Ein Mann sitzt im Hôtel des Solitaires in Khartum und wartet auf die Polizei. Um sich die Zeit zu vertreiben, schreibt er seine Erinnerungen nieder und liest in den Tagebüchern von Charles Gordon, der 1885 als britischer Generalgouverneur der ägyptischen Provinz Sudan von Aufständischen enthauptet wurde. Die Polizeibeamten wollen ihn zum Tode von Else Sutter befragen, einer jungen Archäologin, die bei den Ausgrabungen in der sagenumwobenen Königsstadt Meroe auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen ist. Sie war kürzlich erst ins Land gekommen, um eine Stelle als Assistentin von Heinrich Vollender anzutreten, einem undurchsichtigen Wissenschaftler, der in der sudanesischen Wüste nach christlichen Altertümern gräbt. Es gibt Hinweise darauf, dass Vollender früher als ostdeutscher Spion tätig war, aber beweisen kann das niemand. Beim Tod von Else Sutter jedoch musste er seine Finger im Spiel gehabt haben ... Olivier Rolin entwirft anhand des Schicksals dreier Männer ein faszinierendes Vexierspiel über das Scheitern als Essenz des menschlichen Lebens. Ein großer Roman, brillant erzählt, tiefgründig und bewegend zugleich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2018Doppelgänger? Warum nicht gleich Tripelgänger?
Olivier Rolins französischer Roman "Meroe" weitet eine Krimisituation zum komplexen Menschheitspanorama
Ein Mann wartet im "Hôtel des Solitaires" (Hotel der Einzelgänger) in Khartum: "Ich stecke mir eine Bringi Filter nach der anderen an. Ich warte auf die Polizei oder Gott weiß was. Schließlich bin ich der Zeuge eines Mordes oder doch zumindest eines tödlichen Unfalls. Ich fange wieder an zu schreiben." So leicht kann man die Lage des Helden von Olivier Rolins Roman "Meroe" resümieren. Hinter dieser schön schwarz stimmungsvollen, im Grunde aber schlichten Krimisituation wird eine vertrackte Geschichte ausgerollt, die sich nahtlos in ein komplexes Menschheitspanorama fügt.
Einfache Dinge vorweg, nämlich das "Whodunit": Der alternde ostdeutsche Archäologe Heinrich Vollender, dessen Name sein Schicksal ausposaunt, hat den Untergang einer sagenhaften Ruine im Sudan und den Tod Else Sutters, seiner jungen westdeutschen Kollegin und Nachfolgerin, bestenfalls in Kauf genommen, schlimmstenfalls herbeigeführt. Die Grabungsstätte bei Meroe, welche die Überreste des längst untergegangenen nubisch-christlichen "Königreiches von Dotawo" barg, war verdächtig dilettantisch angelegt. Der Erzähler, ein Französischlehrer mit katastrophaler Liebesbiographie, auch - je nach Stimmung - "der Schwätzer, der postkoloniale Philosoph", hat das tragische Ende zumindest insgeheim gutgeheißen. Die ebenfalls einfache Frage "Warum?" allerdings kennt keine schnelle Antwort, sondern dient als Leitfaden eines beglückend verschachtelten Romans.
Olivier Rolin, 1947 in Boulogne-Billancourt geboren, hat nach militanten Anfängen im Linksextremismus als Lektor bei Seuil gearbeitet, einem ursprünglich katholischen Verlag, der aber die Mao-Bibel in Frankreich erfolgreich verlegt hat. Rolins literarischen Ruf hat "L'invention du monde" (1993, nicht übersetzt) begründet; wirklich bekannt geworden ist er mit "Port-Soudan" (1994) und mehr noch mit "Die Papiertiger von Paris" (2002), einem Roman, der seine Vergangenheit als Maoist reflektiert. Der geraden Linie politischen Fortschrittsdenkens setzt "Die Papiertiger" den Kreisverkehr des Périphérique entgegen, der Pariser Stadtautobahn, auf welcher der Erzähler eine Nacht lang sein Leben reflektiert.
Auch "Meroe" hat einen Kreis als emblematisches Bild: das Riesenrad eines Vergnügungsparks, in dem der Erzähler am Ende kreist und wartet, wenn er nicht im Hotelzimmer schreibt. Rolin hat die Parallele selbst in einem unklassifizierbaren Text namens "Letzte Tage in Baku" (2010) betont: "Der Kreis ist auf alle Fälle meine Figur, die Matrix meiner intimen Geometrie. Das Wiederkehrende, die ewige Wiederkehr und auch die Spirale, deren immer engere Runden das andere dahin führen, im selben verschlungen zu werden."
Tatsächlich führt die entscheidende Bewegung von "Meroe" im Zirkel. Da wäre das Kreisen des Erzählers: Schon bevor er Vollender trifft, scheint er zu warten, diesmal in einem Schiffsfriedhof, wo er ab und an mit einer Soldatin vögelt, wenn er nicht mit Harald konversiert, einem "dicken, weiß gefiederten, aufgeplusterten Quersack mit Blei in den struppigen, zerfledderten schwarzen Flügeln". Er verbringt seine Zeit damit, sich an seine Kindheit an der Loire und an seine große Liebe Alfa zu erinnern, eine ebenso sinnliche wie unbarmherzige Krankenschwester, die ihn für einen reichen Psychiater verlassen hat: "Der amouröse Knoten meines Lebens, der Punkt, auf den sich ein für alle Mal meine ganze Liebesfähigkeit konzentriert hatte, lag hinter mir." Es ist kein Zufall, dass unser Anonymus im Sudan gelandet ist, in einer Weltgegend, die ihn und uns in ein verwirrendes Spiegelkabinett aufnimmt: "Es ist ein ziemlich bizarrer Zug dieses Landes der Trugbilder und Hirngespinste, dass die geographischen Namen fast immer zweideutig sind, als läge es hier in der Natur aller Dinge, einen Doppelgänger zu haben, einen gebrochenen, umgekehrten Widerschein, der manchmal zur Negation des Urbilds wird." Leser, sei gewarnt!
Tatsächlich sind zwei Drittel des Romans eine Entwicklung der diversen Doppel- und Tripelgänger: Harald ist ein Stelzvogel, er ist aber auch der Australier Harold Winterfield, "dieser unleugbare und verschwiegene Fleischberg", der im Ackerbau scheitert und von einer Brücke springt. Die Erinnerung an Alfa spiegelt sich in jener an ein Modell namens Dune, das der Erzähler in Paris die Geliebte nachspielen ließ; Else fügt der Reihe der (im Falle Dunes nur potentiellen) Geliebten eine dritte hinzu. Vor allem spiegelt sich der Erzähler in Vollender und beide im tragischen Ende von Charles George Gordon (1833 bis 1885), auch Chinese Gordon genannt, dem englischen Generalgouverneur, der bei der Belagerung Khartums durch die Armee des Mahdis ums Leben kam - kurz vor Eintreffen der Verstärkung.
Das Fast-Gelingen, der notwendige Verlust ist für Rolin das eigentliche Thema der Literatur: "Die Literatur, so scheint mir, hat es mit dem Verschwundenen zu tun oder mit dem, was hätte sein können, aber nicht geworden ist." Der Plot um Vollender ist zwar wichtig, stellt jedoch nur noch eine Art letzter Schachzug dar, der eine langangelegte Strategie des Scheiterns abschließt und zugleich sichtbar macht, eine Strategie sowohl der Figuren als auch des Autors. Der hat die Eigenart, seine Motive und Reflexionen extrem zu konzentrieren: Zum Beispiel berichtet er die zwangsläufig ergebnislose Suche nach der einen Quelle des Nils, von den Römern bis zur englischen Kolonialmacht, und entwickelt daraus eine Reflexion auf die Absurdität der Weltgegend beziehungsweise der Geschichte im Allgemeinen sowie des Erzählens von Romanen im Besonderen. Die ungewöhnlich hohe assoziative Dichte von historischen Referenzen, literarischen und popkulturellen Zitaten sowie von internen Querverweisen ist für Rolin offenbar das formale Merkmal von Literatur. Er führt sie oft beiläufig ein, greift sie auf, reichert sie an und verknüpft sie - ein Kreisen auch hier.
"Meroe" erschien schon 1998 in Frankreich und wurde 2002 von Jürgen Ritte für den Berlin Verlag souverän übersetzt. Damals erhielt der Roman kaum Beachtung, er wird nun vom Liebeskind Verlag neu aufgelegt. Das ist erfreulich, ja fast schon eine literaturgeschichtliche Notwendigkeit: Mit zwanzig Jahren Abstand sieht man, was die großen Autoren der jungen Garde, allen voran Mathias Énard und Jérôme Ferrari, Rolins Schreibweise und Geschichtsvision schulden. Im Falle von Énard geht die Ähnlichkeit bis in die Besessenheit von einzelnen Motiven, etwa dem der Enthauptung, das in "Meroe" wie in "Zone" eine prominente Rolle spielt. Weitere Übersetzungen sind zu wünschen - es gibt viel zu entdecken.
NIKLAS BENDER
Olivier Rolin: "Meroe".
Roman.
Aus dem Französischen
von Jürgen Ritte.
Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olivier Rolins französischer Roman "Meroe" weitet eine Krimisituation zum komplexen Menschheitspanorama
Ein Mann wartet im "Hôtel des Solitaires" (Hotel der Einzelgänger) in Khartum: "Ich stecke mir eine Bringi Filter nach der anderen an. Ich warte auf die Polizei oder Gott weiß was. Schließlich bin ich der Zeuge eines Mordes oder doch zumindest eines tödlichen Unfalls. Ich fange wieder an zu schreiben." So leicht kann man die Lage des Helden von Olivier Rolins Roman "Meroe" resümieren. Hinter dieser schön schwarz stimmungsvollen, im Grunde aber schlichten Krimisituation wird eine vertrackte Geschichte ausgerollt, die sich nahtlos in ein komplexes Menschheitspanorama fügt.
Einfache Dinge vorweg, nämlich das "Whodunit": Der alternde ostdeutsche Archäologe Heinrich Vollender, dessen Name sein Schicksal ausposaunt, hat den Untergang einer sagenhaften Ruine im Sudan und den Tod Else Sutters, seiner jungen westdeutschen Kollegin und Nachfolgerin, bestenfalls in Kauf genommen, schlimmstenfalls herbeigeführt. Die Grabungsstätte bei Meroe, welche die Überreste des längst untergegangenen nubisch-christlichen "Königreiches von Dotawo" barg, war verdächtig dilettantisch angelegt. Der Erzähler, ein Französischlehrer mit katastrophaler Liebesbiographie, auch - je nach Stimmung - "der Schwätzer, der postkoloniale Philosoph", hat das tragische Ende zumindest insgeheim gutgeheißen. Die ebenfalls einfache Frage "Warum?" allerdings kennt keine schnelle Antwort, sondern dient als Leitfaden eines beglückend verschachtelten Romans.
Olivier Rolin, 1947 in Boulogne-Billancourt geboren, hat nach militanten Anfängen im Linksextremismus als Lektor bei Seuil gearbeitet, einem ursprünglich katholischen Verlag, der aber die Mao-Bibel in Frankreich erfolgreich verlegt hat. Rolins literarischen Ruf hat "L'invention du monde" (1993, nicht übersetzt) begründet; wirklich bekannt geworden ist er mit "Port-Soudan" (1994) und mehr noch mit "Die Papiertiger von Paris" (2002), einem Roman, der seine Vergangenheit als Maoist reflektiert. Der geraden Linie politischen Fortschrittsdenkens setzt "Die Papiertiger" den Kreisverkehr des Périphérique entgegen, der Pariser Stadtautobahn, auf welcher der Erzähler eine Nacht lang sein Leben reflektiert.
Auch "Meroe" hat einen Kreis als emblematisches Bild: das Riesenrad eines Vergnügungsparks, in dem der Erzähler am Ende kreist und wartet, wenn er nicht im Hotelzimmer schreibt. Rolin hat die Parallele selbst in einem unklassifizierbaren Text namens "Letzte Tage in Baku" (2010) betont: "Der Kreis ist auf alle Fälle meine Figur, die Matrix meiner intimen Geometrie. Das Wiederkehrende, die ewige Wiederkehr und auch die Spirale, deren immer engere Runden das andere dahin führen, im selben verschlungen zu werden."
Tatsächlich führt die entscheidende Bewegung von "Meroe" im Zirkel. Da wäre das Kreisen des Erzählers: Schon bevor er Vollender trifft, scheint er zu warten, diesmal in einem Schiffsfriedhof, wo er ab und an mit einer Soldatin vögelt, wenn er nicht mit Harald konversiert, einem "dicken, weiß gefiederten, aufgeplusterten Quersack mit Blei in den struppigen, zerfledderten schwarzen Flügeln". Er verbringt seine Zeit damit, sich an seine Kindheit an der Loire und an seine große Liebe Alfa zu erinnern, eine ebenso sinnliche wie unbarmherzige Krankenschwester, die ihn für einen reichen Psychiater verlassen hat: "Der amouröse Knoten meines Lebens, der Punkt, auf den sich ein für alle Mal meine ganze Liebesfähigkeit konzentriert hatte, lag hinter mir." Es ist kein Zufall, dass unser Anonymus im Sudan gelandet ist, in einer Weltgegend, die ihn und uns in ein verwirrendes Spiegelkabinett aufnimmt: "Es ist ein ziemlich bizarrer Zug dieses Landes der Trugbilder und Hirngespinste, dass die geographischen Namen fast immer zweideutig sind, als läge es hier in der Natur aller Dinge, einen Doppelgänger zu haben, einen gebrochenen, umgekehrten Widerschein, der manchmal zur Negation des Urbilds wird." Leser, sei gewarnt!
Tatsächlich sind zwei Drittel des Romans eine Entwicklung der diversen Doppel- und Tripelgänger: Harald ist ein Stelzvogel, er ist aber auch der Australier Harold Winterfield, "dieser unleugbare und verschwiegene Fleischberg", der im Ackerbau scheitert und von einer Brücke springt. Die Erinnerung an Alfa spiegelt sich in jener an ein Modell namens Dune, das der Erzähler in Paris die Geliebte nachspielen ließ; Else fügt der Reihe der (im Falle Dunes nur potentiellen) Geliebten eine dritte hinzu. Vor allem spiegelt sich der Erzähler in Vollender und beide im tragischen Ende von Charles George Gordon (1833 bis 1885), auch Chinese Gordon genannt, dem englischen Generalgouverneur, der bei der Belagerung Khartums durch die Armee des Mahdis ums Leben kam - kurz vor Eintreffen der Verstärkung.
Das Fast-Gelingen, der notwendige Verlust ist für Rolin das eigentliche Thema der Literatur: "Die Literatur, so scheint mir, hat es mit dem Verschwundenen zu tun oder mit dem, was hätte sein können, aber nicht geworden ist." Der Plot um Vollender ist zwar wichtig, stellt jedoch nur noch eine Art letzter Schachzug dar, der eine langangelegte Strategie des Scheiterns abschließt und zugleich sichtbar macht, eine Strategie sowohl der Figuren als auch des Autors. Der hat die Eigenart, seine Motive und Reflexionen extrem zu konzentrieren: Zum Beispiel berichtet er die zwangsläufig ergebnislose Suche nach der einen Quelle des Nils, von den Römern bis zur englischen Kolonialmacht, und entwickelt daraus eine Reflexion auf die Absurdität der Weltgegend beziehungsweise der Geschichte im Allgemeinen sowie des Erzählens von Romanen im Besonderen. Die ungewöhnlich hohe assoziative Dichte von historischen Referenzen, literarischen und popkulturellen Zitaten sowie von internen Querverweisen ist für Rolin offenbar das formale Merkmal von Literatur. Er führt sie oft beiläufig ein, greift sie auf, reichert sie an und verknüpft sie - ein Kreisen auch hier.
"Meroe" erschien schon 1998 in Frankreich und wurde 2002 von Jürgen Ritte für den Berlin Verlag souverän übersetzt. Damals erhielt der Roman kaum Beachtung, er wird nun vom Liebeskind Verlag neu aufgelegt. Das ist erfreulich, ja fast schon eine literaturgeschichtliche Notwendigkeit: Mit zwanzig Jahren Abstand sieht man, was die großen Autoren der jungen Garde, allen voran Mathias Énard und Jérôme Ferrari, Rolins Schreibweise und Geschichtsvision schulden. Im Falle von Énard geht die Ähnlichkeit bis in die Besessenheit von einzelnen Motiven, etwa dem der Enthauptung, das in "Meroe" wie in "Zone" eine prominente Rolle spielt. Weitere Übersetzungen sind zu wünschen - es gibt viel zu entdecken.
NIKLAS BENDER
Olivier Rolin: "Meroe".
Roman.
Aus dem Französischen
von Jürgen Ritte.
Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main