Das Meisterwerk von Serhij Zhadan, eine leidenschaftliche Liebeserklärung an seine multikulturelle Heimatstadt»Auf der Straße werde wieder geschossen, sagte sie noch, der Krieg gehe weiter, und niemand habe die Absicht, sich zu ergeben.« Romeo, zwanzig Jahre alt, ist zum Studium nach Charkiw gekommen. Staunend lauscht er den rhapsodischen Liebeserklärungen an die Stadt, mit denen seine Vermieterin ihn von täppischen Annäherungsversuchen abzubringen versucht. Ungläubig nimmt er ihre Sätze über den Krieg zur Kenntnis - wie auch wir, die Leser.Schon in Die Erfindung des Jazz im Donbass hatte Zhadan seine beklemmende Hellsichtigkeit unter Beweis gestellt. Wer wollte, konnte Anzeichen für einen gewaltsamen Zerfall der Region herauslesen. In Mesopotamien porträtiert er ein modernes Babylon, seine Heimatstadt Charkiw, indem er von Menschen erzählt, die im »Zweistromland« leben: zwischen dem ukrainischen Dnjepr im Westen und dem russischen Don im Osten.Rebellen der Existenz, kämpfen Zhadans Helden, Marat, Romeo, Sonja, Ivan, Bob und wie sie alle heißen, gegen die drohende Verfinsterung ihres Lebens. Vor dem Hintergrund des Krieges, der bereits begonnen hat, ringen sie um den Sinn ihres Lebens, um ihre Liebe, um ein mutiges, freies Verhältnis zueinander, dem auch der Tod nichts anhaben soll.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den renommierten polnischen Angelus-Preis hat der ukrainische Autor Serhij Zhadan zu Recht erhalten, jubiliert Ilma Rakusa in ihrer Hymne auf den Roman "Mesopotamien". Rakusa findet nicht nur Zhadans schräge Protagonisten großartig, die besinungslos lieben, glauben und verzweifeln, alles auf eine Karte setzen und von Neuem beginnen müssen, wenn sie alles verloren haben. Schlichtweg sensationell findet Rakusa die Wucht und Rasanz, mit der Zhadan erzählt, die Fähigkeit, alle Register zu ziehen, vom Ordinären zum Sublimen, vom Saloppen zum Emphatischen. Dabei überlagern sich nicht nur die Töne, das Poetische und Logische, sondern auch die Zeiten, das reale Charkiw wird zur sinnbildhaften Metropole zwischen zwei Flüssen; Frauenklöster, Mohnfelder, Baumärkte und Hexengalgen fügen sich zu visionären Bildern, wie die Rezensentin voller Bewunderung schreibt: "Halb Ikonenmalerei, halb Computersimulation".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2016Im widerständigen Charkiw
Serhij Zhadans Evangelist spürt das Höllenfeuer
"Meine Generation ist in eine schwierige Zeit hineingeraten", sagte der 1974 geborene Serhij Zhadan, neben Juri Andruchowytsch der bekannteste Autor aus der Ukraine, einmal im Gespräch: "Die Phase der eigenen Veränderung - Sex, Drogen und keine Lust auf soziale Anpassung - ist mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess einhergegangen. Der Beginn des Erwachsenenalters war gleichzeitig der Beginn einer ungewissen Zukunft."
Auch Zhadans neuester Roman, "Mesopotamien", handelt von lauter abgestürzten Existenzen und schrägen Vögeln, die keinen Millimeter ihrer Hoffnungen preisgeben, und von einem Land, das ums Überleben kämpft. Charkiw, die Stadt zwischen zwei Flüssen, verwandelt sich in diesen kunstvollen und mitreißenden Episoden in ein geheimnisvolles, eigensinniges Zwischenreich. Zhadan, im Gebiet Luhansk geboren, ist nicht nur ein versierter und ungeheuer produktiver Autor, der seit 1995 zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke publiziert hat. Er ist auch Punksänger, Rezitator und Aktivist, der auf dem Charkiwer "Majdan" 2014 krankenhausreif geschlagen wurde. In seinen Geschichten, im Original just 2014 erschienen, sind Angst und Bedrohung stets spürbar. Und wenn Dascha, die dem egomanisch-postpubertären Studenten Romeo die Stadt erklärt, kühl darauf hinweist, dass auf der Straße wieder geschossen werde und der Krieg weitergehe, aber "niemand die Absicht habe, sich zu ergeben", liest sich das heute beklemmend prophetisch.
Für seinen anarchischen Reiseroman "Die Erfindung des Jazz im Donbass", der auf Deutsch 2012 erschien, wurde Zhadan vielfach ausgezeichnet. Seither ist seine Literatur gereift, und seine neuen Geschichten sind raffinierter, etwa wenn sie Bewusstseinsströme und Tagträume eines Liebespaares unterhaltsam miteinander kurzschließen. Die Episoden des neuen Romans sind passagenweise lyrisch so verdichtet, dass sie sich wie Prosagedichte lesen, mit schnellem Rhythmus und starken Bildern, die zwischen Ernst und Rotzigkeit changieren, zwischen herausgeschrienem Schmerz und zarten Sequenzen. Es scheint nur logisch, dass Zhadan seine Erzähler mitunter Evangelisten nennt, die den "Atem des Höllenfeuers" am eigenen Leib gespürt haben, genauso wie den Atem des Paradieses.
Seine Alltagschronisten berichten empathisch von heiligen Trinkern und philosophierenden Prostituierten, von brutalen Geschäftemachern, die sich unrettbar verlieben, und von Jugendlichen, die am Erwachsenwerden verzweifeln. Und immer wieder geht es um die Liebe, um ihre Missverständnisse und Enttäuschungen, um Gier und Treulosigkeit. Begleitet von einer Melancholie, die sich "im Inneren meines Körpers, zwischen Herz und Milz bildete und als dunkler Klumpen aufstieg, sich ausdehnte und mich zwang, traurig zu lauschen". So formuliert es der Erzähler in "Marat", einer der schönsten und atmosphärisch intensivsten Geschichten in "Mesopotamien", die von der Totenfeier für einen Boxer handelt.
"Eine Totenklage für dieses kaputte Land" nennt das erzählende Ich im zweiten lyrischen Teil sein Sprechen. Die Übergänge zwischen Prosa und Gedichten sind im Buch fließend, das Personal bleibt gleich, "Verallgemeinerungen" ist der lyrische Teil überschrieben. Er sei mit den Gedichten von Rilke und Celan aufgewachsen, gestand Zhadan, spreche aber nicht gern davon, denn "das ist für mich eine ziemlich intime Sache". Man hört diese lyrischen Stimmen im Buch, vor allem wenn es von Charkiw als einem "verheerten Jerusalem" erzählt, bevölkert von herumirrenden aschebestäubten Engeln.
Zhadans Männer sind kraftmeierisch und dünnhäutig, die Frauen lasziv und ebenso entschlossen wie verletzlich. Sie alle balancieren auf der Messerschneide einer prekären Existenz, ihr Stolpern und Straucheln, ihre Rechthaberei und Borniertheit werden mit groteskem Humor, mit Gogolschem Zungenschlag geschildert: präzise, böse und liebevoll (auch Gogol stammte aus der Ukraine).
In der letzten Geschichte laufen beim todkranken Luca im Umland von Charkiw die Fäden zusammen: "Alles Lachen und allen Gesang" aus der Stadt hat der Fluss hierhergebracht, und spontan entsteht eine wilde, sich ausweitende Punk-Fete. Es beginnt also genau das, was der Autor einmal seinen heimlichen Traum genannt hat: eine Punk-Kommune als kreative Gemeinschaft, "in der tagsüber alle nützliche Arbeit verrichten, zum Beispiel rote Rüben sammeln, und abends ,Sex Pistols' hören".
NICOLE HENNEBERG
Serhij Zhadan: "Mesopotamien". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 366 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Serhij Zhadans Evangelist spürt das Höllenfeuer
"Meine Generation ist in eine schwierige Zeit hineingeraten", sagte der 1974 geborene Serhij Zhadan, neben Juri Andruchowytsch der bekannteste Autor aus der Ukraine, einmal im Gespräch: "Die Phase der eigenen Veränderung - Sex, Drogen und keine Lust auf soziale Anpassung - ist mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess einhergegangen. Der Beginn des Erwachsenenalters war gleichzeitig der Beginn einer ungewissen Zukunft."
Auch Zhadans neuester Roman, "Mesopotamien", handelt von lauter abgestürzten Existenzen und schrägen Vögeln, die keinen Millimeter ihrer Hoffnungen preisgeben, und von einem Land, das ums Überleben kämpft. Charkiw, die Stadt zwischen zwei Flüssen, verwandelt sich in diesen kunstvollen und mitreißenden Episoden in ein geheimnisvolles, eigensinniges Zwischenreich. Zhadan, im Gebiet Luhansk geboren, ist nicht nur ein versierter und ungeheuer produktiver Autor, der seit 1995 zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke publiziert hat. Er ist auch Punksänger, Rezitator und Aktivist, der auf dem Charkiwer "Majdan" 2014 krankenhausreif geschlagen wurde. In seinen Geschichten, im Original just 2014 erschienen, sind Angst und Bedrohung stets spürbar. Und wenn Dascha, die dem egomanisch-postpubertären Studenten Romeo die Stadt erklärt, kühl darauf hinweist, dass auf der Straße wieder geschossen werde und der Krieg weitergehe, aber "niemand die Absicht habe, sich zu ergeben", liest sich das heute beklemmend prophetisch.
Für seinen anarchischen Reiseroman "Die Erfindung des Jazz im Donbass", der auf Deutsch 2012 erschien, wurde Zhadan vielfach ausgezeichnet. Seither ist seine Literatur gereift, und seine neuen Geschichten sind raffinierter, etwa wenn sie Bewusstseinsströme und Tagträume eines Liebespaares unterhaltsam miteinander kurzschließen. Die Episoden des neuen Romans sind passagenweise lyrisch so verdichtet, dass sie sich wie Prosagedichte lesen, mit schnellem Rhythmus und starken Bildern, die zwischen Ernst und Rotzigkeit changieren, zwischen herausgeschrienem Schmerz und zarten Sequenzen. Es scheint nur logisch, dass Zhadan seine Erzähler mitunter Evangelisten nennt, die den "Atem des Höllenfeuers" am eigenen Leib gespürt haben, genauso wie den Atem des Paradieses.
Seine Alltagschronisten berichten empathisch von heiligen Trinkern und philosophierenden Prostituierten, von brutalen Geschäftemachern, die sich unrettbar verlieben, und von Jugendlichen, die am Erwachsenwerden verzweifeln. Und immer wieder geht es um die Liebe, um ihre Missverständnisse und Enttäuschungen, um Gier und Treulosigkeit. Begleitet von einer Melancholie, die sich "im Inneren meines Körpers, zwischen Herz und Milz bildete und als dunkler Klumpen aufstieg, sich ausdehnte und mich zwang, traurig zu lauschen". So formuliert es der Erzähler in "Marat", einer der schönsten und atmosphärisch intensivsten Geschichten in "Mesopotamien", die von der Totenfeier für einen Boxer handelt.
"Eine Totenklage für dieses kaputte Land" nennt das erzählende Ich im zweiten lyrischen Teil sein Sprechen. Die Übergänge zwischen Prosa und Gedichten sind im Buch fließend, das Personal bleibt gleich, "Verallgemeinerungen" ist der lyrische Teil überschrieben. Er sei mit den Gedichten von Rilke und Celan aufgewachsen, gestand Zhadan, spreche aber nicht gern davon, denn "das ist für mich eine ziemlich intime Sache". Man hört diese lyrischen Stimmen im Buch, vor allem wenn es von Charkiw als einem "verheerten Jerusalem" erzählt, bevölkert von herumirrenden aschebestäubten Engeln.
Zhadans Männer sind kraftmeierisch und dünnhäutig, die Frauen lasziv und ebenso entschlossen wie verletzlich. Sie alle balancieren auf der Messerschneide einer prekären Existenz, ihr Stolpern und Straucheln, ihre Rechthaberei und Borniertheit werden mit groteskem Humor, mit Gogolschem Zungenschlag geschildert: präzise, böse und liebevoll (auch Gogol stammte aus der Ukraine).
In der letzten Geschichte laufen beim todkranken Luca im Umland von Charkiw die Fäden zusammen: "Alles Lachen und allen Gesang" aus der Stadt hat der Fluss hierhergebracht, und spontan entsteht eine wilde, sich ausweitende Punk-Fete. Es beginnt also genau das, was der Autor einmal seinen heimlichen Traum genannt hat: eine Punk-Kommune als kreative Gemeinschaft, "in der tagsüber alle nützliche Arbeit verrichten, zum Beispiel rote Rüben sammeln, und abends ,Sex Pistols' hören".
NICOLE HENNEBERG
Serhij Zhadan: "Mesopotamien". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 366 S., geb., 22,90 [Euro].
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»Die Episoden des neuen Romans sind passagenweise lyrisch so verdichtet, dass sie sich wie Prosagedichte lesen, mit schnellem Rhythmus und starken Bildern ... « Nicole Henneberg Frankfurter Allgemeine Zeitung 20160518