Der soziologische Diskurs der Moderne steht in einem spannungsreichen Verhältnis zum politischen Ethos der Menschenrechte. Matthias König liefert eine gebündelte Darstellung der Positionen von Durkheim und Weber zum modernen Menschenrechtsethos und beleuchtet damit einen der politisch- philosophischen Aspekte der klassischen Soziologie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2002Schwarzbrot für die Stahlstadt
Wieviel Menschenrecht verträgt die Welt? Matthias König sondiert
Daß auch die klassische Soziologie zum Thema Menschenrechte etwas zu sagen hat, pflegt notorisch übersehen zu werden. Zu stark wirkt die Entschiedenheit nach, mit der die Gründerväter zu allen natur- und vernunftrechtlichen Konstruktionen auf Abstand gegangen waren und sich um eine neutrale Beobachterposition bemüht hatten. Unberücksichtigt bleibt dabei zum einen, wie sehr auch die Soziologen sich durchaus nicht nur als Wissenschaftler verstanden und aktiv in die politischen Auseinandersetzungen intervenierten - so Durkheim während der Dreyfus-Affäre, so Weber während der Revolutionen in Rußland und Deutschland; zum andern, daß sie auch auf wissenschaftlicher Ebene einen nicht geringen Teil ihrer Anstrengungen der Frage widmeten, welche gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen für die Entstehung von Menschenrechten gegeben sein müssen und welche Folgen ihre Institutionalisierung hat.
Matthias König geht diesen Zusammenhängen in einer dicht geschriebenen und sachkundigen Untersuchung nach. Der erste, Durkheim gewidmete Teil arbeitet die zentrale Rolle heraus, die bei diesem Klassiker der französischen Soziologie der "Kult des Individuums" spielt und welche Rolle dem Staat für dessen Verankerung zufällt. Diese eher strukturtheoretische Perspektive steht bei Durkheim in enger Verbindung mit einer durchaus normativen Bewertung von Krisenerscheinungen der Moderne, die sich einer wie immer auch soziologisch reflektierten Übernahme von Kants Axiom verdankt, daß sich erst in der freien, rationalen und autonomen Handlung die menschliche Natur realisiert. Durkheims Soziologie, so König, stelle in dieser Hinsicht eine reflexive Wendung des modernen Diskurses über die Menschenrechte dar, der diese als die letzten konsensfähigen Werke der modernen Gesellschaft auffaßt, denen durch soziologische Aufklärung zu einem weiteren Ausbau verholfen werden könne.
Auch für das Werk Max Webers gilt, daß die so oft herausgestellte Wertfreiheit nur eine Seite markiert. Webers Analysen sind zwar erklärtermaßen um Werturteilsfreiheit bemüht, aber sie sind stets auch wertbeziehend, indem sie die in einer gegebenen Kultur vorfindlichen Ideen und Vorstellungskomplexe auf die ihnen zugrunde liegenden letzten Werte hin durchsichtig machen. In der Kultur des Okzidents sind dies, wie es in einer vielzitierten Formulierung aus Webers Rußlandschriften heißt, die unveräußerlichen Menschenrechte, "welche für uns Westeuropäer so trivial geworden sind, wie Schwarzbrot es für den ist, der satt zu essen hat". Daraus sollte man nicht schließen, wie König es mitunter tut, daß hier der erkenntnisleitende Wertbezug von Webers Soziologie liegt, denn als Wissenschaft muß diese es gerade vermeiden, daraus ein Werturteil zu machen, an dem sie andere Kulturen mißt. Zutreffend aber ist es, hier den zentralen Bezugspunkt von Webers politischer Philosophie zu sehen, die in der Tat eine "philosophie de la liberté" ist, sehr im Gegensatz zu allen Deutungen, die hier nur Machiavellismus oder Nationalismus zu erkennen vermögen.
Am Ende bleibt freilich die Frage, ob die von König angestrebte "reflexive Soziologie der Menschenrechte" gut beraten ist, wenn sie sich ihre Fragestellungen so stark von Durkheim und Weber vorgeben läßt, wie es in diesem Buch der Fall ist. Die Webersche Soziologie etwa, bei all ihren großartigen Zügen, hat doch eine deutliche Grenze darin, daß sie eine Soziologie der Ordnung ist, die den Horizont von einer fortschreitenden Schematisierung, Uniformierung und Mechanisierung bestimmt sieht - Jules Vernes "Stahlstadt". Auch Webers Analyse der paradoxen, nicht intendierten Effekte der Institutionalisierung von Individualrechten ist ganz durch diese Perspektive geprägt, ist es doch gerade die Durchsetzung von Freiheits- und Handlungsrechten, die die Prozesse bürokratischer Rationalisierung begünstigt. Eine reflexive Soziologie der Menschenrechte hätte aber heute weit mehr dem Verhältnis von Freiheit und Unordnung nachzugehen als dem von Freiheit und Ordnung. Sache der Politik mag es sein, für die Erweiterung von Menschenrechten einzutreten. Sache der Soziologie aber wäre es, darüber die nicht minder dringliche Frage zu vergessen: wieviel Menschenrechte verträgt diese Welt?
STEFAN BREUER
Matthias König: "Menschenrechte bei Durkheim und Weber". Normative Dimensionen des soziologischen Diskurses der Moderne. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 2002. 177 S., br., 23,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wieviel Menschenrecht verträgt die Welt? Matthias König sondiert
Daß auch die klassische Soziologie zum Thema Menschenrechte etwas zu sagen hat, pflegt notorisch übersehen zu werden. Zu stark wirkt die Entschiedenheit nach, mit der die Gründerväter zu allen natur- und vernunftrechtlichen Konstruktionen auf Abstand gegangen waren und sich um eine neutrale Beobachterposition bemüht hatten. Unberücksichtigt bleibt dabei zum einen, wie sehr auch die Soziologen sich durchaus nicht nur als Wissenschaftler verstanden und aktiv in die politischen Auseinandersetzungen intervenierten - so Durkheim während der Dreyfus-Affäre, so Weber während der Revolutionen in Rußland und Deutschland; zum andern, daß sie auch auf wissenschaftlicher Ebene einen nicht geringen Teil ihrer Anstrengungen der Frage widmeten, welche gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen für die Entstehung von Menschenrechten gegeben sein müssen und welche Folgen ihre Institutionalisierung hat.
Matthias König geht diesen Zusammenhängen in einer dicht geschriebenen und sachkundigen Untersuchung nach. Der erste, Durkheim gewidmete Teil arbeitet die zentrale Rolle heraus, die bei diesem Klassiker der französischen Soziologie der "Kult des Individuums" spielt und welche Rolle dem Staat für dessen Verankerung zufällt. Diese eher strukturtheoretische Perspektive steht bei Durkheim in enger Verbindung mit einer durchaus normativen Bewertung von Krisenerscheinungen der Moderne, die sich einer wie immer auch soziologisch reflektierten Übernahme von Kants Axiom verdankt, daß sich erst in der freien, rationalen und autonomen Handlung die menschliche Natur realisiert. Durkheims Soziologie, so König, stelle in dieser Hinsicht eine reflexive Wendung des modernen Diskurses über die Menschenrechte dar, der diese als die letzten konsensfähigen Werke der modernen Gesellschaft auffaßt, denen durch soziologische Aufklärung zu einem weiteren Ausbau verholfen werden könne.
Auch für das Werk Max Webers gilt, daß die so oft herausgestellte Wertfreiheit nur eine Seite markiert. Webers Analysen sind zwar erklärtermaßen um Werturteilsfreiheit bemüht, aber sie sind stets auch wertbeziehend, indem sie die in einer gegebenen Kultur vorfindlichen Ideen und Vorstellungskomplexe auf die ihnen zugrunde liegenden letzten Werte hin durchsichtig machen. In der Kultur des Okzidents sind dies, wie es in einer vielzitierten Formulierung aus Webers Rußlandschriften heißt, die unveräußerlichen Menschenrechte, "welche für uns Westeuropäer so trivial geworden sind, wie Schwarzbrot es für den ist, der satt zu essen hat". Daraus sollte man nicht schließen, wie König es mitunter tut, daß hier der erkenntnisleitende Wertbezug von Webers Soziologie liegt, denn als Wissenschaft muß diese es gerade vermeiden, daraus ein Werturteil zu machen, an dem sie andere Kulturen mißt. Zutreffend aber ist es, hier den zentralen Bezugspunkt von Webers politischer Philosophie zu sehen, die in der Tat eine "philosophie de la liberté" ist, sehr im Gegensatz zu allen Deutungen, die hier nur Machiavellismus oder Nationalismus zu erkennen vermögen.
Am Ende bleibt freilich die Frage, ob die von König angestrebte "reflexive Soziologie der Menschenrechte" gut beraten ist, wenn sie sich ihre Fragestellungen so stark von Durkheim und Weber vorgeben läßt, wie es in diesem Buch der Fall ist. Die Webersche Soziologie etwa, bei all ihren großartigen Zügen, hat doch eine deutliche Grenze darin, daß sie eine Soziologie der Ordnung ist, die den Horizont von einer fortschreitenden Schematisierung, Uniformierung und Mechanisierung bestimmt sieht - Jules Vernes "Stahlstadt". Auch Webers Analyse der paradoxen, nicht intendierten Effekte der Institutionalisierung von Individualrechten ist ganz durch diese Perspektive geprägt, ist es doch gerade die Durchsetzung von Freiheits- und Handlungsrechten, die die Prozesse bürokratischer Rationalisierung begünstigt. Eine reflexive Soziologie der Menschenrechte hätte aber heute weit mehr dem Verhältnis von Freiheit und Unordnung nachzugehen als dem von Freiheit und Ordnung. Sache der Politik mag es sein, für die Erweiterung von Menschenrechten einzutreten. Sache der Soziologie aber wäre es, darüber die nicht minder dringliche Frage zu vergessen: wieviel Menschenrechte verträgt diese Welt?
STEFAN BREUER
Matthias König: "Menschenrechte bei Durkheim und Weber". Normative Dimensionen des soziologischen Diskurses der Moderne. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 2002. 177 S., br., 23,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
29.04.2002, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wieviel Menschenrecht verträgt die Welt?: "Eine dicht geschriebene und sachkundige Untersuchung."
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Sachverhalt alleine, dass bei den Klassikern der Soziologie, der Priorität nichtnormativer Beobachtung zum Trotz, die Frage der Menschenrechte eine Rolle spielte, mag schon überraschen, meint der Rezensent Stefan Breuer. Dennoch sei die Frage nach den gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen wie den Folgen der Institution eine eminent soziologische. Matthias König ist den Antworten, die Durkheim und Weber darauf geben, nachgegangen. Der erste Teil ist Durkheim gewidmet und im Zentrum von Königs Analyse stehen, so Breuer, dessen Untersuchungen zum "Kult des Individuums". Die Menschenrechte erscheinen bei Durkheim als die "letzten konsensfähigen Werke der modernen Gesellschaft". Der zweite Teil zu Max Weber zeige, wie stark die Menschenrechte der "zentrale Bezugspunkt" von dessen politischer Philosophie waren. Breuer lobt die Untersuchung als "dicht geschrieben" und "sachkundig", fragt allerdings, ob sich König die Fragestellungen nicht zu stark von den Gegenständen hat diktieren lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Wieviel Menschenrecht verträgt die Welt?
"Eine dicht geschriebene und sachkundige Untersuchung." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.2002)
"Eine dicht geschriebene und sachkundige Untersuchung." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.2002)