Produktdetails
- Verlag: Hanser, Carl
- ISBN-13: 9783446123380
- ISBN-10: 3446123385
- Artikelnr.: 24884797
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2012Man reiche dem Ertrinkenden eine Hand
Lolita in Flandern: Louis Paul Boon erzählt in seinem 1955 erstmals erschienenen Roman "Menuett" von der Sehnsucht des Kleinbürgers nach dem guten Leben. Eine Wiederbegegnung.
Meine Arbeit im Eiskeller war ziemlich eintönig: Ich maß die Temperaturen, die Tag und Nacht auf dem Gefrierpunkt stehen mussten. Es war keine schwere Arbeit, aber nur wenige hielten es aus, täglich acht Stunden lang am Nordpol zu sein", so beginnt "der Mann" in Louis Paul Boons Roman "Menuett" seine bittere, lakonisch vorgetragene Selbstauskunft. Boon gehört zu den wichtigsten flämischen Schriftstellern, und wie er in diesem hochkonzentrierten Buch, das bei seinem Erscheinen 1955 einen Skandal auslöste, drei Personen in einem düsteren Tanz auf eine Katastrophe zutaumeln lässt, die nur einen kleinen Schritt neben der ganz durchschnittlichen, banalen Normalität beginnt, ist schlicht meisterhaft.
Boons ganzes Werk ist vom rigorosen Zweifel an der Humanität und Liebesfähigkeit der Menschen geprägt, überall sah er Brutalität, Elend und Hoffnungslosigkeit. Er ist seinen Figuren, hart arbeitenden Handwerkern und Fabrikarbeitern in armseligen Vorstadtwohnungen, leidenschaftlich zugetan und erzählt in klaren Sätzen von ihrer vergeblichen Jagd nach Glück - ein unerfüllbarer Traum, dessen Details sich die Träumenden noch nicht einmal selbst wählen können. Das besorgen bigotte Priester für sie, die lächerlichen Diener einer hierarchischen Industriegesellschaft.
"Jeder von uns ist eine Insel, von verräterischem Wasser umschlossen, und was wir alle zusammen erreicht haben, ist nichts als Zufall", lautet einer der letzten Sätze des Romans. In seinem Zentrum steht die Figur jenes im Eiskeller arbeitenden und dort lange Selbstgespräche führenden Mannes - eines der vielen autobiographischen Motive, denn auch Boon, der aus einer Arbeiterfamilie stammte, hatte im Eiskeller einer Brauerei gearbeitet. Mit seinen Grübeleien prägt der Mann die Atmosphäre des Romans, ja mehr noch: Durch seinen Blick erzeugt er erst dessen Welt - ein Verfahren, das auf allen Erzählebenen mitreflektiert wird.
Die Handlung ist angelegt wie ein Triptychon. Nach dem Mann sprechen seine Frau und das kindliche Dienstmädchen, in unterschiedlichen Tonlagen: selbstgefällig, wissbegierig und fordernd "das Mädchen", naiv-ratlos und zugleich pragmatisch "die Frau". Alle drei bemühen sich, aufrichtig zu sein, und lassen damit die Missverständnisse zwischen ihnen nur noch bodenloser erscheinen. Der Frau, die in ihrer Schlichtheit sein Schweigen bösartig und seine Ratlosigkeit einfach unverschämt findet, fällt der undankbarste Part in diesem Spiel zu: Sie steht als ängstliche, bienenfleißige Aufsteigerin da, die sich nichts als ein biederes Glück wünscht.
Überraschend ist dann die Großherzigkeit, mit der sie die rücksichtslose, sich ganz im Genuss verlierende Neugier der beiden anderen anerkennt (hier hört man eher den Autor sprechen): Es gehe eben um eine Art "Dissertation für die Hochschule des Lebens", und kein Detail dürfe ausgelassen werden.
Ganz langsam rutscht das Häuschen mit seinem winzigen Garten einem Abgrund aus Wut, Misstrauen, Betrug und Kränkung entgegen. Der Mann beginnt exzessiv, sadistische Zeitungsausschnitte zu sammeln, die er in seiner "Rumpelkammer" wie einen Schutzwall aus Fakten gegen eine bösartige und verlogene Gesellschaft ringsum auftürmt. Er fühlt sich den tratschenden Nachbarinnen, die ständig vom Tod reden, ohne ihn zu begreifen, genauso ausgeliefert wie seinen zwanghaft arbeitenden, tiefreligiösen Schwiegereltern. Den verhassten Kriegsdienst erlebt er als tiefe Entwürdigung, und als er nach kurzer, traumatischer Gefangenschaft wieder in seinem Kämmerchen sitzt, liest er die Nachrichten ganz wörtlich als Substrate der modernen Welt. Explodierende Köpfe, abgehackte Gliedmaßen und geschändete Kinder - die Meldungen laufen als Band am Kopf der Seiten mit und kommentieren als grotesk-grausame écriture automatique den kleinbürgerlichen Alltag.
Streng, modern und schnörkellos erzählt Boon diesen dreifachen Absturz, ausgehend von kleinen, realistischen Szenen, die durch verräterische Blicke oder provokante Gesten ins Symbolische kippen. Denn als das Mädchen ins Haus kommt, beginnt der Mann sie fasziniert und systematisch zu beobachten, registriert jede Linie ihres Körpers und jedes Zucken der Mundwinkel. Seine Traurigkeit, die ihm immer diffus und schwarz-klumpig erschien, entfaltet sich jetzt zu einer vielschichtigen Erregung, die immer radikaler wird und gegen das Wie und Warum der Dinge selbst wütet. Unter seinem begehrenden Blick verwandelt sich das Mädchen, das aus einer armen Familie kommt und eine scharfe, empfindsame Beobachterin ist, in eine Lolita, ein Nymphchen, das mit seiner Macht spielt - skrupellos experimentierend wie ein Kind, das Fliegen quält. Es ist wohl Zufall, dass Nabokovs "Lolita" im selben Jahr wie "Menuett" erschien, doch zeigt sich in beiden Romanen eine verwandte Radikalität, auch wenn sie an sehr unterschiedlichen psychischen und kulturellen Orten angesiedelt sind: Lolita ist eine von der amerikanischen Jugendkultur hoffnungslos verdorbene Göre und der labile Ästhet Humbert "ein eitler, grausamer Schuft", wie Nabokov einmal erklärte.
Die bleierne, enge Nachkriegszeit hat Boon in seinem Kammerspiel sehr genau und in kunstvoll lakonischem Ton eingefangen, mit einer Melancholie, die über das Erleben des Einzelnen weit hinausreicht. Es ist die Fragilität des menschlichen Lebens selbst, die sein Erzähler betrauert, während ihm jeder Satz und jede Wahrnehmung zweifelhaft scheinen und als einzig lebendiger, hoffnungsvoll anarchischer Impuls das sexuelle Begehren bleibt. In einer der schönsten und eindringlichsten Szenen des Romans starrt der Mann hilflos auf das Mädchen im Spiegel, den sie, mit geöffneten Schenkeln davor hockend, gerade putzt. Mutwillig verwischt sie mit dem Wasserlappen immer wieder das Bild, während er sich in ihre andere, in einer graziösen Geste nutzlos ausgestreckte Hand verliebt, "die Hand eines Ertrinkenden, die allein noch existierte und weiterlebte, während der restliche Körper schon unterging".
Die Nymphe Ophelia - viele Züge hat der Mann mit Boons Lieblingsfigur Hamlet gemein: das Zögern und Zweifeln ebenso wie das Gefühl, die ganze Last der Welt auf den Schultern zu tragen. Sogar eine Totengräber-Szene gibt es (wenn auch nur die Plazenta nach einer verstörenden Geburt bestattet wird), in der unser Held sich endgültig eingesteht, aus der Welt gefallen zu sein, weil er gerade vor ihrer rohen Dummheit und seinem brutal in die Ehe eingebrochenen Schwager kapituliert. Doch ist er weder selbstmitleidig noch anklagend, sondern hin- und hergerissen zwischen faszinierter Beobachtung und Niedergeschlagenheit - in jedem Satz fallen dabei Grausamkeit und Zärtlichkeit perfekt in eins. Das ist einer der Gründe, warum sich der Roman noch heute so lebendig liest (1975 erschien er im Aufbau-Verlag erstmals auf Deutsch).
"Menuett" ist zweifellos Boons persönlichstes Buch. Und das nicht nur, weil er für Kindfrauen schwärmte und eine riesige Sammlung von Lolita-Bildern (wie er sie nannte) besaß, sondern weil er hier seine - beklemmend aktuelle - Sicht der Dinge formuliert: Das Leben erscheint ihm als leidenschaftliche Jagd, der stets ihr Gegenstand entrinnt, weil er zum größten Teil ein Sehnsuchtsbild im Kopf des Jägers ist und seinen kümmerlichen realen Rest die irdische Inbesitznahme längst zerstört hat.
NICOLE HENNEBERG
Louis Paul Boon: "Menuett". Roman.
Aus dem Niederländischen von Barbara und Alfred Antkowiak. Alexander Verlag, Berlin 2011. 150 S., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lolita in Flandern: Louis Paul Boon erzählt in seinem 1955 erstmals erschienenen Roman "Menuett" von der Sehnsucht des Kleinbürgers nach dem guten Leben. Eine Wiederbegegnung.
Meine Arbeit im Eiskeller war ziemlich eintönig: Ich maß die Temperaturen, die Tag und Nacht auf dem Gefrierpunkt stehen mussten. Es war keine schwere Arbeit, aber nur wenige hielten es aus, täglich acht Stunden lang am Nordpol zu sein", so beginnt "der Mann" in Louis Paul Boons Roman "Menuett" seine bittere, lakonisch vorgetragene Selbstauskunft. Boon gehört zu den wichtigsten flämischen Schriftstellern, und wie er in diesem hochkonzentrierten Buch, das bei seinem Erscheinen 1955 einen Skandal auslöste, drei Personen in einem düsteren Tanz auf eine Katastrophe zutaumeln lässt, die nur einen kleinen Schritt neben der ganz durchschnittlichen, banalen Normalität beginnt, ist schlicht meisterhaft.
Boons ganzes Werk ist vom rigorosen Zweifel an der Humanität und Liebesfähigkeit der Menschen geprägt, überall sah er Brutalität, Elend und Hoffnungslosigkeit. Er ist seinen Figuren, hart arbeitenden Handwerkern und Fabrikarbeitern in armseligen Vorstadtwohnungen, leidenschaftlich zugetan und erzählt in klaren Sätzen von ihrer vergeblichen Jagd nach Glück - ein unerfüllbarer Traum, dessen Details sich die Träumenden noch nicht einmal selbst wählen können. Das besorgen bigotte Priester für sie, die lächerlichen Diener einer hierarchischen Industriegesellschaft.
"Jeder von uns ist eine Insel, von verräterischem Wasser umschlossen, und was wir alle zusammen erreicht haben, ist nichts als Zufall", lautet einer der letzten Sätze des Romans. In seinem Zentrum steht die Figur jenes im Eiskeller arbeitenden und dort lange Selbstgespräche führenden Mannes - eines der vielen autobiographischen Motive, denn auch Boon, der aus einer Arbeiterfamilie stammte, hatte im Eiskeller einer Brauerei gearbeitet. Mit seinen Grübeleien prägt der Mann die Atmosphäre des Romans, ja mehr noch: Durch seinen Blick erzeugt er erst dessen Welt - ein Verfahren, das auf allen Erzählebenen mitreflektiert wird.
Die Handlung ist angelegt wie ein Triptychon. Nach dem Mann sprechen seine Frau und das kindliche Dienstmädchen, in unterschiedlichen Tonlagen: selbstgefällig, wissbegierig und fordernd "das Mädchen", naiv-ratlos und zugleich pragmatisch "die Frau". Alle drei bemühen sich, aufrichtig zu sein, und lassen damit die Missverständnisse zwischen ihnen nur noch bodenloser erscheinen. Der Frau, die in ihrer Schlichtheit sein Schweigen bösartig und seine Ratlosigkeit einfach unverschämt findet, fällt der undankbarste Part in diesem Spiel zu: Sie steht als ängstliche, bienenfleißige Aufsteigerin da, die sich nichts als ein biederes Glück wünscht.
Überraschend ist dann die Großherzigkeit, mit der sie die rücksichtslose, sich ganz im Genuss verlierende Neugier der beiden anderen anerkennt (hier hört man eher den Autor sprechen): Es gehe eben um eine Art "Dissertation für die Hochschule des Lebens", und kein Detail dürfe ausgelassen werden.
Ganz langsam rutscht das Häuschen mit seinem winzigen Garten einem Abgrund aus Wut, Misstrauen, Betrug und Kränkung entgegen. Der Mann beginnt exzessiv, sadistische Zeitungsausschnitte zu sammeln, die er in seiner "Rumpelkammer" wie einen Schutzwall aus Fakten gegen eine bösartige und verlogene Gesellschaft ringsum auftürmt. Er fühlt sich den tratschenden Nachbarinnen, die ständig vom Tod reden, ohne ihn zu begreifen, genauso ausgeliefert wie seinen zwanghaft arbeitenden, tiefreligiösen Schwiegereltern. Den verhassten Kriegsdienst erlebt er als tiefe Entwürdigung, und als er nach kurzer, traumatischer Gefangenschaft wieder in seinem Kämmerchen sitzt, liest er die Nachrichten ganz wörtlich als Substrate der modernen Welt. Explodierende Köpfe, abgehackte Gliedmaßen und geschändete Kinder - die Meldungen laufen als Band am Kopf der Seiten mit und kommentieren als grotesk-grausame écriture automatique den kleinbürgerlichen Alltag.
Streng, modern und schnörkellos erzählt Boon diesen dreifachen Absturz, ausgehend von kleinen, realistischen Szenen, die durch verräterische Blicke oder provokante Gesten ins Symbolische kippen. Denn als das Mädchen ins Haus kommt, beginnt der Mann sie fasziniert und systematisch zu beobachten, registriert jede Linie ihres Körpers und jedes Zucken der Mundwinkel. Seine Traurigkeit, die ihm immer diffus und schwarz-klumpig erschien, entfaltet sich jetzt zu einer vielschichtigen Erregung, die immer radikaler wird und gegen das Wie und Warum der Dinge selbst wütet. Unter seinem begehrenden Blick verwandelt sich das Mädchen, das aus einer armen Familie kommt und eine scharfe, empfindsame Beobachterin ist, in eine Lolita, ein Nymphchen, das mit seiner Macht spielt - skrupellos experimentierend wie ein Kind, das Fliegen quält. Es ist wohl Zufall, dass Nabokovs "Lolita" im selben Jahr wie "Menuett" erschien, doch zeigt sich in beiden Romanen eine verwandte Radikalität, auch wenn sie an sehr unterschiedlichen psychischen und kulturellen Orten angesiedelt sind: Lolita ist eine von der amerikanischen Jugendkultur hoffnungslos verdorbene Göre und der labile Ästhet Humbert "ein eitler, grausamer Schuft", wie Nabokov einmal erklärte.
Die bleierne, enge Nachkriegszeit hat Boon in seinem Kammerspiel sehr genau und in kunstvoll lakonischem Ton eingefangen, mit einer Melancholie, die über das Erleben des Einzelnen weit hinausreicht. Es ist die Fragilität des menschlichen Lebens selbst, die sein Erzähler betrauert, während ihm jeder Satz und jede Wahrnehmung zweifelhaft scheinen und als einzig lebendiger, hoffnungsvoll anarchischer Impuls das sexuelle Begehren bleibt. In einer der schönsten und eindringlichsten Szenen des Romans starrt der Mann hilflos auf das Mädchen im Spiegel, den sie, mit geöffneten Schenkeln davor hockend, gerade putzt. Mutwillig verwischt sie mit dem Wasserlappen immer wieder das Bild, während er sich in ihre andere, in einer graziösen Geste nutzlos ausgestreckte Hand verliebt, "die Hand eines Ertrinkenden, die allein noch existierte und weiterlebte, während der restliche Körper schon unterging".
Die Nymphe Ophelia - viele Züge hat der Mann mit Boons Lieblingsfigur Hamlet gemein: das Zögern und Zweifeln ebenso wie das Gefühl, die ganze Last der Welt auf den Schultern zu tragen. Sogar eine Totengräber-Szene gibt es (wenn auch nur die Plazenta nach einer verstörenden Geburt bestattet wird), in der unser Held sich endgültig eingesteht, aus der Welt gefallen zu sein, weil er gerade vor ihrer rohen Dummheit und seinem brutal in die Ehe eingebrochenen Schwager kapituliert. Doch ist er weder selbstmitleidig noch anklagend, sondern hin- und hergerissen zwischen faszinierter Beobachtung und Niedergeschlagenheit - in jedem Satz fallen dabei Grausamkeit und Zärtlichkeit perfekt in eins. Das ist einer der Gründe, warum sich der Roman noch heute so lebendig liest (1975 erschien er im Aufbau-Verlag erstmals auf Deutsch).
"Menuett" ist zweifellos Boons persönlichstes Buch. Und das nicht nur, weil er für Kindfrauen schwärmte und eine riesige Sammlung von Lolita-Bildern (wie er sie nannte) besaß, sondern weil er hier seine - beklemmend aktuelle - Sicht der Dinge formuliert: Das Leben erscheint ihm als leidenschaftliche Jagd, der stets ihr Gegenstand entrinnt, weil er zum größten Teil ein Sehnsuchtsbild im Kopf des Jägers ist und seinen kümmerlichen realen Rest die irdische Inbesitznahme längst zerstört hat.
NICOLE HENNEBERG
Louis Paul Boon: "Menuett". Roman.
Aus dem Niederländischen von Barbara und Alfred Antkowiak. Alexander Verlag, Berlin 2011. 150 S., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main