Wohin will Angela Merkel? Wie lange hält der Vertrauensvorschuss in Bevölkerung und Medien? Kann die Regierung in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch kraftvoll gestalten? Die erste Bilanz der neuen Kanzlerin und ihrer Koalition - und ein Ausblick auf die deutsche Politik in den nächsten Jahren. Seit Angela Merkel regiert, hat sich viel geändert. Im Stil der Politik, weniger bei den Inhalten. Der Neuanfang mit einer Frau, einer Ostdeutschen, hatte seinen Zauber. Die beiden großen Parteien halten sich jetzt gegenseitig in Schach. Es herrschen die Superpragmatiker. Das Volk leistet schicksalsergeben Vertrauensvorschuss und ist froh, wenn es nicht belästigt wird. Die Medien haben Beißhemmung, die Opposition findet keine Perspektive, das gewohnte Machtspiel ist durcheinander. Das alles half Merkel beim Start. Wer war noch mal Gerhard Schröder? Selten schien es so leicht, neue Hoffnung ohne neue Ideen zu verkörpern, wie nach dem Abtritt der vielfach blockierten rot-grünen Regierung. Das einst so dominante, unruhig-fordernde Lebensgefühl dieser Generation: verschollen. Jetzt etabliert sich das System Merkel. Regiert wird zwar nicht sehr eindrucksvoll. Aber die schnörkellos-beharrliche, oft profilschwache, aber machtpolitisch hellwache Kanzlerin passt zu einer verunsicherten, unentschiedenen Gesellschaft. In Merkelland verabschieden Politik und Gesellschaft sich vom großen Streit um die Ideale. Es regiert die organisierte Anspruchsarmut. Im Land gibt es ersten Unmut über Reformdetails, aber auch einen neuen Wettlauf ums Sozialprofil. Die Republik erlebt eine Übergangszeit. Noch ist höchst unsicher, ob Politik in Zeiten der Globalisierung überhaupt neue Kraft zurückgewinnen kann. Ob die anpassungsbereite Generation Merkel dieser Aufgabe gewachsen ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2007Berliner Armutsästhetik
Wohin führt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bundesrepublik?
Wohin führt die Kanzlerin? - Der Untertitel des Groß-Essays von Richard Meng unterstellt Führungspotentiale aus dem Kanzleramt heraus. Doch das ist äußerst schwierig in der Koalition auf gleicher Augenhöhe. Als präsidiale Vermittlerin kann Merkel nicht kraftvoll führen, selbst wenn sie es wollte. Ausgleichen, lavieren, taktieren, schlichten und moderieren gehören zum Entscheidungsstil einer Kanzlerin der großen Koalition. Als personalisierter Vermittlungsausschuss verkommt die ehemalige Chefsache zum Medienmythos. Der Autor ist als Journalist auch Teil der politischen Kommunikation, die zur Analyse des Regierens dazugehört. Man spürt auf jeder Seite des Buches, wie unzufrieden er mit der großen Koalition ist. Dabei unterstellt er vor allem auch den "Figuren des Übergangs" (Müntefering, Schäuble, Steinbrück, Seehofer) beste Absichten. Meng rechnet eher mit dem rasenden Stillstand im Lande ab, mit einer mäßigen Leistungsbilanz, mit Euphorieverlusten, mit den parteipolitischen Stillhalteabkommen über den Minenfeldern der zentralen Probleme des Landes. Sein Frust bezieht sich auf den Politikbetrieb, der sich selbst blockiert und sich durch Tagesdissensmanagement abseits der Bevölkerung vollzieht.
Faktische Politikwechsel, die der Autor einfordert, waren in unserer auf Konsens und Stabilität ausgerichteten Innenpolitik immer langfristig angelegt. Abrupter ging es, im Gegensatz zur materiellen Politik, immer im Bereich der Darstellungspolitik zu. Der Stilwechsel in der Politikgestaltung gehörte für jeden neuen Bundeskanzler essentiell mit zur Startphase einer Bundesregierung. Insofern ist die von Frau Merkel vorgestellte Inszenierung der Nichtinszenierung von neuer Sachlichkeit und Nüchternheit fester Bestandteil von Regierungswechseln. Statt rot-grüner Kraftmeierei, die Meng nochmals Revue passieren lässt, erleben wir nunmehr Armutsästhetik. Sachlich, zurückhaltend, bescheiden - das ist zurzeit das Markenzeichen der großen Koalition.
Hinter dieser neuen Berliner Armutsästhetik verbirgt sich graduell ein protestantisches Politikverständnis der Kanzlerin. Das Dienen zieht sich leitmotivisch durch ihre Reden. Sie gibt sich provozierend unpathetisch und manchmal bis zur Schmerzgrenze ernüchternd. Unser Blickwinkel auf sie verändert sich rasant, wie Meng analysiert. Mit jeder neuen Karrierestufe betrachten wir Angela Merkel mit modifizierter Aufmerksamkeit und unerwarteter Neugierde. Das eigene Zutun - neues Outfit, gelernte Gesten - zu dieser angeblichen Veränderungsdynamik ist minimal. Vielmehr suchen wir uns als Betrachter stets einen neuen Blickwinkel auf die gleiche Person im Rampenlicht.
Wir haben ein Bild von erfolgreichen Naturwissenschaftlern, das wir gerne auch auf Frau Merkel projizieren: Streng diszipliniert, selbstverliebt in die Versuchsanordnung, alles im Umfeld vergessend. Gleichzeitig bleibt der Eindruck von gelernten Mechanismen der Entscheidungsfindung, die naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen folgen: Versuch plus Irrtum. Das funktioniert auf der einen Seite transparent und höchst funktional, aber ohne strategisches Zentrum, nach dem auch Meng fahndet. Auf der anderen Seite arbeitet dieses System zielstrebig mit dem Charme unverdächtiger Harmlosigkeit, wenn es darum geht, von der einen auf die andere Minute neue Handlungskorridore auszuloten und politische Optionen schnell zu nutzen. Das führt zu immer neuen Überraschungssiegen der Kanzlerin, gerade dann, wenn ihre Gegner sie für geschlagen halten. Als Meisterin des Abwartens und des politischen Timings bedient sie mühelos die Instrumente des Regierens, als Tagesintegrationsweltmeisterin. Doch ein inhaltlicher Kompass, ein schlüssiger Begründungszusammenhang, eine große Erzählung entstehen bislang nicht daraus. Was will sie mit ihrer Person als Prägestempel hinterlassen? Meng geht so weit, dass er Angela Merkel der "Generation Pragmatismus" zuordnet. Für ihn ist unklar, wofür sie inhaltlich steht.
Insofern versucht der Autor eigene Antworten zu geben, die als Richtungsanzeigen einer problemorientierten Politik zu verstehen sind. Das "Merkelland" könnte Klammer sein zwischen scheinbar unüberwindlichen Gegensätzen. Für Meng liegt die größte Bedrohung der Demokratie darin, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderfällt, kein gemeinsamer Kommunikationsraum mehr besteht, keine gemeinsamen Erfahrungen sich entwickeln. Er erkennt ostdeutsche Modernisierungsverlierer, westdeutschen Sozialprovinzialismus und postmaterielle Stadtpragmatiker, die immer weniger zusammenpassen. Die Volksparteien müssen sich den sozialpolitischen Kernproblemen zuwenden, sonst bleiben sie nicht mehrheitsfähig. Hier prognostiziert der Autor schwarz-grüne oder Jamaika-Koalitionen für die Zukunft.
KARL-RUDOLF KORTE
Richard Meng: Merkelland. Wohin führt die Kanzlerin? Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 280 S., 8,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wohin führt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bundesrepublik?
Wohin führt die Kanzlerin? - Der Untertitel des Groß-Essays von Richard Meng unterstellt Führungspotentiale aus dem Kanzleramt heraus. Doch das ist äußerst schwierig in der Koalition auf gleicher Augenhöhe. Als präsidiale Vermittlerin kann Merkel nicht kraftvoll führen, selbst wenn sie es wollte. Ausgleichen, lavieren, taktieren, schlichten und moderieren gehören zum Entscheidungsstil einer Kanzlerin der großen Koalition. Als personalisierter Vermittlungsausschuss verkommt die ehemalige Chefsache zum Medienmythos. Der Autor ist als Journalist auch Teil der politischen Kommunikation, die zur Analyse des Regierens dazugehört. Man spürt auf jeder Seite des Buches, wie unzufrieden er mit der großen Koalition ist. Dabei unterstellt er vor allem auch den "Figuren des Übergangs" (Müntefering, Schäuble, Steinbrück, Seehofer) beste Absichten. Meng rechnet eher mit dem rasenden Stillstand im Lande ab, mit einer mäßigen Leistungsbilanz, mit Euphorieverlusten, mit den parteipolitischen Stillhalteabkommen über den Minenfeldern der zentralen Probleme des Landes. Sein Frust bezieht sich auf den Politikbetrieb, der sich selbst blockiert und sich durch Tagesdissensmanagement abseits der Bevölkerung vollzieht.
Faktische Politikwechsel, die der Autor einfordert, waren in unserer auf Konsens und Stabilität ausgerichteten Innenpolitik immer langfristig angelegt. Abrupter ging es, im Gegensatz zur materiellen Politik, immer im Bereich der Darstellungspolitik zu. Der Stilwechsel in der Politikgestaltung gehörte für jeden neuen Bundeskanzler essentiell mit zur Startphase einer Bundesregierung. Insofern ist die von Frau Merkel vorgestellte Inszenierung der Nichtinszenierung von neuer Sachlichkeit und Nüchternheit fester Bestandteil von Regierungswechseln. Statt rot-grüner Kraftmeierei, die Meng nochmals Revue passieren lässt, erleben wir nunmehr Armutsästhetik. Sachlich, zurückhaltend, bescheiden - das ist zurzeit das Markenzeichen der großen Koalition.
Hinter dieser neuen Berliner Armutsästhetik verbirgt sich graduell ein protestantisches Politikverständnis der Kanzlerin. Das Dienen zieht sich leitmotivisch durch ihre Reden. Sie gibt sich provozierend unpathetisch und manchmal bis zur Schmerzgrenze ernüchternd. Unser Blickwinkel auf sie verändert sich rasant, wie Meng analysiert. Mit jeder neuen Karrierestufe betrachten wir Angela Merkel mit modifizierter Aufmerksamkeit und unerwarteter Neugierde. Das eigene Zutun - neues Outfit, gelernte Gesten - zu dieser angeblichen Veränderungsdynamik ist minimal. Vielmehr suchen wir uns als Betrachter stets einen neuen Blickwinkel auf die gleiche Person im Rampenlicht.
Wir haben ein Bild von erfolgreichen Naturwissenschaftlern, das wir gerne auch auf Frau Merkel projizieren: Streng diszipliniert, selbstverliebt in die Versuchsanordnung, alles im Umfeld vergessend. Gleichzeitig bleibt der Eindruck von gelernten Mechanismen der Entscheidungsfindung, die naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen folgen: Versuch plus Irrtum. Das funktioniert auf der einen Seite transparent und höchst funktional, aber ohne strategisches Zentrum, nach dem auch Meng fahndet. Auf der anderen Seite arbeitet dieses System zielstrebig mit dem Charme unverdächtiger Harmlosigkeit, wenn es darum geht, von der einen auf die andere Minute neue Handlungskorridore auszuloten und politische Optionen schnell zu nutzen. Das führt zu immer neuen Überraschungssiegen der Kanzlerin, gerade dann, wenn ihre Gegner sie für geschlagen halten. Als Meisterin des Abwartens und des politischen Timings bedient sie mühelos die Instrumente des Regierens, als Tagesintegrationsweltmeisterin. Doch ein inhaltlicher Kompass, ein schlüssiger Begründungszusammenhang, eine große Erzählung entstehen bislang nicht daraus. Was will sie mit ihrer Person als Prägestempel hinterlassen? Meng geht so weit, dass er Angela Merkel der "Generation Pragmatismus" zuordnet. Für ihn ist unklar, wofür sie inhaltlich steht.
Insofern versucht der Autor eigene Antworten zu geben, die als Richtungsanzeigen einer problemorientierten Politik zu verstehen sind. Das "Merkelland" könnte Klammer sein zwischen scheinbar unüberwindlichen Gegensätzen. Für Meng liegt die größte Bedrohung der Demokratie darin, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderfällt, kein gemeinsamer Kommunikationsraum mehr besteht, keine gemeinsamen Erfahrungen sich entwickeln. Er erkennt ostdeutsche Modernisierungsverlierer, westdeutschen Sozialprovinzialismus und postmaterielle Stadtpragmatiker, die immer weniger zusammenpassen. Die Volksparteien müssen sich den sozialpolitischen Kernproblemen zuwenden, sonst bleiben sie nicht mehrheitsfähig. Hier prognostiziert der Autor schwarz-grüne oder Jamaika-Koalitionen für die Zukunft.
KARL-RUDOLF KORTE
Richard Meng: Merkelland. Wohin führt die Kanzlerin? Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 280 S., 8,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Durchaus interessant scheint Karl-Rudolf Korte dieser Essay Richard Mengs aus dem vorigen Jahr über Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er teilt seine Unzufriedenheit mit der großen Koalition sowie seine Kritik am Stillstand im Lande. Aufschlussreich findet er vor allem die Analyse der Darstellungspolitik Merkels, die mit ihrer Bescheidenheit, Sachlichkeit und Nüchternheit eine neue "Armutsästhetik" begründe. Korte unterstreicht Mengs Zuordnung der Kanzlerin zur "Generation Pragmatismus" und hebt hervor, dass für den Autor letztlich unklar bleibt, wofür Merkel inhaltlich steht. Dennoch schreibt er der Kanzlerin nach Ansicht Kortes eine wichtige Funktion als Vermittlerin von scheinbar unüberwindlichen Gegensätzen zu, was gerade im Blick auf die Bedrohung der Demokratie durch eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft von enormer Bedeutung ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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