Über das Jahrhundertauto scheint schon alles geschrieben zu sein. Und doch bietet dieser Prachtband einen neuen Ansatz. Autor Hans Kleissl ist ausgewiesener SL-Experte und präsentiert in seinem Werk besondere Informationen, Fakten und vor allem Bilder aus dem Werksarchiv, die seit Urzeiten keiner mehr gesichtet hat. Seine Firma ist eine der Top-Adressen weltweit für die Restaurierung von Flügeltürern und Roadstern. Zusammen mit Dr. Harry Niemann ist ein herausragendes Buch zum Thema SL entstanden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2017Heißes Geflügel
Der Mercedes 300 SL war ein Traumauto. Heute ist er rar.
Von Wolfgang Peters
Der Junge mit dem Fahrrad trug eine kurze, abgenutzte Lederhose mit einem Edelweiß auf dem Steg zwischen den Trägern, hatte zwei verschorfte Knie und einen Sonnenbrand. Im heißen August des Sommers 1962 hockte er in der Augsburger Bahnhofstraße unter einer Kastanie und starrte auf ein Auto. Der Junge wartete den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein. Als der Fahrer kam und der Motor mit einem Geräusch startete, das wie ein unterdrückter Schrei klang, da erwachte der Junge. Er hörte die Heiserkeit aus dem Auspuff, vernahm das trockene Klopfen einer harten Verbrennung, spürte das feine Zittern der Kupplungsfedern aus dem Inneren des Antriebs, hatte im Ohr das Klacken vom Einrasten des Schalthebels, dann folgte ein kurzer, kontrollierender Gasstoß, und der Junge fühlte das heiße Ausatmen der höher drehenden Maschine im Gesicht, das Auto beschleunigte und war weg.
Aber im Gedächtnis des Jungen und im Innersten der deutschen Automobilgeschichte lebt es unverändert. Seine Faszination bebt und pulsiert über Jahrzehnte hinweg, und jetzt ist der Junge, der kein Bub mehr ist, dem Mythos des Original-SL wiederbegegnet.
In einem Buch, das einlädt zum Blättern und Schmökern und sich anfasst wie ein gewichtiger Backstein aus dem Haus der automobilen Erinnerungen: Die beiden Buchautoren widmeten sich dem vielleicht lebendigsten Automobildenkmal aller Zeiten. "Das Jahrhundertauto" nähert sich dem Phänomen Mercedes-Benz 300 SL über mehrere Wege, wobei der beste Erzählstrang aus vielen kleinen Schritten besteht. Natürlich werden Entstehung und Technik sowie die unvermeidlichen Daten mit Fahrgestellnummern und lieferbaren Farben für die Lackierung getreulich aufgelistet. Doch wie ein bedächtiger Mensch einen Fuß vor den anderen setzt, so reiht das Buch ein erzählendes Kapitel an das vorige, sich behutsam dem eigentlichen Kern dieser SL-Faszination nähernd. Sozialwissenschaftler und Journalist Harry Niemann sowie der 300-SL-Experte und -Enthusiast Hans Kleissl finden den SL-Charakter in jenen Menschen, die ihm über Jahre hinweg verbunden waren und es häufig noch sind. Diese Menschen tragen meist berühmte Namen, und es sind fast immer Männer, nicht selten dürfen sie als "Machos" bezeichnet werden. Das liegt daran, dass dieser Mercedes ein sehr männliches Auto war, geboren in einer Zeit, als Frauen wie schmückendes Beiwerk eingeschätzt wurden. Sie umschwärmten seine Fahrer, finanzierten nicht selten Leben und Leidenschaften dieser Männer, die Industrielle, einfach reiche Kerle, Künstler und Lebenskünstler (sie existierten damals als Playboys), aber auch hartgesottene Rennfahrer waren, die mit dem SL ihr Leben aufs Spiel setzten. Dabei arbeitet das Buch sehr schön das andere SL-Wesen heraus: Unter der Geschmeidigkeit eines erschütternd-eleganten Karosseriedesigns (vom unerhört zeitlos entwerfenden Friedrich Geiger) verbirgt sich die Brutalität des Rennautos. Wie das alles zusammen entstand, wie sich Kühnheit und Kunst, Renncharakter und Lebensgefühl in diesem Auto fanden und zur wohl ewigen Faszination führten, das wird über eine etwas knappe Textmenge, noch mehr jedoch über historisches und aktuelles Bildmaterial deutlich. Immer wird im Hintergrund die jenseits von Technik und mitunter durchaus von distanzierter Begeisterung definierte Bedeutung des 300 SL sichtbar. Der nur als Flügeltürer-Coupé und als Roadster mit etwa 3258 Exemplaren gebaute Zweisitzer prägte Mercedes, wurde neben Porsche zum Symbol deutscher Sportwagen und im Markt für alte Autos zum Objekt der Begierde.
Der Mercedes 300 SL ist nur äußerlich ein Automobil mit vier bis zum Boden reichenden Rädern. In seiner Summe kann er selbst sechzig Jahre nach seiner Premiere aus dem Leben eines Mannes ein fortwährendes Autorennen machen. Den Original-SL im Alltag zu fahren, das ist wie die Verbindung zu einem menschlich-mechanischen Zauberwesen. Ein mythischer Vorgang, ohne die Hängematte von Assistenzsystemen, näher kommt keiner an die Quelle der automobilen Erkenntnis. Immerhin ist dieses Buch dafür ein guter Begleiter. Aber es taugt vor allem aus zwei Gründen nicht zur abendlichen Bettlektüre. Erstens lastet es schwer auf dem ruhenden Körper des Lesenden. Und zweitens raubt es ihm den Schlaf. Er wird den Rest der Nacht mit Grübeleien verbringen, um das nötige Kapital zum Kauf dieses alten Autos aufzutreiben: Man hätte die ersten SL für knapp 30 000 Mark holen können, heute sind eineinhalb Millionen Euro die Basis von Verhandlungen. Der Junge mit dem Fahrrad hat nie einen SL besessen. Aber er darf häufig in einem alten Exemplar zu Gast sein.
Mercedes-Benz 300 SL. Das Jahrhundertauto. Von Hans Kleissl und Harry Niemann. Motorbuch Verlag, 368 Seiten, 400 Abbildungen, 99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Mercedes 300 SL war ein Traumauto. Heute ist er rar.
Von Wolfgang Peters
Der Junge mit dem Fahrrad trug eine kurze, abgenutzte Lederhose mit einem Edelweiß auf dem Steg zwischen den Trägern, hatte zwei verschorfte Knie und einen Sonnenbrand. Im heißen August des Sommers 1962 hockte er in der Augsburger Bahnhofstraße unter einer Kastanie und starrte auf ein Auto. Der Junge wartete den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein. Als der Fahrer kam und der Motor mit einem Geräusch startete, das wie ein unterdrückter Schrei klang, da erwachte der Junge. Er hörte die Heiserkeit aus dem Auspuff, vernahm das trockene Klopfen einer harten Verbrennung, spürte das feine Zittern der Kupplungsfedern aus dem Inneren des Antriebs, hatte im Ohr das Klacken vom Einrasten des Schalthebels, dann folgte ein kurzer, kontrollierender Gasstoß, und der Junge fühlte das heiße Ausatmen der höher drehenden Maschine im Gesicht, das Auto beschleunigte und war weg.
Aber im Gedächtnis des Jungen und im Innersten der deutschen Automobilgeschichte lebt es unverändert. Seine Faszination bebt und pulsiert über Jahrzehnte hinweg, und jetzt ist der Junge, der kein Bub mehr ist, dem Mythos des Original-SL wiederbegegnet.
In einem Buch, das einlädt zum Blättern und Schmökern und sich anfasst wie ein gewichtiger Backstein aus dem Haus der automobilen Erinnerungen: Die beiden Buchautoren widmeten sich dem vielleicht lebendigsten Automobildenkmal aller Zeiten. "Das Jahrhundertauto" nähert sich dem Phänomen Mercedes-Benz 300 SL über mehrere Wege, wobei der beste Erzählstrang aus vielen kleinen Schritten besteht. Natürlich werden Entstehung und Technik sowie die unvermeidlichen Daten mit Fahrgestellnummern und lieferbaren Farben für die Lackierung getreulich aufgelistet. Doch wie ein bedächtiger Mensch einen Fuß vor den anderen setzt, so reiht das Buch ein erzählendes Kapitel an das vorige, sich behutsam dem eigentlichen Kern dieser SL-Faszination nähernd. Sozialwissenschaftler und Journalist Harry Niemann sowie der 300-SL-Experte und -Enthusiast Hans Kleissl finden den SL-Charakter in jenen Menschen, die ihm über Jahre hinweg verbunden waren und es häufig noch sind. Diese Menschen tragen meist berühmte Namen, und es sind fast immer Männer, nicht selten dürfen sie als "Machos" bezeichnet werden. Das liegt daran, dass dieser Mercedes ein sehr männliches Auto war, geboren in einer Zeit, als Frauen wie schmückendes Beiwerk eingeschätzt wurden. Sie umschwärmten seine Fahrer, finanzierten nicht selten Leben und Leidenschaften dieser Männer, die Industrielle, einfach reiche Kerle, Künstler und Lebenskünstler (sie existierten damals als Playboys), aber auch hartgesottene Rennfahrer waren, die mit dem SL ihr Leben aufs Spiel setzten. Dabei arbeitet das Buch sehr schön das andere SL-Wesen heraus: Unter der Geschmeidigkeit eines erschütternd-eleganten Karosseriedesigns (vom unerhört zeitlos entwerfenden Friedrich Geiger) verbirgt sich die Brutalität des Rennautos. Wie das alles zusammen entstand, wie sich Kühnheit und Kunst, Renncharakter und Lebensgefühl in diesem Auto fanden und zur wohl ewigen Faszination führten, das wird über eine etwas knappe Textmenge, noch mehr jedoch über historisches und aktuelles Bildmaterial deutlich. Immer wird im Hintergrund die jenseits von Technik und mitunter durchaus von distanzierter Begeisterung definierte Bedeutung des 300 SL sichtbar. Der nur als Flügeltürer-Coupé und als Roadster mit etwa 3258 Exemplaren gebaute Zweisitzer prägte Mercedes, wurde neben Porsche zum Symbol deutscher Sportwagen und im Markt für alte Autos zum Objekt der Begierde.
Der Mercedes 300 SL ist nur äußerlich ein Automobil mit vier bis zum Boden reichenden Rädern. In seiner Summe kann er selbst sechzig Jahre nach seiner Premiere aus dem Leben eines Mannes ein fortwährendes Autorennen machen. Den Original-SL im Alltag zu fahren, das ist wie die Verbindung zu einem menschlich-mechanischen Zauberwesen. Ein mythischer Vorgang, ohne die Hängematte von Assistenzsystemen, näher kommt keiner an die Quelle der automobilen Erkenntnis. Immerhin ist dieses Buch dafür ein guter Begleiter. Aber es taugt vor allem aus zwei Gründen nicht zur abendlichen Bettlektüre. Erstens lastet es schwer auf dem ruhenden Körper des Lesenden. Und zweitens raubt es ihm den Schlaf. Er wird den Rest der Nacht mit Grübeleien verbringen, um das nötige Kapital zum Kauf dieses alten Autos aufzutreiben: Man hätte die ersten SL für knapp 30 000 Mark holen können, heute sind eineinhalb Millionen Euro die Basis von Verhandlungen. Der Junge mit dem Fahrrad hat nie einen SL besessen. Aber er darf häufig in einem alten Exemplar zu Gast sein.
Mercedes-Benz 300 SL. Das Jahrhundertauto. Von Hans Kleissl und Harry Niemann. Motorbuch Verlag, 368 Seiten, 400 Abbildungen, 99 Euro.
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