Im Mittelpunkt des neuen Romans von Pawel Huelle, einem der besten polnischen Erzähler der Gegenwart, steht die Familiengeschichte des Autors. Der Erzähler, inspiriert von mehreren Schwarzweißfotos seines Großvaters, auf denen ein Mercedes Benz 170, sein ganzer Stolz, zu sehen ist, und angerührt von der Nachricht vom Tod Bohumil Hrabals, erinnert sich an seine junge, schöne Fahrlehrerin Fräulein Ciwle. Verlegen und aufgeregt zugleich hat er, der deutlich Ältere, während der Fahrstunden eine Geschichte an die andere gereiht.
Gleichzeitig blendet der Roman in die Gegenwart Polens Ende der neunziger Jahre über, man erfährt von Fräulein Ciwles schwieriger Lebenssituation und warum es doch nicht zur Liebesaffaire zwischen ihr und ihrem Fahrschüler kommt.
Gleichzeitig blendet der Roman in die Gegenwart Polens Ende der neunziger Jahre über, man erfährt von Fräulein Ciwles schwieriger Lebenssituation und warum es doch nicht zur Liebesaffaire zwischen ihr und ihrem Fahrschüler kommt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2003Das Leben ist eine Fahrschule
Rückwärts einparken mit Fräulein Ciwle: Pawel Huelle setzt perfekt in die Lücke der Geschichte
Es gibt Tätigkeiten, die man nicht gleichzeitig ausführen kann, oder jedenfalls nicht ohne unangenehmste Folgen. Zwischen Zähneputzen und Telefonieren sollte man sich tunlichst entscheiden oder auch zwischen Jogging und Maniküre. Gleiches gilt für das Autofahren und das Lesen. Wer jedoch bisher das Steuern eines Pkws und das Erzählen für einander ausschließende Beschäftigungen gehalten hat, wird mit dem neuen Roman des Danzigers Pawel Huelle eines Besseren belehrt.
Denn während der nervöse Erzähler neben Fräulein Ciwle, seiner hübschen Fahrlehrerin, Blut und Wasser schwitzt, plappert er los, als ginge es nicht um den Führerschein, sondern den Literaturnobelpreis. Als der kleine Fiat mitten auf der Kreuzung zwischen einer Straßenbahn und einem Lkw eingeklemmt ist und die erste Fahrstunde in einem Fiasko zu enden droht - seinem "ersten autotechnischen Golgatha" -, wendet sich der Schüler der Geschichte seiner Großmutter Maria zu, deren Fahrstunde 1925 ein außerplanmäßiges Ende nahm. Während damals der nagelneue Citroën auf dem Bahnübergang absoff und sich die Insassen vor dem heranrauschenden Eilzug Wilna - Baranowicze - Lemberg nur durch Flucht in letzter Sekunde retten konnten, meistert hier Fräulein Ciwle nach raschem Plätzetausch die Situation und zeigt dem wütenden Mob, was eine erzählerische Volte ist. Die Fahrstunde wird Huelle zur poetischen Ursituation: Wer erzählt, wird gerettet, wer redet, ist nicht Schrott.
Umgekehrt aber nahm sich Huelle beim Erzählen das organisierte Chaos des Danziger Stadtverkehrs zum Vorbild - so scheinen die einzelnen Worte seiner oft über eine halbe Seite reichenden Sätze dreispurig dahinzugleiten, sich im Kreisverkehr zu drehen und waghalsige Wendungen zu vollziehen, denen der Leser mit größter Aufmerksamkeit folgen muß, will er abgehängt werden: "Großvater Karol gab scharf Gas, und in diesem Moment kam aus dem Tor des Nachbarhauses der Wagen des Milchmanns heraus, Großvater drückte zwar auf die Bremse, aber das war die Bremse eines Citroëns, eine Klotzbremse, keine hydraulische, und so raste das französische Wunderding voll in die Pyramide der Milchkannen, Blech schepperte, zerschlagenes Glas klirrte, die Hupe dröhnte und Großmutter, die Großvater auf die Straße nachgelaufen war, um ihm hinterherzuschreien ,Leb du wohl!', jagte jetzt mit wehendem Haar an die Unfallstelle und zog ihren Verlobten aus der weißen Soße, strich ihm über die Stirn, die er sich an der Vorderscheibe zerschnitten hatte, und flüsterte: ,Mein Karolek, du bist doch der einzige, den ich liebe!'". Die richtigen Bremsen sind das wichtigste Ausstattungsstück dieser erzählerischen S-Klasse - "S" wie "Schelmenroman".
Denn nur so sind die scharfen Kurven und überraschenden Ausfahrten unfallfrei zu nehmen, in die das neugierige Fräulein Ciwle den Erzähler fast im Befehlston dirigiert. Von der grotesken Geschichte des großmütterlichen Totalschadens, die mit einer Auszeichnung des Lokführers und einem kostenlosen Neuwagen endet, bevor auch dieser aufgrund der beschriebenen technischen Mängel ein trauriges Ende nimmt, über die Schilderung waghalsiger "Fuchsjagden" per Mercedes-Benz in den dreißiger Jahren, die die Großeltern - Vorsprung durch Technik - stets für sich entscheiden konnten, bis zur Konfiszierung des Traumautos während des Krieges zugunsten eines gewissen Kommissars Chruschtschow - all das wird im rasanten Tonfall des angsterfüllten Novizen erzählt, der sich vor der rauhen Realität des Straßenverkehr in die virtuellen Fahrten der Vergangenheit flüchtet.
Die pikareske Form, in der satirische Skizzen der postsozialistischen Realität mit der Familiengeschichte Huelles verschränkt werden, könnte dazu verführen, diesen Roman zu unterschätzen. Dabei konzentriert er im Rückspiegel seiner Karossen nicht weniger als das Schicksal Polens im zwanzigsten Jahrhundert - von der kulturellen Blüte der Zwischenkriegszeit über Krieg und Besatzung bis zur sozialistischen Stagnation und den Wirbeln der frühen neunziger Jahre. Zugleich ist der Roman durch und durch aus literarischen Anspielungen gefertigt - so wie der titelgebende "Mercedes-Benz"-Oldtimer des Vaters schließlich nur noch aus Ersatzteilen bestand.
"Lieber Herr Bohumil, wieder hat das Leben einen außerordentlichen Bogen geschlagen", so beginnt "Mercedes-Benz". Huelles Roman ist als offene Hommage an den großen Tschechen Bohumil Hrabal angelegt, der 1997 zu Tode stürzte; sein erzählerischer Rahmen ist ein postumer Brief an das bewunderte Vorbild, dem sich Huelle in Tonfall und Figuren - etwa dem Großvater - anschmiegt. Vor allem Hrabals Erzählung "Abendliche Fahrstunde" ist der zarten Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und dem Fräulein Ciwle Leitmotiv und Losung. Aber auch das nah an der Traumgrenze angesiedelte Galizien eines Bruno Schulz oder Günter Grass nehmen gelegentlich auf dem Beifahrersitz Platz.
Wie schon Huelles großer Roman "Weiser Dawidek" ist "Mercedes-Benz" eine Erforschung des Mysteriums Erinnerung, der poetischen Produktivkraft schlechthin. Wenn die Geschichten um das autonärrische Paar Maria und Karol immer unwahrscheinlicher - und zugleich von Fotografien aus dem Familienalbum beglaubigt - werden, weist Fräulein Ciwle den Erzähler zurecht, weil er die Lücken der Geschichte ein ums andere Mal mit seiner Fabulierkunst auffüllt. Fotografie ist neben dem Automobil die andere unverzichtbare Technik des Romanciers. Fotos sind die Straßenkarten jeder Reise in die Vergangenheit, doch ersetzt ihre Betrachtung nicht die Fahrt.
Als Höhepunkt des Unterrichts, der von der Fahrstunde zur Geschichtslektion wurde, erlebt der Erzähler schließlich eine rauschhafte Nacht mit Fräulein Ciwle. Doch diese endlich erlebte Gegenwart des Glücks ist nur Schein; der wahre Kern der Liebe ist wie bei den Großeltern nicht mehr freizulegen. Selbst die Stadt Danzig, deren Porträt Huelle nebenbei entwirft, ist von diesem Makel der Undurchdringlichkeit gezeichnet: "Wieder überwucherten Brennesseln, Quecken und weißer Gänsefuß die Stadt, die ich nie gemocht hatte, die fremde, niederträchtige, unechte Stadt, Jahr für Jahr sank sie einen Millimeter tiefer in den Moder der eigenen Mythen, als hätte sie eine zu geringe Dosis Sonnenschein abbekommen, als hätte sich der alte Geruch von Hering, Pech, Rost und Algen als undurchdringlicher Schleier auf das fette Wasser der Kanäle gelegt."
Ein schmales Buch, ein leichtes, wendiges Buch; seine Karosserie gleicht eher einem Fiat Polski denn einem Mercedes. Doch wer je in Danzig oder Warschau einen Parkplatz suchte, weiß um den Segen der kleinen Form. Nichts bewegt Sie wie ein Roman.
Pawel Huelle: "Mercedes-Benz". Aus den Briefen an Hrabal. Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2003. 160 S., Abb., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückwärts einparken mit Fräulein Ciwle: Pawel Huelle setzt perfekt in die Lücke der Geschichte
Es gibt Tätigkeiten, die man nicht gleichzeitig ausführen kann, oder jedenfalls nicht ohne unangenehmste Folgen. Zwischen Zähneputzen und Telefonieren sollte man sich tunlichst entscheiden oder auch zwischen Jogging und Maniküre. Gleiches gilt für das Autofahren und das Lesen. Wer jedoch bisher das Steuern eines Pkws und das Erzählen für einander ausschließende Beschäftigungen gehalten hat, wird mit dem neuen Roman des Danzigers Pawel Huelle eines Besseren belehrt.
Denn während der nervöse Erzähler neben Fräulein Ciwle, seiner hübschen Fahrlehrerin, Blut und Wasser schwitzt, plappert er los, als ginge es nicht um den Führerschein, sondern den Literaturnobelpreis. Als der kleine Fiat mitten auf der Kreuzung zwischen einer Straßenbahn und einem Lkw eingeklemmt ist und die erste Fahrstunde in einem Fiasko zu enden droht - seinem "ersten autotechnischen Golgatha" -, wendet sich der Schüler der Geschichte seiner Großmutter Maria zu, deren Fahrstunde 1925 ein außerplanmäßiges Ende nahm. Während damals der nagelneue Citroën auf dem Bahnübergang absoff und sich die Insassen vor dem heranrauschenden Eilzug Wilna - Baranowicze - Lemberg nur durch Flucht in letzter Sekunde retten konnten, meistert hier Fräulein Ciwle nach raschem Plätzetausch die Situation und zeigt dem wütenden Mob, was eine erzählerische Volte ist. Die Fahrstunde wird Huelle zur poetischen Ursituation: Wer erzählt, wird gerettet, wer redet, ist nicht Schrott.
Umgekehrt aber nahm sich Huelle beim Erzählen das organisierte Chaos des Danziger Stadtverkehrs zum Vorbild - so scheinen die einzelnen Worte seiner oft über eine halbe Seite reichenden Sätze dreispurig dahinzugleiten, sich im Kreisverkehr zu drehen und waghalsige Wendungen zu vollziehen, denen der Leser mit größter Aufmerksamkeit folgen muß, will er abgehängt werden: "Großvater Karol gab scharf Gas, und in diesem Moment kam aus dem Tor des Nachbarhauses der Wagen des Milchmanns heraus, Großvater drückte zwar auf die Bremse, aber das war die Bremse eines Citroëns, eine Klotzbremse, keine hydraulische, und so raste das französische Wunderding voll in die Pyramide der Milchkannen, Blech schepperte, zerschlagenes Glas klirrte, die Hupe dröhnte und Großmutter, die Großvater auf die Straße nachgelaufen war, um ihm hinterherzuschreien ,Leb du wohl!', jagte jetzt mit wehendem Haar an die Unfallstelle und zog ihren Verlobten aus der weißen Soße, strich ihm über die Stirn, die er sich an der Vorderscheibe zerschnitten hatte, und flüsterte: ,Mein Karolek, du bist doch der einzige, den ich liebe!'". Die richtigen Bremsen sind das wichtigste Ausstattungsstück dieser erzählerischen S-Klasse - "S" wie "Schelmenroman".
Denn nur so sind die scharfen Kurven und überraschenden Ausfahrten unfallfrei zu nehmen, in die das neugierige Fräulein Ciwle den Erzähler fast im Befehlston dirigiert. Von der grotesken Geschichte des großmütterlichen Totalschadens, die mit einer Auszeichnung des Lokführers und einem kostenlosen Neuwagen endet, bevor auch dieser aufgrund der beschriebenen technischen Mängel ein trauriges Ende nimmt, über die Schilderung waghalsiger "Fuchsjagden" per Mercedes-Benz in den dreißiger Jahren, die die Großeltern - Vorsprung durch Technik - stets für sich entscheiden konnten, bis zur Konfiszierung des Traumautos während des Krieges zugunsten eines gewissen Kommissars Chruschtschow - all das wird im rasanten Tonfall des angsterfüllten Novizen erzählt, der sich vor der rauhen Realität des Straßenverkehr in die virtuellen Fahrten der Vergangenheit flüchtet.
Die pikareske Form, in der satirische Skizzen der postsozialistischen Realität mit der Familiengeschichte Huelles verschränkt werden, könnte dazu verführen, diesen Roman zu unterschätzen. Dabei konzentriert er im Rückspiegel seiner Karossen nicht weniger als das Schicksal Polens im zwanzigsten Jahrhundert - von der kulturellen Blüte der Zwischenkriegszeit über Krieg und Besatzung bis zur sozialistischen Stagnation und den Wirbeln der frühen neunziger Jahre. Zugleich ist der Roman durch und durch aus literarischen Anspielungen gefertigt - so wie der titelgebende "Mercedes-Benz"-Oldtimer des Vaters schließlich nur noch aus Ersatzteilen bestand.
"Lieber Herr Bohumil, wieder hat das Leben einen außerordentlichen Bogen geschlagen", so beginnt "Mercedes-Benz". Huelles Roman ist als offene Hommage an den großen Tschechen Bohumil Hrabal angelegt, der 1997 zu Tode stürzte; sein erzählerischer Rahmen ist ein postumer Brief an das bewunderte Vorbild, dem sich Huelle in Tonfall und Figuren - etwa dem Großvater - anschmiegt. Vor allem Hrabals Erzählung "Abendliche Fahrstunde" ist der zarten Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und dem Fräulein Ciwle Leitmotiv und Losung. Aber auch das nah an der Traumgrenze angesiedelte Galizien eines Bruno Schulz oder Günter Grass nehmen gelegentlich auf dem Beifahrersitz Platz.
Wie schon Huelles großer Roman "Weiser Dawidek" ist "Mercedes-Benz" eine Erforschung des Mysteriums Erinnerung, der poetischen Produktivkraft schlechthin. Wenn die Geschichten um das autonärrische Paar Maria und Karol immer unwahrscheinlicher - und zugleich von Fotografien aus dem Familienalbum beglaubigt - werden, weist Fräulein Ciwle den Erzähler zurecht, weil er die Lücken der Geschichte ein ums andere Mal mit seiner Fabulierkunst auffüllt. Fotografie ist neben dem Automobil die andere unverzichtbare Technik des Romanciers. Fotos sind die Straßenkarten jeder Reise in die Vergangenheit, doch ersetzt ihre Betrachtung nicht die Fahrt.
Als Höhepunkt des Unterrichts, der von der Fahrstunde zur Geschichtslektion wurde, erlebt der Erzähler schließlich eine rauschhafte Nacht mit Fräulein Ciwle. Doch diese endlich erlebte Gegenwart des Glücks ist nur Schein; der wahre Kern der Liebe ist wie bei den Großeltern nicht mehr freizulegen. Selbst die Stadt Danzig, deren Porträt Huelle nebenbei entwirft, ist von diesem Makel der Undurchdringlichkeit gezeichnet: "Wieder überwucherten Brennesseln, Quecken und weißer Gänsefuß die Stadt, die ich nie gemocht hatte, die fremde, niederträchtige, unechte Stadt, Jahr für Jahr sank sie einen Millimeter tiefer in den Moder der eigenen Mythen, als hätte sie eine zu geringe Dosis Sonnenschein abbekommen, als hätte sich der alte Geruch von Hering, Pech, Rost und Algen als undurchdringlicher Schleier auf das fette Wasser der Kanäle gelegt."
Ein schmales Buch, ein leichtes, wendiges Buch; seine Karosserie gleicht eher einem Fiat Polski denn einem Mercedes. Doch wer je in Danzig oder Warschau einen Parkplatz suchte, weiß um den Segen der kleinen Form. Nichts bewegt Sie wie ein Roman.
Pawel Huelle: "Mercedes-Benz". Aus den Briefen an Hrabal. Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2003. 160 S., Abb., geb., 17,90 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2003Meister und Mercedes
Fahrstunde mit Zuhörerin: Pawel Huelle schwärmt für das motorisierte Erzählen
Wer war wohl der „modernste, der avantgardistischste Prosaist des 20. Jahrhunderts”? Nicht nur nach Pawel Huelles Ansicht war es Bohumíl Hrabal, der böhmische Biertrinker und Katzenfreund, der Großmeister des „Bafelns”, wie er die hohe Kunst des Schwätzens getauft hatte. Seit Hrabal im Februar 1997 unter mysteriösen Umständen aus dem Fenster eines Prager Krankenhauses in den Tod stürzte oder sprang, ist sein Leben und Schreiben vollends zur Legende geworden. Sollte man ihm nicht wenigstens postum einen Nobelpreis verleihen, regt Pawel Huelle an, dem Mann, der „aus den schäbigsten Bruchstücken, aus Satzfetzen, aus Resten von Bildern, Tapeten, Fotografien, Lauten und Gerüchen” die wunderbarsten Welten erschuf? Aber auf diesem Ohr ist die Schwedische Akademie eher taub. Man kann Hrabal anders ehren, etwa indem man Hrabal einen Brief schickt. Das hat Pawel Huelle in seinem kleinen, liebenswürdigen Roman „Mercedes-Benz” getan. Herr Pawel in Danzig hat dem verstorbenen Herrn Bohumíl in Prag einen Brief geschrieben, in dem es um beidseits interessierende Themen geht, vor allem um den „motorisierten Faktor” im Leben der beiden, um Autos und Motorräder, um Fahrstunden für Anfänger und Fortgeschrittene und um die platonische Liebe zu einer Fahrlehrerin, mit der Herr Pawel unerwarteterweise die Begeisterung für Bohumíl Hrabal teilt.
Wenn der böhmische Meister und sein polnischer Lehrling erst mal mit dem Erzählen angefangen haben, dann machen sie so schnell keinen Punkt mehr. Erlebnis reiht sich an Erlebnis, Anekdote an Anekdote, eine schöne Schnur aus Perlen, wie sie Hrabal am Stammtisch im „Goldenen Tiger” unter die dort versammelten Säue zu werfen pflegte. Am Ende hat Herr Pawel uns (oder eigentlich seiner reizenden Fahrlehrerin, Fräulein Ciwle) seine komplette Familien(auto)geschichte erzählt und nebenbei auch ohne Führerschein ein ganzes polnisches Jahrhundert durchfahren. Ein zuerst schönes und dann meistens schreckliches Jahrhundert. Das Schöne sieht man auf den Familienfotos der Großeltern, die der Enkel seiner Erzählung beigegeben hat. Das meiste Schöne hat vor 1939 stattgefunden. „...und das war das letzte Foto, das er im alten Polen machte...” steht unter einem Bild; es zeigt die Großmutter als junge Frau mit ihren beiden Söhnen vor dem Mercedes 170 V des Großvaters. Bald darauf wird der Mercedes von der Roten Armee beschlagnahmt. Von dem Schrecklichen, das dann folgt, von der Geschichte „der verbrannten Städte, der Vertreibungen, der liquidierten Berufe” gibt es in diesem Buch keine Bilder mehr.
Erzähler brauchen Zuhörer. Schwer kann man sich geborene Erzähler wie Huelle und Hrabal in der Rolle von Zuhörern vorstellen. Es fällt schon schwer, sich Bohumíl Hrabal als Leser jener Briefe vorzustellen, die ihm sein polnischer Bewunderer zugedacht hat. Hätte er sie nicht vielleicht ungelesen unter seinem eigenen Kram vergraben? Fremde Welten interessieren solche Erzähl- Könige nur dann, wenn sie den Rohstoff für die eigene Produktion liefern. Und wehe, es will keiner zuhören. Aber in Huelles Roman ist da zum Glück Fräulein Ciwle, die Fahrlehrerin. Anders als der abwesende und überdies verstorbene Herr Bohumíl ist sie verlässliches Publikum. Ohnehin, meint Herr Pawel, herrsche zwischen Fahrschüler und –lehrer(in) eine privilegierte Kommunikation, ja im Glücksfall eine „Kommunion des Wortes”. Beflügelt wird sie fraglos durch den Umstand, dass Fräulein Ciwle nicht nur eine der belesensten Fahrlehrerinnen Polens ist, sondern auch, in den Augen ihres Schülers, ganz hinreißend aussieht.
Und so verwandelt sich sehr bald die Fahrstunde in eine literarische und zart-erotische Kommunion, in der sich zwei in einem Auto versammelt haben und ein Dritter, sein Name ist Hrabal, ständig unter ihnen weilt. Und weil Herr Pawel ein schlechter Autofahrer ist und bleiben wird und eigentlich auch gar nicht weiß, wozu er den Führerschein erwirbt, wird kein banaler Zweck die literarische Hauptsache stören – es sei denn, dass eines seiner törichten Fahrmanöver die Lehrerin zum raschen Eingreifen nötigt.
Von den Autos und Zeiten des Großvaters Karol erzählt also Herr Pawel, von dem olivgrünen 170 V, der ihm zum Maß aller motorisierten Dinge wurde, von einem Wettrennen, das sich der Großvater mit einem Heißluftballon lieferte, von goldenen Vorkriegstagen im bürgerlichen Polen und von ihrem jähen Ende – und Fräulein Ciwle möchte immer noch mehr hören, „von der Jagd nach dem Fuchs und vom Automobilklub” und so fort, und ihr Zögling wird ihr auch diesen Wunsch erfüllen. Manchmal weicht jetzt die Route der beiden vom gewohnten Weg und führt in lauen Mainächten an die Gestade der Ostsee. „Wir spürten”, wird nach Prag berichtet, „eine Seelenverwandtschaft, etwas, worüber Shelley, Keats, Byron und Mickiewicz geschrieben haben”. Ob das Namen sind, mit denen Herr Bohumíl etwas anfangen kann? Gern hat Hrabal den Banausen herausgekehrt, seine Bildung aber nach Kräften versteckt – als wäre es ihm fast peinlich, „Literatur” herzustellen.
Bei Huelle ist das anders. Er ist ein Verehrer, der Literatur im allgemeinen und Hrabals im besonderen. Er „hrabalisiert”, so wie manche deutsche Autoren derzeit sebaldisieren oder seit langem schon bernhardisieren. Er tut es geschickt und unaufdringlich, aber ohne je den versponnenen, eigenbrödlerischen und unberechenbaren Zauber seines Vorbilds zu erreichen. Pawel Huelles Buch hat, bei aller Hingabe an das Vorbild, etwas Versiertes. Durch die Windschutzscheibe des Fahrzeugs, in dem Herr Pawel und Fräulein Ciwle herum fahren, hat man freie Aussicht auf die Wirklichkeit. Bei Hrabal gibt es keine Aussicht auf die Wirklichkeit, denn sie ist restlos ins Erzählen aufgegangen. Vielleicht ist ja Huelles Buch selbst eine Art Fahrstunde. An ihrem Ende sollte man Hrabal lesen.
CHRISTOPH BARTMANN
PAWEL HUELLE: Mercedes-Benz. Aus den Briefen an Hrabal. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidtgall. Verlag C. H. Beck, München 2003. 160 Seiten, 17,90 Euro.
Der Mercedes 170 V ist das Maß aller motorisierten Dinge Foto: DaimlerChrysler
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Fahrstunde mit Zuhörerin: Pawel Huelle schwärmt für das motorisierte Erzählen
Wer war wohl der „modernste, der avantgardistischste Prosaist des 20. Jahrhunderts”? Nicht nur nach Pawel Huelles Ansicht war es Bohumíl Hrabal, der böhmische Biertrinker und Katzenfreund, der Großmeister des „Bafelns”, wie er die hohe Kunst des Schwätzens getauft hatte. Seit Hrabal im Februar 1997 unter mysteriösen Umständen aus dem Fenster eines Prager Krankenhauses in den Tod stürzte oder sprang, ist sein Leben und Schreiben vollends zur Legende geworden. Sollte man ihm nicht wenigstens postum einen Nobelpreis verleihen, regt Pawel Huelle an, dem Mann, der „aus den schäbigsten Bruchstücken, aus Satzfetzen, aus Resten von Bildern, Tapeten, Fotografien, Lauten und Gerüchen” die wunderbarsten Welten erschuf? Aber auf diesem Ohr ist die Schwedische Akademie eher taub. Man kann Hrabal anders ehren, etwa indem man Hrabal einen Brief schickt. Das hat Pawel Huelle in seinem kleinen, liebenswürdigen Roman „Mercedes-Benz” getan. Herr Pawel in Danzig hat dem verstorbenen Herrn Bohumíl in Prag einen Brief geschrieben, in dem es um beidseits interessierende Themen geht, vor allem um den „motorisierten Faktor” im Leben der beiden, um Autos und Motorräder, um Fahrstunden für Anfänger und Fortgeschrittene und um die platonische Liebe zu einer Fahrlehrerin, mit der Herr Pawel unerwarteterweise die Begeisterung für Bohumíl Hrabal teilt.
Wenn der böhmische Meister und sein polnischer Lehrling erst mal mit dem Erzählen angefangen haben, dann machen sie so schnell keinen Punkt mehr. Erlebnis reiht sich an Erlebnis, Anekdote an Anekdote, eine schöne Schnur aus Perlen, wie sie Hrabal am Stammtisch im „Goldenen Tiger” unter die dort versammelten Säue zu werfen pflegte. Am Ende hat Herr Pawel uns (oder eigentlich seiner reizenden Fahrlehrerin, Fräulein Ciwle) seine komplette Familien(auto)geschichte erzählt und nebenbei auch ohne Führerschein ein ganzes polnisches Jahrhundert durchfahren. Ein zuerst schönes und dann meistens schreckliches Jahrhundert. Das Schöne sieht man auf den Familienfotos der Großeltern, die der Enkel seiner Erzählung beigegeben hat. Das meiste Schöne hat vor 1939 stattgefunden. „...und das war das letzte Foto, das er im alten Polen machte...” steht unter einem Bild; es zeigt die Großmutter als junge Frau mit ihren beiden Söhnen vor dem Mercedes 170 V des Großvaters. Bald darauf wird der Mercedes von der Roten Armee beschlagnahmt. Von dem Schrecklichen, das dann folgt, von der Geschichte „der verbrannten Städte, der Vertreibungen, der liquidierten Berufe” gibt es in diesem Buch keine Bilder mehr.
Erzähler brauchen Zuhörer. Schwer kann man sich geborene Erzähler wie Huelle und Hrabal in der Rolle von Zuhörern vorstellen. Es fällt schon schwer, sich Bohumíl Hrabal als Leser jener Briefe vorzustellen, die ihm sein polnischer Bewunderer zugedacht hat. Hätte er sie nicht vielleicht ungelesen unter seinem eigenen Kram vergraben? Fremde Welten interessieren solche Erzähl- Könige nur dann, wenn sie den Rohstoff für die eigene Produktion liefern. Und wehe, es will keiner zuhören. Aber in Huelles Roman ist da zum Glück Fräulein Ciwle, die Fahrlehrerin. Anders als der abwesende und überdies verstorbene Herr Bohumíl ist sie verlässliches Publikum. Ohnehin, meint Herr Pawel, herrsche zwischen Fahrschüler und –lehrer(in) eine privilegierte Kommunikation, ja im Glücksfall eine „Kommunion des Wortes”. Beflügelt wird sie fraglos durch den Umstand, dass Fräulein Ciwle nicht nur eine der belesensten Fahrlehrerinnen Polens ist, sondern auch, in den Augen ihres Schülers, ganz hinreißend aussieht.
Und so verwandelt sich sehr bald die Fahrstunde in eine literarische und zart-erotische Kommunion, in der sich zwei in einem Auto versammelt haben und ein Dritter, sein Name ist Hrabal, ständig unter ihnen weilt. Und weil Herr Pawel ein schlechter Autofahrer ist und bleiben wird und eigentlich auch gar nicht weiß, wozu er den Führerschein erwirbt, wird kein banaler Zweck die literarische Hauptsache stören – es sei denn, dass eines seiner törichten Fahrmanöver die Lehrerin zum raschen Eingreifen nötigt.
Von den Autos und Zeiten des Großvaters Karol erzählt also Herr Pawel, von dem olivgrünen 170 V, der ihm zum Maß aller motorisierten Dinge wurde, von einem Wettrennen, das sich der Großvater mit einem Heißluftballon lieferte, von goldenen Vorkriegstagen im bürgerlichen Polen und von ihrem jähen Ende – und Fräulein Ciwle möchte immer noch mehr hören, „von der Jagd nach dem Fuchs und vom Automobilklub” und so fort, und ihr Zögling wird ihr auch diesen Wunsch erfüllen. Manchmal weicht jetzt die Route der beiden vom gewohnten Weg und führt in lauen Mainächten an die Gestade der Ostsee. „Wir spürten”, wird nach Prag berichtet, „eine Seelenverwandtschaft, etwas, worüber Shelley, Keats, Byron und Mickiewicz geschrieben haben”. Ob das Namen sind, mit denen Herr Bohumíl etwas anfangen kann? Gern hat Hrabal den Banausen herausgekehrt, seine Bildung aber nach Kräften versteckt – als wäre es ihm fast peinlich, „Literatur” herzustellen.
Bei Huelle ist das anders. Er ist ein Verehrer, der Literatur im allgemeinen und Hrabals im besonderen. Er „hrabalisiert”, so wie manche deutsche Autoren derzeit sebaldisieren oder seit langem schon bernhardisieren. Er tut es geschickt und unaufdringlich, aber ohne je den versponnenen, eigenbrödlerischen und unberechenbaren Zauber seines Vorbilds zu erreichen. Pawel Huelles Buch hat, bei aller Hingabe an das Vorbild, etwas Versiertes. Durch die Windschutzscheibe des Fahrzeugs, in dem Herr Pawel und Fräulein Ciwle herum fahren, hat man freie Aussicht auf die Wirklichkeit. Bei Hrabal gibt es keine Aussicht auf die Wirklichkeit, denn sie ist restlos ins Erzählen aufgegangen. Vielleicht ist ja Huelles Buch selbst eine Art Fahrstunde. An ihrem Ende sollte man Hrabal lesen.
CHRISTOPH BARTMANN
PAWEL HUELLE: Mercedes-Benz. Aus den Briefen an Hrabal. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidtgall. Verlag C. H. Beck, München 2003. 160 Seiten, 17,90 Euro.
Der Mercedes 170 V ist das Maß aller motorisierten Dinge Foto: DaimlerChrysler
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Andreas Breitensteins Kritik liest sich ein wenig zwiespältig: Einerseits liest er Pawel Huelle wirklich gern. Man entnimmt es seinen Schilderungen über den "Sturzbach des Erzählens", über die Hommagen an Bohumil Hrabal und das Personal, das Huelles Roman bevölkert. Andererseits aber stört Breitenstein daran auch etwas - vielleicht eine zu große Versiertheit; ein Unernst, angesichts des ernsten Hintergrunds der Familiengeschichte des Erzählers, die immerhin nach Auschwitz führt. "Hier herrscht eine Anekdotenseligkeit, die angesichts der realen Katastrophen" mehr als unangemessen sei, führt Breitenstein aus, der am Ende auch die Hommage an Hrabal nicht nachvollziehen will. Bei Hrabal, so Breitenstein, hat sich die "Zufallslogik des Lebens" widergespiegelt, bei Huelle scheint sie ihm nur arrangiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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