vermeintlichen Superhelden, vielmehr um Menschen, die sich mit den Rätseln des Lebens beschäftigen. Von "großen Fluchten" und dem Wechsel der Identität schreibe Lethem, und das gekonnt. Alltagsereignisse wie ein Stau werden aus einer neuen Perspektive heraus beschrieben und wecken damit das Interesse des Rezensenten. Man wundere sich nicht mehr über die teils recht fantastische Sprache, sondern verstehe nach und nach, dass Kindheitsträume manchmal mehr aussagen als jeder Lebenslauf, freut sich Kunisch. Nicht alle Erzählungen seien gelungen, gibt er zu, doch die Vielfältigkeit des Autors mache das wett.

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