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Das titelgebende Meroe - das ist die erstmalig bei Herodot erwähnte Stadt am Nil im "Reich von Kusch", wie das antike Nubien, heute Sudan, in der Bibel genannt wurde. 200 km südlich, dort, wo der Weiße und der Blaue Nil zusammentreffen, in Khartum, der schimärischen Stadt aus Sand, Gebeten und Wahnsinn, in der die Hitze alles zum Flimmern bringt, sitzt der Erzähler in seinem selbst gewählten Exil. Er wartet auf die Polizei, die ihn nach dem Tod einer jungen Archäologin befragen wird, die unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Sie wurde auf der Ausgrabungsstätte von Meroe verschüttet, wo…mehr

Produktbeschreibung
Das titelgebende Meroe - das ist die erstmalig bei Herodot erwähnte Stadt am Nil im "Reich von Kusch", wie das antike Nubien, heute Sudan, in der Bibel genannt wurde. 200 km südlich, dort, wo der Weiße und der Blaue Nil zusammentreffen, in Khartum, der schimärischen Stadt aus Sand, Gebeten und Wahnsinn, in der die Hitze alles zum Flimmern bringt, sitzt der Erzähler in seinem selbst gewählten Exil. Er wartet auf die Polizei, die ihn nach dem Tod einer jungen Archäologin befragen wird, die unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Sie wurde auf der Ausgrabungsstätte von Meroe verschüttet, wo das Team um Dr. Vollender (zu dem der Erzähler gehört hatte), eines Archäologen aus der Ex-DDR und Spezialisten der mittelalterlichen Königreiche im Sudan, grub.Wenn der Erzähler nicht gerade Beamten der islamischen Militärdiktatur Französisch beibringt, schreibt er. Er beschwört, in einer verzweifelten Suche nach der verlorenen Zeit, seine große Liebe zu Alfa, die ihn eines Tages in Paris im Luxembourg ansprach, "Wissen Sie, wo`s hier zur Seine geht?", seine Geliebte wurde und ihn wieder verließ. Oder er liest in den Tagebüchern des Generals Gordon, der 1884 in Diensten Königin Victorias als Gouverneur in Khartum fast ein Jahr lang der arabischen Belagerung standhielt und zwei Tage vor dem Eintreffen der englischen Entlastungstruppen von dem siegreichen Mahdi enthauptet wurde. Alle drei Figuren, Gordon, Vollender und der Erzähler, sind der Obsession des Scheiterns erlegen, und mit beeindruckender erzählerischer Virtuosität verknüpft der Autor ihre Schicksale zu einer Parabel des historischen und individuellen "Zu-spät". "Was ich hier eigentlich ausgrabe", heißt es einmal im Roman, "ist die Zeit".

Autorenporträt
Oliver Rolin wurde 1947 in Boulogne-Billancourt geboren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Rolin in Senegal, 1967 trat er in Paris der "Union des jeunesses communistes" bei. Ein Jahr später wurde er Mitglied der maoistisch orientierten Nouvelle Resistance Populaire (NRP) und wirkte unter dem Decknamen "Antoine" an deren militanten Aktionen mit. Als die NRP sich 1973 auflöste, verschwand Rolin im Untergrund, bis er 1978 Lektor und später Herausgeber bei dem Pariser Verlag Editions de Seuil wurde. 1994 erhielt er den Prix Femina für seinen Roman "Port Sudan".
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die "Tonlage" der Bücher dieses Autors empfindet Thomas Laux als einen "nostalgisch-melancholischen Basso continuo", der auch in diesem Roman, wie der Rezensent meint, wieder vorherrscht. Es geht hier um das "Thema Verlust und Scheitern", schreibt Laux, um das sich "verschiedene, sich überlagernde Erzählstränge" ranken. Verlust, die "Simulation" einer Beziehung mit einer "Art Doppelgängerin" und die Liebe zu einer Frau, die umgebracht wird: das alles, so Laux, wird durch den Protagonisten mit kolonialer Geschichte so verwoben, dass eine Erzählung des "permanenten Zu-spät" daraus wird. Der Roman selbst ist der Versuch, "in konzentrierter Revision - im Schreiben" dieser Erfahrung "neue Facetten abzugewinnen". Rolin sei "der letzte große Romantiker der Verfehlung", zieht Thomas Laux als "vorläufig-vorsichtige" Bilanz.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2018

Doppelgänger? Warum nicht gleich Tripelgänger?
Olivier Rolins französischer Roman "Meroe" weitet eine Krimisituation zum komplexen Menschheitspanorama

Ein Mann wartet im "Hôtel des Solitaires" (Hotel der Einzelgänger) in Khartum: "Ich stecke mir eine Bringi Filter nach der anderen an. Ich warte auf die Polizei oder Gott weiß was. Schließlich bin ich der Zeuge eines Mordes oder doch zumindest eines tödlichen Unfalls. Ich fange wieder an zu schreiben." So leicht kann man die Lage des Helden von Olivier Rolins Roman "Meroe" resümieren. Hinter dieser schön schwarz stimmungsvollen, im Grunde aber schlichten Krimisituation wird eine vertrackte Geschichte ausgerollt, die sich nahtlos in ein komplexes Menschheitspanorama fügt.

Einfache Dinge vorweg, nämlich das "Whodunit": Der alternde ostdeutsche Archäologe Heinrich Vollender, dessen Name sein Schicksal ausposaunt, hat den Untergang einer sagenhaften Ruine im Sudan und den Tod Else Sutters, seiner jungen westdeutschen Kollegin und Nachfolgerin, bestenfalls in Kauf genommen, schlimmstenfalls herbeigeführt. Die Grabungsstätte bei Meroe, welche die Überreste des längst untergegangenen nubisch-christlichen "Königreiches von Dotawo" barg, war verdächtig dilettantisch angelegt. Der Erzähler, ein Französischlehrer mit katastrophaler Liebesbiographie, auch - je nach Stimmung - "der Schwätzer, der postkoloniale Philosoph", hat das tragische Ende zumindest insgeheim gutgeheißen. Die ebenfalls einfache Frage "Warum?" allerdings kennt keine schnelle Antwort, sondern dient als Leitfaden eines beglückend verschachtelten Romans.

Olivier Rolin, 1947 in Boulogne-Billancourt geboren, hat nach militanten Anfängen im Linksextremismus als Lektor bei Seuil gearbeitet, einem ursprünglich katholischen Verlag, der aber die Mao-Bibel in Frankreich erfolgreich verlegt hat. Rolins literarischen Ruf hat "L'invention du monde" (1993, nicht übersetzt) begründet; wirklich bekannt geworden ist er mit "Port-Soudan" (1994) und mehr noch mit "Die Papiertiger von Paris" (2002), einem Roman, der seine Vergangenheit als Maoist reflektiert. Der geraden Linie politischen Fortschrittsdenkens setzt "Die Papiertiger" den Kreisverkehr des Périphérique entgegen, der Pariser Stadtautobahn, auf welcher der Erzähler eine Nacht lang sein Leben reflektiert.

Auch "Meroe" hat einen Kreis als emblematisches Bild: das Riesenrad eines Vergnügungsparks, in dem der Erzähler am Ende kreist und wartet, wenn er nicht im Hotelzimmer schreibt. Rolin hat die Parallele selbst in einem unklassifizierbaren Text namens "Letzte Tage in Baku" (2010) betont: "Der Kreis ist auf alle Fälle meine Figur, die Matrix meiner intimen Geometrie. Das Wiederkehrende, die ewige Wiederkehr und auch die Spirale, deren immer engere Runden das andere dahin führen, im selben verschlungen zu werden."

Tatsächlich führt die entscheidende Bewegung von "Meroe" im Zirkel. Da wäre das Kreisen des Erzählers: Schon bevor er Vollender trifft, scheint er zu warten, diesmal in einem Schiffsfriedhof, wo er ab und an mit einer Soldatin vögelt, wenn er nicht mit Harald konversiert, einem "dicken, weiß gefiederten, aufgeplusterten Quersack mit Blei in den struppigen, zerfledderten schwarzen Flügeln". Er verbringt seine Zeit damit, sich an seine Kindheit an der Loire und an seine große Liebe Alfa zu erinnern, eine ebenso sinnliche wie unbarmherzige Krankenschwester, die ihn für einen reichen Psychiater verlassen hat: "Der amouröse Knoten meines Lebens, der Punkt, auf den sich ein für alle Mal meine ganze Liebesfähigkeit konzentriert hatte, lag hinter mir." Es ist kein Zufall, dass unser Anonymus im Sudan gelandet ist, in einer Weltgegend, die ihn und uns in ein verwirrendes Spiegelkabinett aufnimmt: "Es ist ein ziemlich bizarrer Zug dieses Landes der Trugbilder und Hirngespinste, dass die geographischen Namen fast immer zweideutig sind, als läge es hier in der Natur aller Dinge, einen Doppelgänger zu haben, einen gebrochenen, umgekehrten Widerschein, der manchmal zur Negation des Urbilds wird." Leser, sei gewarnt!

Tatsächlich sind zwei Drittel des Romans eine Entwicklung der diversen Doppel- und Tripelgänger: Harald ist ein Stelzvogel, er ist aber auch der Australier Harold Winterfield, "dieser unleugbare und verschwiegene Fleischberg", der im Ackerbau scheitert und von einer Brücke springt. Die Erinnerung an Alfa spiegelt sich in jener an ein Modell namens Dune, das der Erzähler in Paris die Geliebte nachspielen ließ; Else fügt der Reihe der (im Falle Dunes nur potentiellen) Geliebten eine dritte hinzu. Vor allem spiegelt sich der Erzähler in Vollender und beide im tragischen Ende von Charles George Gordon (1833 bis 1885), auch Chinese Gordon genannt, dem englischen Generalgouverneur, der bei der Belagerung Khartums durch die Armee des Mahdis ums Leben kam - kurz vor Eintreffen der Verstärkung.

Das Fast-Gelingen, der notwendige Verlust ist für Rolin das eigentliche Thema der Literatur: "Die Literatur, so scheint mir, hat es mit dem Verschwundenen zu tun oder mit dem, was hätte sein können, aber nicht geworden ist." Der Plot um Vollender ist zwar wichtig, stellt jedoch nur noch eine Art letzter Schachzug dar, der eine langangelegte Strategie des Scheiterns abschließt und zugleich sichtbar macht, eine Strategie sowohl der Figuren als auch des Autors. Der hat die Eigenart, seine Motive und Reflexionen extrem zu konzentrieren: Zum Beispiel berichtet er die zwangsläufig ergebnislose Suche nach der einen Quelle des Nils, von den Römern bis zur englischen Kolonialmacht, und entwickelt daraus eine Reflexion auf die Absurdität der Weltgegend beziehungsweise der Geschichte im Allgemeinen sowie des Erzählens von Romanen im Besonderen. Die ungewöhnlich hohe assoziative Dichte von historischen Referenzen, literarischen und popkulturellen Zitaten sowie von internen Querverweisen ist für Rolin offenbar das formale Merkmal von Literatur. Er führt sie oft beiläufig ein, greift sie auf, reichert sie an und verknüpft sie - ein Kreisen auch hier.

"Meroe" erschien schon 1998 in Frankreich und wurde 2002 von Jürgen Ritte für den Berlin Verlag souverän übersetzt. Damals erhielt der Roman kaum Beachtung, er wird nun vom Liebeskind Verlag neu aufgelegt. Das ist erfreulich, ja fast schon eine literaturgeschichtliche Notwendigkeit: Mit zwanzig Jahren Abstand sieht man, was die großen Autoren der jungen Garde, allen voran Mathias Énard und Jérôme Ferrari, Rolins Schreibweise und Geschichtsvision schulden. Im Falle von Énard geht die Ähnlichkeit bis in die Besessenheit von einzelnen Motiven, etwa dem der Enthauptung, das in "Meroe" wie in "Zone" eine prominente Rolle spielt. Weitere Übersetzungen sind zu wünschen - es gibt viel zu entdecken.

NIKLAS BENDER

Olivier Rolin: "Meroe".

Roman.

Aus dem Französischen

von Jürgen Ritte.

Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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