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Der Band präsentiert, zum Teil erstmalig ediert oder übersetzt, etwa 70 Berichte und Kommentare zu Versuchen am Menschen von der Aufklärung über die NS-Zeit bis zur Gegenwart. Somit liegt erstmals ein Kompendium mit kommentierten Quellentexten vor, das das überaus kontrovers diskutierte Thema der Menschenversuche umfassend dokumentiert. Entfaltet wird ein Panorama experimenteller Praktiken in Medizin, Psychologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, das deutlich macht, wie eng die Versuchsanordnungen mit historisch spezifischen Menschenbildern und Gesellschaftsmodellen verknüpft sind.…mehr

Produktbeschreibung
Der Band präsentiert, zum Teil erstmalig ediert oder übersetzt, etwa 70 Berichte und Kommentare zu Versuchen am Menschen von der Aufklärung über die NS-Zeit bis zur Gegenwart. Somit liegt erstmals ein Kompendium mit kommentierten Quellentexten vor, das das überaus kontrovers diskutierte Thema der Menschenversuche umfassend dokumentiert. Entfaltet wird ein Panorama experimenteller Praktiken in Medizin, Psychologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften, das deutlich macht, wie eng die Versuchsanordnungen mit historisch spezifischen Menschenbildern und Gesellschaftsmodellen verknüpft sind. Menschenversuche - Skandalthema und gängige Wissenschaftspraxis zugleich - werden so in ihrer kulturhistorischen Dimension greifbar.
Autorenporträt
Die Herausgeber arbeiten seit 2003 in der interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe »Kulturgeschichte des Menschenversuchs« an der Universität Bonn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2008

Die Grausamkeit im Dienst der Wissenschaft
Horrorvisionen: Ein Katalog der Menschenversuche

Am 21. August 1947 erteilte Dr. med. Karl Brandt, der als ehemaliger Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen im Nürnberger Ärzteprozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt war, seinem Verteidiger Dr. Robert Servatius die Vollmacht, vor Gericht den folgenden Antrag zu stellen: "Es ist mein freier Wille, mich einem medizinischen Versuch ohne jede Überlebenschance zu unterziehen, um so die Vollstreckung des Todesurteils über die Erfüllung eines juristischen Prinzips zu einem sinnvollen Ereignis im Interesse und zum Wohle der Menschheit zu erheben." Das Militärtribunal ging bekanntlich auf dieses Ansinnen Brandts, sich als Versuchsperson für ein "terminales Experiment" zur Verfügung zu stellen, nicht ein.

Einem der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von mehr als hunderttausend "Geisteskranken" sollte mit einer solchen Selbststilisierung als uneigennütziger Diener des wissenschaftlichen Fortschritts nicht zu einem zweifelhaften Nachruhm verholfen werden. Bereits während der Verhandlung hatte sein Verteidiger immer wieder die Unschuld des Angeklagten betont und darauf verwiesen, dass Ärzte schon früher mit Billigung des Staates Menschenversuche angestellt und dabei das Wohl der Allgemeinheit im Auge gehabt hätten.

Lässt sich eine solche Kontinuität in der Medizingeschichte nachweisen? Das ist eine der Fragen, die dieser verdienstvolle Quellenband zu beantworten versucht. Dazu muss zunächst einmal geklärt werden, was man überhaupt unter einem Menschenversuch zu verstehen hat. Die Herausgeber, eine Gruppe junger Kultur- und Wissenschaftshistoriker, unterscheiden in Anlehnung an den Philosophen Hans Jonas Versuche für, an und gegen Menschen. Hinter den sogenannten "therapeutischen Heilversuchen", von denen sich Beispiele in der Sektion "Schneiden und Heilen" finden, steht die Annahme, dass diese Experimente (man denke an die erste Herztransplantation) für den Kranken selbst von Nutzen sind.

Versuche an Menschen sind Forschungsexperimente (zum Beispiel Delgados Versuche mit einem Hirnschrittmacher), die zu Erkenntnissen führen, die später einmal für Menschen, die an einer ähnlichen Krankheit leiden, therapeutisch von Nutzen sein könnten. Diese Unterscheidung findet sich übrigens nicht erst seit der Deklaration von Helsinki (1964), wie die Herausgeber behaupten. Sie ist bereits Bestandteil der "Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen", die bereits 1931 vom Reichsministerium des Innern erlassen wurden. Eindeutig gegen das Wohl der Versuchsperson gerichtet waren dagegen die todbringenden Experimente, die nicht nur in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, sondern zum Beispiel auch in der Mandschurei von der geheimen japanischen "Einheit 731" durchgeführt wurden. In diesem Band sind Augenzeugenberichte erstmals ins Deutsche übersetzt worden, die beweisen, mit welcher unvorstellbaren Grausamkeit und Menschenverachtung japanische Ärzte Gefangene bei lebendigem Leibe sezierten oder sie mit Pestbazillen infizierten. Im Unterschied zu den Unterkühlungsversuchen im KZ Dachau sind die brutalen Sterilisationsexperimente, die im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gegen Ende des Krieges unter dem Anschein der "Freiwilligkeit" durchgeführt wurden, einer größeren Öffentlichkeit kaum bekannt.

Kritik lässt sich jedoch an der zentralen These dieses Quellenbandes üben, dass von Menschenversuchen - gleich welcher Kategorie - erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede sein kann. Nicht nur definierte Francis Bacon schon im 17. Jahrhundert den Versuch als eine Frage, "die man an die Natur richtet, um sie zum Sprechen zu bringen", der englische Philosoph rechtfertigte in seinem Werk De Dignitate et Augmentis Scientiarum (1623) sogar Experimente am Menschen, die wir heute als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" einstufen würden: "Um also sowohl für den Nutzen als die Menschlichkeit besorgt zu seyn, so ist die Anatomie an Lebendigen keineswegs zu verwerfen." Von aus heutiger Sicht ethisch bedenklichen Menschenversuchen in der Praxis berichtet der berühmte italienische Anatom Gabriele Falloppio (1523 bis 1562): "Ich werde erzählen, was sich während meines Aufenthaltes in Pisa ereignete. Der Großherzog pflegte Verurtheilte den Anatomen zu übergeben, damit sie jene in beliebiger Weise tödten könnten. Wir aber reichten dem Einen eine Drachme Opium und tödteten binnen sieben Stunden; ein Andrer, der an Quartana litt, bekam das Gleiche. Alsbald trat Kälte, dann sehr große Hitze ein und er starb nicht, da das Opium von der natürlichen Wärme überwunden wurde."

Foucaults Theorem der "Bio-Macht", das von den Herausgebern immer wieder als Argumentationsmuster herangezogen wird, kann höchstens erklären, warum die Medizin seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine immer größere Deutungsmacht erhält und damit auch die Experimentiermöglichkeiten wachsen. Doch der eigentliche Paradigmenwechsel ist früher anzusetzen, nämlich in der Herausbildung einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin, die sich immer stärker dem Experiment verpflichtet fühlt. So ist bezeichnend, dass bereits dem wohl berühmtesten Anatomen des 16. Jahrhunderts, Andreas Vesalius (1514 bis 1564), der Vorwurf gemacht wurde, er hätte sich an Vivisektionen gewagt, also lebende Personen seziert - eine Horrorvision, die ja bekanntlich auch heutzutage Menschen noch ins Kino zu locken vermag, wenn man an den Medizin-Thriller "Anatomie" (2000) denkt.

Doch nicht nur Ärzte haben Menschenversuche angestellt, auch Pädagogen und Psychologen. Hierzu gehören die Experimente mit sogenannten "Wolfskindern". Statt des bekannten Falls Kaspar Hauser haben die Herausgeber den Erziehungsversuch ausgewählt, den ein in den Wäldern von Aveyron in Frankreich aufgefundener Junge um 1800 über sich ergehen lassen musste. Nachdenklich stimmt auch der hier abgedruckte Bericht einer Mitarbeiterin des nationalsozialistischen Rassenforschers Robert Ritter über die "Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder" aus dem Jahre 1943. Unter dem Stichwort "Zusammenleben" findet man eine Zusammenstellung von Experimenten, die sich mit gruppendynamischen Prozessen befassen. Dazu gehören beispielsweise Stanley Milgrams "verhaltenspsychologische Untersuchung des Gehorsams" (1963) und der Versuch, den Philip G. Zimbardo 1973 zur "interpersonale Dynamik in einem simulierten Gefängnis" angestellt hat. Erst viele Jahre später haben die Leiter dieser Experimente die ethische Problematik ihrer Versuche zugegeben. Das ändert nichts daran, dass sie bis heute immer wieder unreflektiert zitiert werden.

ROBERT JÜTTE

"Menschenversuche". Eine Anthologie. 1750-2000. Herausgegeben von Nicolas Pethes, Birgit Griesecke, Marcus Krause und Katja Sabisch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 779 S., br., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Verdienstvoll findet Robert Jütte diesen Quellenband, der sich den verschiedenen Formen des Menschenversuchs widmet. Die Definitionsversuche der Herausgeber, die Unterscheidung von Versuchen für, an und gegen Menschen findet Jütte sinnvoll. Die teilweise kaum bekannten, hier veröffentlichten Berichte über Menschenversuche in der Mandschurei, in Pisa oder in den KZs liest Jütte mit Grauen. Die zentrale These des Bandes, derzufolge von Menschenversuchen erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede sein kann, bezweifelt der Rezensent allerdings. Für ihn steht fest, dass der Paradigmenwechsel durch eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin bereits im 16. Jahrhundert stattfindet.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Dieser Band versammelt mehr als siebzig kommentierte Quellentexte aus den vergangenen 220 Jahren. Neun Sektionen - unter anderem 'Erziehen', 'Kontrollieren', 'Messen', 'Vernichten' - bilden ein gewaltiges wissenschaftsgeschichtliches Panorama. Ohne die kritischen Diskurse Michel Focaults zur Wissensproduktion oder Giorgio Agambens zur Biopolitik wäre dieser eindrucksvolle Band kaum denkbar.« Thomas Medicus DIE WELT