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Produktdetails
  • Verlag: Herbig, F A
  • ISBN-13: 9783776621860
  • ISBN-10: 3776621869
  • Artikelnr.: 24396442
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2001

Aus dem Leben eines Opiumhändlers
Danke, daß ich dein Wort verstehe, danke für jedes neue Buch: Jürgen Fliege bremst auch für Hirsche

Das kannst du machen wie der Pfarrer Aßmann. So haben wir als Kinder gesagt. Pfarrer Aßmann machte es immer, wie er wollte. Pfarrer Fliege durfte das als Kind nicht. 1947 wurde er im Bergischen Land geboren. Sein Vater war - auch im Rahmen des damals Üblichen betrachtet - brutal und autoritär: "Er schickt uns in den Keller. Dort liegt ein Gartenschlauch. Mit dem Küchenmesser müssen wir ungefähr einen Meter davon abschneiden. Dann kommt mein Vater. Er nimmt den Gummischlauch, biegt ihn sich zurecht, nimmt ihn in seine große Hand. Er packt meinen Bruder am Kragen und schlägt zu. Er schlägt und schlägt und schlägt. Mein ältester Bruder hat das Hunderte von Malen über sich ergehen lassen müssen. Heute abend erleide ich es zum ersten Mal."

Jeder reagiert anders auf eine solche traumatische Kindheit. Fliege wurde zum Rebellen. So wie er es schildert, begehrte er aber nur so sehr auf, daß er seine Ziele nicht mutwillig gefährdete. Sein Vater im Himmel leistete ihm dabei den Beistand, den ihm sein irdischer Vater verweigerte.

Neben seiner Tätigkeit vor den Scheinwerfern hat der Talkmaster Zeit gefunden, ein kleines autobiographisches Buch zu schreiben. Es heißt "Menschenflüsterer", was natürlich an den "Pferdeflüsterer" Monty Roberts erinnern soll, dessen Buch der Rezensent auch nur gegen Bezahlung lesen würde. Flieges Buch ist die Fortsetzung der Talkshow mit anderen Mitteln. Es richtet sich weniger an uns Pharisäer, sondern hauptsächlich an die Zöllner im Land. Es soll den Lesern ein wenig Trost spenden, indem es anhand von Beispielen aus dem Leben des Autors und aus seiner seelsorgerischen Tätigkeit zeigt, wie andere mit dem Leben mehr oder weniger erfolgreich zurechtgekommen sind.

Als Untertitel hat Fliege "Schutzlose Erinnerungen" gewählt, was die Art des Werks ganz gut beschreibt. Der Talkmaster, der vom Exhibitionismus seiner Gäste lebt, ist selber ein Exhibitionist. Er hat keine Hemmungen, sein Privatleben vor uns auszubreiten. Es ist zwar alles jugendfrei, aber manches ist doch seltsam intim. Nicht jeder von uns würde erzählen, daß ihn die Tanzstundenliebe sieben Jahre lang immer wieder von der Bettkante gestoßen hat. Immerhin hat es etwas sehr Tröstliches, daß es den Fernsehstars in ihrer Jugend auch nicht bessergegangen ist als uns.

Sein Berufswunsch war seit seinem vierten Lebensjahr Pfarrer. Wegen Legasthenie konnte er ihn nur mit viel Mühe verwirklichen. Die Feinheiten der Theologie waren und sind ihm dabei vermutlich ziemlich schnuppe. Er fliegt darüber hinweg. Er gehört zu denen, "die auf Päpste und Synoden wenig geben". Sein Gott tritt mit dem Gläubigen direkt in Kontakt. Fliege sieht sich in der Tradition der Schamanen. Wie ein indianischer Medizinmann Blumen für Chu, den Gott der Lebensfreude, streut, so begleitet er den Lobgesang seiner Gemeinde auf der Gitarre. Ob sein Chef Chu oder Jehova heißt, dürfte ihm ziemlich egal sein.

Fliege will ein "Menschenflüsterer" sein. Er will den Mühseligen und Beladenen ihr Leben soweit wie möglich erleichtern. Seine Religion ist - brutal gesagt - wirklich Opium fürs Volk. Er gleicht einem Arzt, der die Schmerzen seiner Kassenpatienten mit Opiaten lindert und ihnen keine Vorträge darüber hält, warum sie sie selbstverschuldet haben. Für die Präventivmedizin sind andere zuständig.

Für Fliege sind Geschichten wichtiger als Begriffe. Sein Buch ist eine Sammlung von Anekdoten. Oft ist er die Hauptperson, manchmal ist es auch jemand, für den er seine professionellen Dienstleistungen erbringt. Wenn seine Geschichten etwas gemeinsam haben, dann ist es das Happy-End, für das der Herrgott sorgt. Wobei Happy-End allerdings relativ zu verstehen ist. Es kann darin bestehen, daß eine alte kranke Frau, die um Sterbehilfe bittet, auch ohne diese schnell stirbt.

Es ist erstaunlich, welche absurden Erlebnisse man als Seelsorger haben kann. Ein Drehbuchautor bekäme dafür in den wenigsten Fällen einen Oscar. Wer würde wagen, sich die Geschichte von der Frau auszudenken, die jeden Abend den Kopf des Mannes, von dem sie getrennt lebt, im Aquarium schwimmen sieht? Fliege kommt, kann die Manifestation aber nicht sehen. Ein wenig Gesprächstherapie, ein wenig Exorzismus, und schon wartet der nächste Fall.

Fliege weiß, es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als seine und unsere Schulweisheit sich träumen läßt. Eine blonde Hexe, die in einer Lkw-Garage lebt und alchemistische Experimente macht, führt ihn in die Sexualität und das I GING ein. Nachdem er sie jahrelang nicht gesehen hat, will er sie überraschend besuchen. Aber das Orakel hat ihn schon angekündigt. In den Wäldern der Hocheifel läuft ihm ein Hirsch über den Weg; genauso, wie es ihm ein Medizinmann prophezeit hat.

Ein kurzweiliges Buch also. Aber das ist noch kein Grund, es zu kaufen und zu lesen. Pfarrer wie Fliege gibt es (hoffentlich) viele. Sie alle hätten das Buch ebenso schreiben können, und sie hätten sich vermutlich auch mehr Zeit dafür genommen. Die Sprache ist die Sprache des Dorfgasthofs, einfach und banal. Aber wenn der Pfarrer Aßmann seine Memoiren schreiben will, dann schreibt er sie einfach. Und wenn er prominent ist, werden sie auch gedruckt.

Wir sollen unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, hat der Heiland gesagt. Im Falle Fliege würde es aber reichen, wenn er uns weiterhin am Nachmittag das Wohnzimmer per Kathodenstrahlröhre mit fünfzig Hertz illuminierte. Das ist Licht genug. Gedrucktes Fernsehen ist selten so gut wie das Original.

ERNST HORST

Jürgen Fliege: "Menschenflüsterer". Schutzlose Erinnerungen. Herbig Verlag, München 2000. 219 S., geb., 29,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ernst Horst zeigt unerwartete Sympathien für den Pastor Fliege. Leser könnten "ein wenig Trost" daraus schöpfen, dass der als Kind von seinem Vater regelmäßig mit einem Gartenschlauch verprügelte Fliege, der auch noch Legastheniker ist, dann doch noch ein erfolgreicher Mann wurde. Geschichten von anderen Personen, die immer mit einem Happy-End endeten, tragen laut Horst zu diesem Eindruck bei. Dem Pastor gelingt es sogar, unseren FAZ-Rezensenten zu verwirren. So bezeichnet er Fliege als einen Mann, der Religion wirklich als "Opium fürs Volk" benutzt. An anderer Stelle hofft der Rezensent jedoch, dass es viele Pastoren wie Fliege gibt. Insgesamt ein "kurzweiliges Buch", meint Horst, der die Talkshow dennoch vorzieht.

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