Der Erzähler erinnert sich an das schöne Fräulein Ciwle, seine Fahrlehrerin. Verlegen und aufgeregt hat er selbst während der Fahrstunden ohne Unterlaß erzählt: von der Großmutter, die, noch in einem Citroën, 1925 auf einem Bahngleis steckenbleibt, gerade als der Eilzug aus Lemberg heranrauscht. Von den Ballonfuchsjagden in Südpolen, bei denen der Großvater, schon im Mercedes, Wettrennen mit einem Heißluftballon fährt. Von der Beschlagnahmung des geliebten Autos 1939 durch die Sowjets und den folgenden Verwicklungen.
Gleichzeitig blendet der Roman immer wieder in die Gegenwart über, man erfährt von Fräulein Ciwles schwieriger Lebenssituation und warum es doch nicht zu einer Liebesgeschichte zwischen ihr und ihrem Fahrschüler kommt.
Gleichzeitig blendet der Roman immer wieder in die Gegenwart über, man erfährt von Fräulein Ciwles schwieriger Lebenssituation und warum es doch nicht zu einer Liebesgeschichte zwischen ihr und ihrem Fahrschüler kommt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2003Das Leben ist eine Fahrschule
Rückwärts einparken mit Fräulein Ciwle: Pawel Huelle setzt perfekt in die Lücke der Geschichte
Es gibt Tätigkeiten, die man nicht gleichzeitig ausführen kann, oder jedenfalls nicht ohne unangenehmste Folgen. Zwischen Zähneputzen und Telefonieren sollte man sich tunlichst entscheiden oder auch zwischen Jogging und Maniküre. Gleiches gilt für das Autofahren und das Lesen. Wer jedoch bisher das Steuern eines Pkws und das Erzählen für einander ausschließende Beschäftigungen gehalten hat, wird mit dem neuen Roman des Danzigers Pawel Huelle eines Besseren belehrt.
Denn während der nervöse Erzähler neben Fräulein Ciwle, seiner hübschen Fahrlehrerin, Blut und Wasser schwitzt, plappert er los, als ginge es nicht um den Führerschein, sondern den Literaturnobelpreis. Als der kleine Fiat mitten auf der Kreuzung zwischen einer Straßenbahn und einem Lkw eingeklemmt ist und die erste Fahrstunde in einem Fiasko zu enden droht - seinem "ersten autotechnischen Golgatha" -, wendet sich der Schüler der Geschichte seiner Großmutter Maria zu, deren Fahrstunde 1925 ein außerplanmäßiges Ende nahm. Während damals der nagelneue Citroën auf dem Bahnübergang absoff und sich die Insassen vor dem heranrauschenden Eilzug Wilna - Baranowicze - Lemberg nur durch Flucht in letzter Sekunde retten konnten, meistert hier Fräulein Ciwle nach raschem Plätzetausch die Situation und zeigt dem wütenden Mob, was eine erzählerische Volte ist. Die Fahrstunde wird Huelle zur poetischen Ursituation: Wer erzählt, wird gerettet, wer redet, ist nicht Schrott.
Umgekehrt aber nahm sich Huelle beim Erzählen das organisierte Chaos des Danziger Stadtverkehrs zum Vorbild - so scheinen die einzelnen Worte seiner oft über eine halbe Seite reichenden Sätze dreispurig dahinzugleiten, sich im Kreisverkehr zu drehen und waghalsige Wendungen zu vollziehen, denen der Leser mit größter Aufmerksamkeit folgen muß, will er abgehängt werden: "Großvater Karol gab scharf Gas, und in diesem Moment kam aus dem Tor des Nachbarhauses der Wagen des Milchmanns heraus, Großvater drückte zwar auf die Bremse, aber das war die Bremse eines Citroëns, eine Klotzbremse, keine hydraulische, und so raste das französische Wunderding voll in die Pyramide der Milchkannen, Blech schepperte, zerschlagenes Glas klirrte, die Hupe dröhnte und Großmutter, die Großvater auf die Straße nachgelaufen war, um ihm hinterherzuschreien ,Leb du wohl!', jagte jetzt mit wehendem Haar an die Unfallstelle und zog ihren Verlobten aus der weißen Soße, strich ihm über die Stirn, die er sich an der Vorderscheibe zerschnitten hatte, und flüsterte: ,Mein Karolek, du bist doch der einzige, den ich liebe!'". Die richtigen Bremsen sind das wichtigste Ausstattungsstück dieser erzählerischen S-Klasse - "S" wie "Schelmenroman".
Denn nur so sind die scharfen Kurven und überraschenden Ausfahrten unfallfrei zu nehmen, in die das neugierige Fräulein Ciwle den Erzähler fast im Befehlston dirigiert. Von der grotesken Geschichte des großmütterlichen Totalschadens, die mit einer Auszeichnung des Lokführers und einem kostenlosen Neuwagen endet, bevor auch dieser aufgrund der beschriebenen technischen Mängel ein trauriges Ende nimmt, über die Schilderung waghalsiger "Fuchsjagden" per Mercedes-Benz in den dreißiger Jahren, die die Großeltern - Vorsprung durch Technik - stets für sich entscheiden konnten, bis zur Konfiszierung des Traumautos während des Krieges zugunsten eines gewissen Kommissars Chruschtschow - all das wird im rasanten Tonfall des angsterfüllten Novizen erzählt, der sich vor der rauhen Realität des Straßenverkehr in die virtuellen Fahrten der Vergangenheit flüchtet.
Die pikareske Form, in der satirische Skizzen der postsozialistischen Realität mit der Familiengeschichte Huelles verschränkt werden, könnte dazu verführen, diesen Roman zu unterschätzen. Dabei konzentriert er im Rückspiegel seiner Karossen nicht weniger als das Schicksal Polens im zwanzigsten Jahrhundert - von der kulturellen Blüte der Zwischenkriegszeit über Krieg und Besatzung bis zur sozialistischen Stagnation und den Wirbeln der frühen neunziger Jahre. Zugleich ist der Roman durch und durch aus literarischen Anspielungen gefertigt - so wie der titelgebende "Mercedes-Benz"-Oldtimer des Vaters schließlich nur noch aus Ersatzteilen bestand.
"Lieber Herr Bohumil, wieder hat das Leben einen außerordentlichen Bogen geschlagen", so beginnt "Mercedes-Benz". Huelles Roman ist als offene Hommage an den großen Tschechen Bohumil Hrabal angelegt, der 1997 zu Tode stürzte; sein erzählerischer Rahmen ist ein postumer Brief an das bewunderte Vorbild, dem sich Huelle in Tonfall und Figuren - etwa dem Großvater - anschmiegt. Vor allem Hrabals Erzählung "Abendliche Fahrstunde" ist der zarten Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und dem Fräulein Ciwle Leitmotiv und Losung. Aber auch das nah an der Traumgrenze angesiedelte Galizien eines Bruno Schulz oder Günter Grass nehmen gelegentlich auf dem Beifahrersitz Platz.
Wie schon Huelles großer Roman "Weiser Dawidek" ist "Mercedes-Benz" eine Erforschung des Mysteriums Erinnerung, der poetischen Produktivkraft schlechthin. Wenn die Geschichten um das autonärrische Paar Maria und Karol immer unwahrscheinlicher - und zugleich von Fotografien aus dem Familienalbum beglaubigt - werden, weist Fräulein Ciwle den Erzähler zurecht, weil er die Lücken der Geschichte ein ums andere Mal mit seiner Fabulierkunst auffüllt. Fotografie ist neben dem Automobil die andere unverzichtbare Technik des Romanciers. Fotos sind die Straßenkarten jeder Reise in die Vergangenheit, doch ersetzt ihre Betrachtung nicht die Fahrt.
Als Höhepunkt des Unterrichts, der von der Fahrstunde zur Geschichtslektion wurde, erlebt der Erzähler schließlich eine rauschhafte Nacht mit Fräulein Ciwle. Doch diese endlich erlebte Gegenwart des Glücks ist nur Schein; der wahre Kern der Liebe ist wie bei den Großeltern nicht mehr freizulegen. Selbst die Stadt Danzig, deren Porträt Huelle nebenbei entwirft, ist von diesem Makel der Undurchdringlichkeit gezeichnet: "Wieder überwucherten Brennesseln, Quecken und weißer Gänsefuß die Stadt, die ich nie gemocht hatte, die fremde, niederträchtige, unechte Stadt, Jahr für Jahr sank sie einen Millimeter tiefer in den Moder der eigenen Mythen, als hätte sie eine zu geringe Dosis Sonnenschein abbekommen, als hätte sich der alte Geruch von Hering, Pech, Rost und Algen als undurchdringlicher Schleier auf das fette Wasser der Kanäle gelegt."
Ein schmales Buch, ein leichtes, wendiges Buch; seine Karosserie gleicht eher einem Fiat Polski denn einem Mercedes. Doch wer je in Danzig oder Warschau einen Parkplatz suchte, weiß um den Segen der kleinen Form. Nichts bewegt Sie wie ein Roman.
Pawel Huelle: "Mercedes-Benz". Aus den Briefen an Hrabal. Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2003. 160 S., Abb., geb., 17,90 [Euro].
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Rückwärts einparken mit Fräulein Ciwle: Pawel Huelle setzt perfekt in die Lücke der Geschichte
Es gibt Tätigkeiten, die man nicht gleichzeitig ausführen kann, oder jedenfalls nicht ohne unangenehmste Folgen. Zwischen Zähneputzen und Telefonieren sollte man sich tunlichst entscheiden oder auch zwischen Jogging und Maniküre. Gleiches gilt für das Autofahren und das Lesen. Wer jedoch bisher das Steuern eines Pkws und das Erzählen für einander ausschließende Beschäftigungen gehalten hat, wird mit dem neuen Roman des Danzigers Pawel Huelle eines Besseren belehrt.
Denn während der nervöse Erzähler neben Fräulein Ciwle, seiner hübschen Fahrlehrerin, Blut und Wasser schwitzt, plappert er los, als ginge es nicht um den Führerschein, sondern den Literaturnobelpreis. Als der kleine Fiat mitten auf der Kreuzung zwischen einer Straßenbahn und einem Lkw eingeklemmt ist und die erste Fahrstunde in einem Fiasko zu enden droht - seinem "ersten autotechnischen Golgatha" -, wendet sich der Schüler der Geschichte seiner Großmutter Maria zu, deren Fahrstunde 1925 ein außerplanmäßiges Ende nahm. Während damals der nagelneue Citroën auf dem Bahnübergang absoff und sich die Insassen vor dem heranrauschenden Eilzug Wilna - Baranowicze - Lemberg nur durch Flucht in letzter Sekunde retten konnten, meistert hier Fräulein Ciwle nach raschem Plätzetausch die Situation und zeigt dem wütenden Mob, was eine erzählerische Volte ist. Die Fahrstunde wird Huelle zur poetischen Ursituation: Wer erzählt, wird gerettet, wer redet, ist nicht Schrott.
Umgekehrt aber nahm sich Huelle beim Erzählen das organisierte Chaos des Danziger Stadtverkehrs zum Vorbild - so scheinen die einzelnen Worte seiner oft über eine halbe Seite reichenden Sätze dreispurig dahinzugleiten, sich im Kreisverkehr zu drehen und waghalsige Wendungen zu vollziehen, denen der Leser mit größter Aufmerksamkeit folgen muß, will er abgehängt werden: "Großvater Karol gab scharf Gas, und in diesem Moment kam aus dem Tor des Nachbarhauses der Wagen des Milchmanns heraus, Großvater drückte zwar auf die Bremse, aber das war die Bremse eines Citroëns, eine Klotzbremse, keine hydraulische, und so raste das französische Wunderding voll in die Pyramide der Milchkannen, Blech schepperte, zerschlagenes Glas klirrte, die Hupe dröhnte und Großmutter, die Großvater auf die Straße nachgelaufen war, um ihm hinterherzuschreien ,Leb du wohl!', jagte jetzt mit wehendem Haar an die Unfallstelle und zog ihren Verlobten aus der weißen Soße, strich ihm über die Stirn, die er sich an der Vorderscheibe zerschnitten hatte, und flüsterte: ,Mein Karolek, du bist doch der einzige, den ich liebe!'". Die richtigen Bremsen sind das wichtigste Ausstattungsstück dieser erzählerischen S-Klasse - "S" wie "Schelmenroman".
Denn nur so sind die scharfen Kurven und überraschenden Ausfahrten unfallfrei zu nehmen, in die das neugierige Fräulein Ciwle den Erzähler fast im Befehlston dirigiert. Von der grotesken Geschichte des großmütterlichen Totalschadens, die mit einer Auszeichnung des Lokführers und einem kostenlosen Neuwagen endet, bevor auch dieser aufgrund der beschriebenen technischen Mängel ein trauriges Ende nimmt, über die Schilderung waghalsiger "Fuchsjagden" per Mercedes-Benz in den dreißiger Jahren, die die Großeltern - Vorsprung durch Technik - stets für sich entscheiden konnten, bis zur Konfiszierung des Traumautos während des Krieges zugunsten eines gewissen Kommissars Chruschtschow - all das wird im rasanten Tonfall des angsterfüllten Novizen erzählt, der sich vor der rauhen Realität des Straßenverkehr in die virtuellen Fahrten der Vergangenheit flüchtet.
Die pikareske Form, in der satirische Skizzen der postsozialistischen Realität mit der Familiengeschichte Huelles verschränkt werden, könnte dazu verführen, diesen Roman zu unterschätzen. Dabei konzentriert er im Rückspiegel seiner Karossen nicht weniger als das Schicksal Polens im zwanzigsten Jahrhundert - von der kulturellen Blüte der Zwischenkriegszeit über Krieg und Besatzung bis zur sozialistischen Stagnation und den Wirbeln der frühen neunziger Jahre. Zugleich ist der Roman durch und durch aus literarischen Anspielungen gefertigt - so wie der titelgebende "Mercedes-Benz"-Oldtimer des Vaters schließlich nur noch aus Ersatzteilen bestand.
"Lieber Herr Bohumil, wieder hat das Leben einen außerordentlichen Bogen geschlagen", so beginnt "Mercedes-Benz". Huelles Roman ist als offene Hommage an den großen Tschechen Bohumil Hrabal angelegt, der 1997 zu Tode stürzte; sein erzählerischer Rahmen ist ein postumer Brief an das bewunderte Vorbild, dem sich Huelle in Tonfall und Figuren - etwa dem Großvater - anschmiegt. Vor allem Hrabals Erzählung "Abendliche Fahrstunde" ist der zarten Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und dem Fräulein Ciwle Leitmotiv und Losung. Aber auch das nah an der Traumgrenze angesiedelte Galizien eines Bruno Schulz oder Günter Grass nehmen gelegentlich auf dem Beifahrersitz Platz.
Wie schon Huelles großer Roman "Weiser Dawidek" ist "Mercedes-Benz" eine Erforschung des Mysteriums Erinnerung, der poetischen Produktivkraft schlechthin. Wenn die Geschichten um das autonärrische Paar Maria und Karol immer unwahrscheinlicher - und zugleich von Fotografien aus dem Familienalbum beglaubigt - werden, weist Fräulein Ciwle den Erzähler zurecht, weil er die Lücken der Geschichte ein ums andere Mal mit seiner Fabulierkunst auffüllt. Fotografie ist neben dem Automobil die andere unverzichtbare Technik des Romanciers. Fotos sind die Straßenkarten jeder Reise in die Vergangenheit, doch ersetzt ihre Betrachtung nicht die Fahrt.
Als Höhepunkt des Unterrichts, der von der Fahrstunde zur Geschichtslektion wurde, erlebt der Erzähler schließlich eine rauschhafte Nacht mit Fräulein Ciwle. Doch diese endlich erlebte Gegenwart des Glücks ist nur Schein; der wahre Kern der Liebe ist wie bei den Großeltern nicht mehr freizulegen. Selbst die Stadt Danzig, deren Porträt Huelle nebenbei entwirft, ist von diesem Makel der Undurchdringlichkeit gezeichnet: "Wieder überwucherten Brennesseln, Quecken und weißer Gänsefuß die Stadt, die ich nie gemocht hatte, die fremde, niederträchtige, unechte Stadt, Jahr für Jahr sank sie einen Millimeter tiefer in den Moder der eigenen Mythen, als hätte sie eine zu geringe Dosis Sonnenschein abbekommen, als hätte sich der alte Geruch von Hering, Pech, Rost und Algen als undurchdringlicher Schleier auf das fette Wasser der Kanäle gelegt."
Ein schmales Buch, ein leichtes, wendiges Buch; seine Karosserie gleicht eher einem Fiat Polski denn einem Mercedes. Doch wer je in Danzig oder Warschau einen Parkplatz suchte, weiß um den Segen der kleinen Form. Nichts bewegt Sie wie ein Roman.
Pawel Huelle: "Mercedes-Benz". Aus den Briefen an Hrabal. Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2003. 160 S., Abb., geb., 17,90 [Euro].
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