***NATIONAL JEWISH BOOK AWARD WINNER*** Visually and emotionally rich, MetaMaus is as groundbreaking as the masterpiece whose creation it reveals. In the pages of MetaMaus, Art Spiegelman re-enters the Pulitzer prize-winning Maus, the modern classic that has altered how we see literature, comics, and the Holocaust ever since it was first published twenty-five years ago. He probes the questions that Maus most often evokes-Why the Holocaust? Why mice? Why comics?-and gives us a new and essential work about the creative process. MetaMaus includes a bonus DVD-R that provides a digitized reference copy of The Complete Maus linked to a deep archive of audio interviews with his survivor father, historical documents, and a wealth of Spiegelman's private notebooks and sketches. Compelling and intimate, MetaMaus is poised to become a classic in its own right.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2012Das Buch
der Erschöpfung
Art Spiegelmans „MetaMaus“ ist der Versuch, sich
von der Übermacht der „Maus“ freizumachen
VON FRITZ GÖTTLER
Was Autoren gemeinhin hoch erfreut, das passierte Art Spiegelman im Dezember 1991 – er sah sein neues Werk, „Maus II“, auf der Bestsellerliste der New York Times . Was ihm die Freude dann doch wieder verdüsterte, bis zum Befremden, war – dass das Buch in der Kategorie Fiction firmierte. Ja, es war ein Comic, eine Graphic Novel, politisch nicht wirklich korrekt, mit Mäusen und Katzen, Schweinen und Hunden. Aber es war die Geschichte von Wladek und Anja, Arts Eltern, ihre Jugend im Stetl, ihre Leiden in den KZs, ihr Neuanfang in den USA. Und reflektiert in diesem individuellen Familienroman die Geschichte des europäischen Holocaust, einem amerikanischen Publikum auf schockierende, irgendwie auch vertraute Weise vorgelegt. Als Romancier, so der Autor in einem Brief an die Redakteure der New York Times , hätte er sich einige der 13 Jahre historischer Recherche und Konstruktion, die er für sein Buch aufwandte, sparen können. „Ich weiß, dass ich durch das Zeichnen von Menschen mit Tierköpfen für Sie Klassifizierungsprobleme aufgeworfen habe. Könnten Sie bitte erwägen, Ihre Liste um eine eigene Kategorie ,Nonfiction/Mäuse‘ zu erweitern?“
Die 13 Jahre mit der Maus sind nun kompakt zusammengefasst in einem Band mit Gesprächen, Materialien, Skizzen, Dokumenten, Fotografien zur Entstehung dieses wuchtigen Kunstwerks. „MetaMaus“ heißt der Band, seine Geburtshelferin war Hillary Chute von der University of Chicago, der Art Spiegelman Zugang zu seinem Archiv gewährte und die fünf Jahre in seinem „Rattennest“ forschte. Sie steuert das lange Gespräch mit Spiegelman, das den Hauptteil des Bandes ausmacht, koordiniert die Illustrationen, die den Text ergänzen, macht Anmerkungen und gibt Hinweise auf Passagen aus den zwei „Maus“-Bänden – das Material in seiner Fülle ist auf einer DVD beigefügt. Es ist der dritte Coup in Sachen Spiegelman binnen kurzer Zeit, nach der Ausstellung im Museum Ludwig in Köln (SZ vom 5.9.) und dem Siegfried-Unseld-Preis für den Autor.
Man darf sich nicht abschrecken lassen von der Aura der Distanz, die der Titel entfaltet, man ist immer mitten drin. „MetaMaus“ holt Spiegelmans „Maus“ gewissermaßen von seinem Sockel. Einen Comic zu schaffen, für den man ein Lesezeichen braucht, hatte er sich vorgenommen, erzählt Spiegelman ironisch. Eine strenge Vorgabe, die er dann einlöste, indem er eine absolut persönliche Geschichte erzählte. 1972 hat er sie erstmals auf Tonband aufgenommen, an vier Tagen zu Besuch im Elternhaus, sie sind im Buch transkribiert und auf der DVD teilweise zu hören. Erfahrungen mit dem Familienschicksal in all seinen Details, die um dunkle, unerklärliche Zentren sich gruppierten, das Schicksal des verlorenen Bruders, der Selbstmord der Mutter. Eins der Geheimnisse von „Maus“ – dass die Mutter geschwiegen hat, dass Art Spiegelman ihre Geschichte nicht wirklich erzählen konnte.
Persönliche Erfahrungen, die es galt in eine eigene Form zu bringen – und der Band insistiert auf dem praktischen, dem professionellen, dem materiellen Aspekt dieser Arbeit. „Ich mag das Wort Material, denn es führt uns zurück in den Garment District, aus dem wir osteuropäischen Juden gekommen sind. Und ich mag es, weil es mir erlaubt, meine Arbeit zu objektivieren . . . Und andererseits ist es auch in dem Sinne Material, dass es Fühlbarkeit besitzt, Gewicht und Struktur und zu etwas verarbeitet werden muss.“
Der Band ist eine Lektion darin, wie kühl der Künstler auch die größten Schrecken verarbeiten muss – die Toten in kleine Schachteln legen, sagt Art Spiegelman, in die kleinen, die kleinsten Einheiten seines Comics. Spiegelman hat keinen Horror vor dem Begriff Postmoderne, Roland Barthes hätte das Buch gefallen. Jede „Maus“-Seite ist streng konstruiert und rhythmisiert, verdichtet zum Spiel von Erinnerung und Imagination, und das Erzählen ist immer Teil des Erzählten. Eine unglaubliche Klarheit, die ganz im Gegensatz steht zu den Hervorbringungen des Holocaust-Kitsch, die in der Zeit überhand nahmen, als das Buch entstand. Ein böses Beispiel erzählt Spiegelman, als er 1987 nach Polen reiste und der TV-Journalist Georg Stefan Troller ein Fernsehfeature darüber machte – die Themenparkisierung von Auschwitz. Troller bestellte eine Dampflok, die er vor die Tore des Lagers fahren ließ – trotz Spiegelmans Beteuerung, seine Eltern seien mit dem Lkw gebracht worden. Und die Bauern ums Lager hatten mitgekriegt, dass sie Geld dafür verlangen konnten, die Lok über ihr Land fahren zu lassen. „MetaMaus“ ist ein erschöpfendes Buch, ein Buch der Erschöpfung, der Versuch, sich vom Erfolg, von der Übermacht der „Maus“ freizumachen. Die Redakteure der New York Times diskutierten Spiegelmans Brief, schließlich wurde das Buch unter Nonfiction placiert. „Aber einer der Redakteure war darüber verärgert und sagte: ,Klingeln wir doch mal bei Spiegelman – wenn uns dann eine Riesenmaus öffnet, listen wir das Buch als Nonfiction!“
Art Spiegelman: MetaMaus. Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. S. Fischer, Frankfurt/Main 2012. 299 Seiten, 34 Euro.
Ich mag das Wort Material, es hilft
mir, meine Arbeit zu objektivieren
Eine Mutter, die merkwürdig abwesend bleibt: Anja und Art, Stockholm, um 1951.
„Mom und ich im Park, 1951“. Auf der Lithografie von 1979 wird die „Rache der Maus“ imaginiert. Was Spiegelman vermisst in seinem großen Werk, ist die Geschichte der Mutter.
ABB. (2): AUS DEM BESPROCHENEN BAND
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Erschöpfung
Art Spiegelmans „MetaMaus“ ist der Versuch, sich
von der Übermacht der „Maus“ freizumachen
VON FRITZ GÖTTLER
Was Autoren gemeinhin hoch erfreut, das passierte Art Spiegelman im Dezember 1991 – er sah sein neues Werk, „Maus II“, auf der Bestsellerliste der New York Times . Was ihm die Freude dann doch wieder verdüsterte, bis zum Befremden, war – dass das Buch in der Kategorie Fiction firmierte. Ja, es war ein Comic, eine Graphic Novel, politisch nicht wirklich korrekt, mit Mäusen und Katzen, Schweinen und Hunden. Aber es war die Geschichte von Wladek und Anja, Arts Eltern, ihre Jugend im Stetl, ihre Leiden in den KZs, ihr Neuanfang in den USA. Und reflektiert in diesem individuellen Familienroman die Geschichte des europäischen Holocaust, einem amerikanischen Publikum auf schockierende, irgendwie auch vertraute Weise vorgelegt. Als Romancier, so der Autor in einem Brief an die Redakteure der New York Times , hätte er sich einige der 13 Jahre historischer Recherche und Konstruktion, die er für sein Buch aufwandte, sparen können. „Ich weiß, dass ich durch das Zeichnen von Menschen mit Tierköpfen für Sie Klassifizierungsprobleme aufgeworfen habe. Könnten Sie bitte erwägen, Ihre Liste um eine eigene Kategorie ,Nonfiction/Mäuse‘ zu erweitern?“
Die 13 Jahre mit der Maus sind nun kompakt zusammengefasst in einem Band mit Gesprächen, Materialien, Skizzen, Dokumenten, Fotografien zur Entstehung dieses wuchtigen Kunstwerks. „MetaMaus“ heißt der Band, seine Geburtshelferin war Hillary Chute von der University of Chicago, der Art Spiegelman Zugang zu seinem Archiv gewährte und die fünf Jahre in seinem „Rattennest“ forschte. Sie steuert das lange Gespräch mit Spiegelman, das den Hauptteil des Bandes ausmacht, koordiniert die Illustrationen, die den Text ergänzen, macht Anmerkungen und gibt Hinweise auf Passagen aus den zwei „Maus“-Bänden – das Material in seiner Fülle ist auf einer DVD beigefügt. Es ist der dritte Coup in Sachen Spiegelman binnen kurzer Zeit, nach der Ausstellung im Museum Ludwig in Köln (SZ vom 5.9.) und dem Siegfried-Unseld-Preis für den Autor.
Man darf sich nicht abschrecken lassen von der Aura der Distanz, die der Titel entfaltet, man ist immer mitten drin. „MetaMaus“ holt Spiegelmans „Maus“ gewissermaßen von seinem Sockel. Einen Comic zu schaffen, für den man ein Lesezeichen braucht, hatte er sich vorgenommen, erzählt Spiegelman ironisch. Eine strenge Vorgabe, die er dann einlöste, indem er eine absolut persönliche Geschichte erzählte. 1972 hat er sie erstmals auf Tonband aufgenommen, an vier Tagen zu Besuch im Elternhaus, sie sind im Buch transkribiert und auf der DVD teilweise zu hören. Erfahrungen mit dem Familienschicksal in all seinen Details, die um dunkle, unerklärliche Zentren sich gruppierten, das Schicksal des verlorenen Bruders, der Selbstmord der Mutter. Eins der Geheimnisse von „Maus“ – dass die Mutter geschwiegen hat, dass Art Spiegelman ihre Geschichte nicht wirklich erzählen konnte.
Persönliche Erfahrungen, die es galt in eine eigene Form zu bringen – und der Band insistiert auf dem praktischen, dem professionellen, dem materiellen Aspekt dieser Arbeit. „Ich mag das Wort Material, denn es führt uns zurück in den Garment District, aus dem wir osteuropäischen Juden gekommen sind. Und ich mag es, weil es mir erlaubt, meine Arbeit zu objektivieren . . . Und andererseits ist es auch in dem Sinne Material, dass es Fühlbarkeit besitzt, Gewicht und Struktur und zu etwas verarbeitet werden muss.“
Der Band ist eine Lektion darin, wie kühl der Künstler auch die größten Schrecken verarbeiten muss – die Toten in kleine Schachteln legen, sagt Art Spiegelman, in die kleinen, die kleinsten Einheiten seines Comics. Spiegelman hat keinen Horror vor dem Begriff Postmoderne, Roland Barthes hätte das Buch gefallen. Jede „Maus“-Seite ist streng konstruiert und rhythmisiert, verdichtet zum Spiel von Erinnerung und Imagination, und das Erzählen ist immer Teil des Erzählten. Eine unglaubliche Klarheit, die ganz im Gegensatz steht zu den Hervorbringungen des Holocaust-Kitsch, die in der Zeit überhand nahmen, als das Buch entstand. Ein böses Beispiel erzählt Spiegelman, als er 1987 nach Polen reiste und der TV-Journalist Georg Stefan Troller ein Fernsehfeature darüber machte – die Themenparkisierung von Auschwitz. Troller bestellte eine Dampflok, die er vor die Tore des Lagers fahren ließ – trotz Spiegelmans Beteuerung, seine Eltern seien mit dem Lkw gebracht worden. Und die Bauern ums Lager hatten mitgekriegt, dass sie Geld dafür verlangen konnten, die Lok über ihr Land fahren zu lassen. „MetaMaus“ ist ein erschöpfendes Buch, ein Buch der Erschöpfung, der Versuch, sich vom Erfolg, von der Übermacht der „Maus“ freizumachen. Die Redakteure der New York Times diskutierten Spiegelmans Brief, schließlich wurde das Buch unter Nonfiction placiert. „Aber einer der Redakteure war darüber verärgert und sagte: ,Klingeln wir doch mal bei Spiegelman – wenn uns dann eine Riesenmaus öffnet, listen wir das Buch als Nonfiction!“
Art Spiegelman: MetaMaus. Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. S. Fischer, Frankfurt/Main 2012. 299 Seiten, 34 Euro.
Ich mag das Wort Material, es hilft
mir, meine Arbeit zu objektivieren
Eine Mutter, die merkwürdig abwesend bleibt: Anja und Art, Stockholm, um 1951.
„Mom und ich im Park, 1951“. Auf der Lithografie von 1979 wird die „Rache der Maus“ imaginiert. Was Spiegelman vermisst in seinem großen Werk, ist die Geschichte der Mutter.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2021Nicht auf dem Lehrplan
Vor mehr als dreißig Jahren erschien Art Spiegelmans Comic "Maus" in deutscher Übersetzung. Während der Text zu den Standardwerken in amerikanischen Schulen gehört, ist er in deutschen Klassenzimmern unbekannt. Obwohl er der heutigen Generation einen Zugang zur Schoa bieten könnte, den sie benötigt
Ein einziges Mal hat Karsten Brill "Maus" unterrichtet. Das war mit einer seiner letzten G9-Klassen, also vor dreizehn Jahren. Heute unterrichtet er in Bönen, Deutsch und Englisch. "Maus" nahm er damals am Gymnasium Essen-Werden mit seiner damaligen zehnten Klasse durch, als es um die Schoa ging. Welche Texte wählt man aus, um jungen Menschen einen literarischen Zugang zu etwas zu schaffen, was sich literarisch schwer begreifen lässt? Worüber immer wieder gestritten wird, was darstellerisch möglich, was künstlerisch angemessen ist? Vor allem, wenn sich das Wissen darüber, was geschehen ist, für diese jungen Menschen gerade noch aufbaut?
Wenn Brill Bücher für seine Klassen auswählt, erzählt er, dann sollten es solche sein, die Jugendliche erreichen, ihnen also verständlich sind; sie sollten ihnen die Möglichkeit geben, sich zu identifizieren; und zudem "gewisse Analysefähigkeiten fördern". Die Deutschklasse, für die er den Comic als Lektüre wählte, wusste schon einiges über die Schoa: Die Schülerinnen und Schüler waren in Buchenwald gewesen, hatten mit Zeitzeugen gesprochen, vorsichtig fragten sie nach. "Langsam wurden ihnen die unmenschlichen Dimensionen bewusst." Und schließlich kamen die konkreten Nachfragen: Warum wurde das zugelassen? Wie kann so was sein? "Sie wollten die Dinge genau beschrieben wissen und erfahren, wie sie abgelaufen sind. Sie stießen an die Grenzen ihres Vorstellungsvermögens." Brill hoffte, dass ihnen "Maus" das Unvorstellbare verständlicher machen könnte.
Vor mehr als dreißig Jahren erschien Art Spiegelmans "Maus" in deutscher Übersetzung. In amerikanischen Schulen gilt die berühmte Graphic Novel als Standardwerk, wenn es im Unterricht um die Schoa geht, in deutschen Klassenzimmern scheint sie aber gänzlich unbekannt. "Maus" erzählt die autobiographische Geschichte von Art und die seiner Eltern Vladek und Anja Spiegelman, die im März 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, überlebten und über Schweden in die Vereinigten Staaten auswanderten. Spiegelman zeichnet sie und sich als anthropomorphe Mäuse (menschliche Körper, tierische Köpfe) und stellt das Zitat Hitlers voran, dass "die Juden zweifellos eine Rasse seien, nur keine menschliche". Die Deutschen sind hier die jagenden Katzen. Mit diesem künstlerischen Griff macht er sich das Denken der NS-Zeit ironisch zu eigen und ist gleichzeitig skeptisch gegenüber sich selbst: Beispielsweise wenn Art damit hadert, wie er seine konvertierte Ehefrau Françoise denn nun darstellen solle: als Französin, also Frosch, oder als Jüdin, also Maus?
"Maus" wurde als transgressiv wahrgenommen, weil das Buch den massenhaften Tod abbildet und damit gar nicht erst versucht, der Frage, ob man das dürfe, gerecht zu werden. Gleichzeitig sind es immer Mäuse und nicht Menschen, die zu sehen sind - das schafft Abstand und verfremdet. So wird auf die eigene Symbolhaftigkeit verwiesen, auf das Unvermögen, Greuel und Brutalität darstellen zu können. "Die Skepsis der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Kunstform Comic löste sich schnell auf. Sie fingen an zu begreifen, auf was die gezeichneten Bilder und Spiegelmans Geschichte verweisen - und, dass sie nur verweisen können. Der letzte Schritt vollzieht sich im Kopf."
"Maus" erzählt nämlich nicht nur die Geschichte von Spiegelmans Eltern, von denjenigen also, die überlebt haben, und vom Schweigen derjenigen, die nicht mehr leben durften. Im zweiten Teil von "Maus", der neun Jahre nach dem ersten erschien, zeichnete sich Art selbst am Zeichentisch. Der Mauskopf ist nun nur noch Maske, Fliegen kreisen um ihn, während er erzählt, dass seine Frau Françoise im Jahr 1987 ein Kind erwartet. Im selben Monat, 43 Jahre zuvor, wurden innerhalb von acht Tagen hunderttausend ungarische Juden vergast; im selben Monat, 21 Jahre zuvor, nahm sich seine Mutter das Leben. Artie blickt einen aus dem Buch heraus direkt an: "Maus ist ein kritischer und kommerzieller Erfolg." Sein Zeichentisch steht auf einem Leichenberg, daher die surrenden Fliegen, er weint auf den Tisch, "Time flies", "Zeitfliegen".
Die Zeit verfliegt, sie fliegt, und sie kreist um all die Toten. Sein Leben, das seiner Familie, seine Existenz als Künstler, alles resultiert aus dem Mord an Millionen und dem Leid, dem seine Mutter letztlich nicht entfliehen konnte. Er bringt hier die Gegenwart, sein Leben, aber auch alles Leben, das danach kam, konkret zusammen mit dem Gefühl der Schuld, überlebt zu haben.
Als "Maus II" erschien, sprach sich Elie Wiesel wohl am prominentesten gegen die Literarisierung des Holocaust aus, plädierte aber dafür, dass versucht werden müsse, das Unbeschreibbare zu beschreiben. Die verschiedenen Standpunkte der akademischen Diskussion in den neunziger Jahren - einerseits, dass Dokumentation und historisches Schreiben wichtiger seien, weil Literatur ihren Figuren eine Handlungsmacht verleihe, die real nicht existiert habe (Berel Lang); andererseits, dass, wenn über die Schoa gesprochen werde, man immer zuerst über ihre Darstellung spreche (James E. Young) - richteten sich letztendlich auch an die Lehrpläne an deutschen Schulen. Verlangt wurden: mehr Memoiren, mehr Sozialgeschichte, mehr jüdische Geschichte.
Kurz vor der Jahrtausendwende stellte die Konferenz der Kultusminister noch einen hundertseitigen Beitrag der Länder vor, in dem es hieß, der Unterricht zur Schoa solle "speziell dem Kennenlernen und Verstehen jüdischer Kunst und Kultur" dienen - was eine schwierige Prämisse ist, denn was soll das heißen: das Judentum durch den Genozid "kennenlernen"? Tatsächlich fehlt in vielen Schulbüchern aber immer noch allgemeines Wissen über jüdische Kultur, zur Geschichte des Judentums und seiner Sprachen. Vergleichsweise ausführlich demgegenüber wird über den Widerstand im Nationalsozialismus informiert.
Vor drei Jahren erschien eine Studie des Politikwissenschaftlers Philipp Mittnik über die Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Sie zeigt: Zwar wird im deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht mehr als früher von einer Sozial- und Alltagsgeschichte ausgehend die Schoa zum Thema; auch werden Bezüge zu aktuellen Ereignissen, zu Rassismus und heutigem Rechtsextremismus hergestellt. Was jedoch fehlt, ist eine Einbettung in den Kontext europäischer und westlicher Geschichte. Geschichte wird immer noch auffällig aus deutscher, nichtjüdischer Perspektive erzählt.
Das zeigt sich auch an der Auswahl literarischer Texte, die im Deutschunterricht gelesen beziehungsweise nicht gelesen werden. Eine ältere Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung von 2013 hat fünfundfünfzig Schulbücher für die erste Sekundarstufe aus den Jahren 1990 bis 2010 untersucht. Das Ergebnis: Es wird wenig Literatur zur Schoa gelesen. Das in deutschen Schulklassen am meisten gelesene Buch ist, wenig überraschend, "Das Tagebuch der Anne Frank", was natürlich kein Roman ist. Mit Abstand folgen Romane der siebziger Jahre: "Damals war es Friedrich" von Hans Peter Richter, "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" von Judith Kerr und "Der gelbe Vogel" von Myron Levoy.
Das sind wichtige Texte. Aber bis auf Levoys Roman behandeln sie vor allem das Davor, die Frage, wie es dazu kam und wie der Alltag erlebt wurde. Pädagogisch scheut man sich zu benennen, worauf sich dieses "Davor" eigentlich bezieht - eine Kritik, die Zohar Shavit bereits vor dreißig Jahren gegenüber Hans Peter Richters Roman äußerte. Denn die Ermordung der Juden bleibt eine Leerstelle.
Für die Jugendlichen, die gerade noch die letzten Zeitzeugen erleben, wäre es wichtig, diese Leerstelle zu füllen - und dabei zu fragen, wie dies angemessen geschehen kann. Literatur, die sich mit dem Trauma der Überlebenden, aber auch mit dem nachfolgender Generationen beschäftigt, wäre ein wichtiger Teil einer solchen Fragestellung. Aber hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem für deutsche Lehrpläne: Die nachfolgende Generation, also die, die sich damit konfrontiert sieht, die lebendige Verbindung zum Holocaust zu sein, und in der sich das Wissen der Eltern zu Geschichte, Mythos, Erzählung wandelt, schreibt oft nicht auf Deutsch.
Im Deutschunterricht werden aber Übersetzungen nur selten durchgenommen, im Fremdsprachenunterricht findet sich selten Platz für die Schoa. Das Problem, so scheint es, ist, dass die Schoa als Thema eben nicht nur in einem Fach unterrichtet werden kann. Sie berührt Geschichte, Sprachen, Politik, Philosophie, Religion. In die Zwischenräume, die disziplinäre Fächer eröffnen, fallen nicht-deutschsprachige, künstlerische Auseinandersetzungen wie "Maus" einfach hinein - und halten so Bildungslücken offen, die interdisziplinäres Denken schließen könnte.
Auch ein generelles Umdenken könnte diese Lücke schließen: wenn sich die Lehrpläne konsequenter von der Perspektive "der Täter" verabschieden würden. Dass "Maus" in deutschen Lehrplänen fehlt, bestätigt die These des Historikers Raul Hilberg, nach der der Nationalsozialismus in Deutschland problematischerweise vor allem Familiengeschichte sei. Zwar seien der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus präsent, der Mord an den Juden werde aber lediglich als schlimmster Auswuchs einer Ideologie wahrgenommen. Die Erinnerungen der Opfer, Überlebenden, Nachkommen bleiben auf seltsame Weise "jüdisch-fremd".
Dass beispielsweise die (eigentlich kanonischen) Stimmen von Primo Levi, Ida Fink, Jurek Becker, von Tadeusz Borowski, Ruth Klüger oder Nathan Englander kaum Eingang in den Schulkanon finden, ist also einerseits problematisch, weil die Perspektive um die jüdische Erfahrung verkürzt wird und damit um eine Auseinandersetzung mit dieser. Darüber hinaus könnten aber Texte wie "Maus", Texte, die zudem das Trauma der nachfolgenden Generationen behandeln, einen Zugang für heutige Jugendliche erschließen, den sie benötigen. "Maus" zum Beispiel teilt die Erfahrung mit ihnen, kein Zeitzeuge zu sein. Genauso wenig wie die Kinder der zweiten Generation, die ja selbst nun schon eine Fülle an Texten bieten.
So arbeitet sich die Graphic Novel nicht nur daran ab, was Art selbst nicht erlebt hat und was unbeschreibbar erscheint, sondern findet schließlich doch Wege, es darzustellen. Das gibt der Lektüre etwas Hoffnungsvolles. Sie will nicht nur Schweigen, Respekt und Andacht hervorrufen, sondern das Erzählen in Frage stellen und versuchen, die Gegenwart in der Geschichte zu begreifen. "Die Klasse war von ,Maus' damals sehr ergriffen", sagt Brill. Für historische Fotografien wären seine Schülerinnen und Schüler, so glaubt er, vielleicht noch zu jung gewesen. "Bei manchen Stellen in ,Maus' wurde ihnen die Brutalität aber ansatzweise bewusst. Sie waren fassungslos gegenüber der Ideologie und fingen an, vieles in Frage zu stellen und zu diskutieren."
Brill las "Maus" danach nicht noch mal mit einer Klasse. Der Text ist nicht abiturrelevant. Und für alles darüber hinaus bleibt kaum Zeit.
CAROLINE JEBENS
Art Spiegelmans "Maus" ist, auf Deutsch übersetzt von Christine Brinck und Josef Joffe, im Fischer Verlag erschienen (300 Seiten, 16 Euro).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor mehr als dreißig Jahren erschien Art Spiegelmans Comic "Maus" in deutscher Übersetzung. Während der Text zu den Standardwerken in amerikanischen Schulen gehört, ist er in deutschen Klassenzimmern unbekannt. Obwohl er der heutigen Generation einen Zugang zur Schoa bieten könnte, den sie benötigt
Ein einziges Mal hat Karsten Brill "Maus" unterrichtet. Das war mit einer seiner letzten G9-Klassen, also vor dreizehn Jahren. Heute unterrichtet er in Bönen, Deutsch und Englisch. "Maus" nahm er damals am Gymnasium Essen-Werden mit seiner damaligen zehnten Klasse durch, als es um die Schoa ging. Welche Texte wählt man aus, um jungen Menschen einen literarischen Zugang zu etwas zu schaffen, was sich literarisch schwer begreifen lässt? Worüber immer wieder gestritten wird, was darstellerisch möglich, was künstlerisch angemessen ist? Vor allem, wenn sich das Wissen darüber, was geschehen ist, für diese jungen Menschen gerade noch aufbaut?
Wenn Brill Bücher für seine Klassen auswählt, erzählt er, dann sollten es solche sein, die Jugendliche erreichen, ihnen also verständlich sind; sie sollten ihnen die Möglichkeit geben, sich zu identifizieren; und zudem "gewisse Analysefähigkeiten fördern". Die Deutschklasse, für die er den Comic als Lektüre wählte, wusste schon einiges über die Schoa: Die Schülerinnen und Schüler waren in Buchenwald gewesen, hatten mit Zeitzeugen gesprochen, vorsichtig fragten sie nach. "Langsam wurden ihnen die unmenschlichen Dimensionen bewusst." Und schließlich kamen die konkreten Nachfragen: Warum wurde das zugelassen? Wie kann so was sein? "Sie wollten die Dinge genau beschrieben wissen und erfahren, wie sie abgelaufen sind. Sie stießen an die Grenzen ihres Vorstellungsvermögens." Brill hoffte, dass ihnen "Maus" das Unvorstellbare verständlicher machen könnte.
Vor mehr als dreißig Jahren erschien Art Spiegelmans "Maus" in deutscher Übersetzung. In amerikanischen Schulen gilt die berühmte Graphic Novel als Standardwerk, wenn es im Unterricht um die Schoa geht, in deutschen Klassenzimmern scheint sie aber gänzlich unbekannt. "Maus" erzählt die autobiographische Geschichte von Art und die seiner Eltern Vladek und Anja Spiegelman, die im März 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, überlebten und über Schweden in die Vereinigten Staaten auswanderten. Spiegelman zeichnet sie und sich als anthropomorphe Mäuse (menschliche Körper, tierische Köpfe) und stellt das Zitat Hitlers voran, dass "die Juden zweifellos eine Rasse seien, nur keine menschliche". Die Deutschen sind hier die jagenden Katzen. Mit diesem künstlerischen Griff macht er sich das Denken der NS-Zeit ironisch zu eigen und ist gleichzeitig skeptisch gegenüber sich selbst: Beispielsweise wenn Art damit hadert, wie er seine konvertierte Ehefrau Françoise denn nun darstellen solle: als Französin, also Frosch, oder als Jüdin, also Maus?
"Maus" wurde als transgressiv wahrgenommen, weil das Buch den massenhaften Tod abbildet und damit gar nicht erst versucht, der Frage, ob man das dürfe, gerecht zu werden. Gleichzeitig sind es immer Mäuse und nicht Menschen, die zu sehen sind - das schafft Abstand und verfremdet. So wird auf die eigene Symbolhaftigkeit verwiesen, auf das Unvermögen, Greuel und Brutalität darstellen zu können. "Die Skepsis der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Kunstform Comic löste sich schnell auf. Sie fingen an zu begreifen, auf was die gezeichneten Bilder und Spiegelmans Geschichte verweisen - und, dass sie nur verweisen können. Der letzte Schritt vollzieht sich im Kopf."
"Maus" erzählt nämlich nicht nur die Geschichte von Spiegelmans Eltern, von denjenigen also, die überlebt haben, und vom Schweigen derjenigen, die nicht mehr leben durften. Im zweiten Teil von "Maus", der neun Jahre nach dem ersten erschien, zeichnete sich Art selbst am Zeichentisch. Der Mauskopf ist nun nur noch Maske, Fliegen kreisen um ihn, während er erzählt, dass seine Frau Françoise im Jahr 1987 ein Kind erwartet. Im selben Monat, 43 Jahre zuvor, wurden innerhalb von acht Tagen hunderttausend ungarische Juden vergast; im selben Monat, 21 Jahre zuvor, nahm sich seine Mutter das Leben. Artie blickt einen aus dem Buch heraus direkt an: "Maus ist ein kritischer und kommerzieller Erfolg." Sein Zeichentisch steht auf einem Leichenberg, daher die surrenden Fliegen, er weint auf den Tisch, "Time flies", "Zeitfliegen".
Die Zeit verfliegt, sie fliegt, und sie kreist um all die Toten. Sein Leben, das seiner Familie, seine Existenz als Künstler, alles resultiert aus dem Mord an Millionen und dem Leid, dem seine Mutter letztlich nicht entfliehen konnte. Er bringt hier die Gegenwart, sein Leben, aber auch alles Leben, das danach kam, konkret zusammen mit dem Gefühl der Schuld, überlebt zu haben.
Als "Maus II" erschien, sprach sich Elie Wiesel wohl am prominentesten gegen die Literarisierung des Holocaust aus, plädierte aber dafür, dass versucht werden müsse, das Unbeschreibbare zu beschreiben. Die verschiedenen Standpunkte der akademischen Diskussion in den neunziger Jahren - einerseits, dass Dokumentation und historisches Schreiben wichtiger seien, weil Literatur ihren Figuren eine Handlungsmacht verleihe, die real nicht existiert habe (Berel Lang); andererseits, dass, wenn über die Schoa gesprochen werde, man immer zuerst über ihre Darstellung spreche (James E. Young) - richteten sich letztendlich auch an die Lehrpläne an deutschen Schulen. Verlangt wurden: mehr Memoiren, mehr Sozialgeschichte, mehr jüdische Geschichte.
Kurz vor der Jahrtausendwende stellte die Konferenz der Kultusminister noch einen hundertseitigen Beitrag der Länder vor, in dem es hieß, der Unterricht zur Schoa solle "speziell dem Kennenlernen und Verstehen jüdischer Kunst und Kultur" dienen - was eine schwierige Prämisse ist, denn was soll das heißen: das Judentum durch den Genozid "kennenlernen"? Tatsächlich fehlt in vielen Schulbüchern aber immer noch allgemeines Wissen über jüdische Kultur, zur Geschichte des Judentums und seiner Sprachen. Vergleichsweise ausführlich demgegenüber wird über den Widerstand im Nationalsozialismus informiert.
Vor drei Jahren erschien eine Studie des Politikwissenschaftlers Philipp Mittnik über die Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Sie zeigt: Zwar wird im deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht mehr als früher von einer Sozial- und Alltagsgeschichte ausgehend die Schoa zum Thema; auch werden Bezüge zu aktuellen Ereignissen, zu Rassismus und heutigem Rechtsextremismus hergestellt. Was jedoch fehlt, ist eine Einbettung in den Kontext europäischer und westlicher Geschichte. Geschichte wird immer noch auffällig aus deutscher, nichtjüdischer Perspektive erzählt.
Das zeigt sich auch an der Auswahl literarischer Texte, die im Deutschunterricht gelesen beziehungsweise nicht gelesen werden. Eine ältere Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung von 2013 hat fünfundfünfzig Schulbücher für die erste Sekundarstufe aus den Jahren 1990 bis 2010 untersucht. Das Ergebnis: Es wird wenig Literatur zur Schoa gelesen. Das in deutschen Schulklassen am meisten gelesene Buch ist, wenig überraschend, "Das Tagebuch der Anne Frank", was natürlich kein Roman ist. Mit Abstand folgen Romane der siebziger Jahre: "Damals war es Friedrich" von Hans Peter Richter, "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" von Judith Kerr und "Der gelbe Vogel" von Myron Levoy.
Das sind wichtige Texte. Aber bis auf Levoys Roman behandeln sie vor allem das Davor, die Frage, wie es dazu kam und wie der Alltag erlebt wurde. Pädagogisch scheut man sich zu benennen, worauf sich dieses "Davor" eigentlich bezieht - eine Kritik, die Zohar Shavit bereits vor dreißig Jahren gegenüber Hans Peter Richters Roman äußerte. Denn die Ermordung der Juden bleibt eine Leerstelle.
Für die Jugendlichen, die gerade noch die letzten Zeitzeugen erleben, wäre es wichtig, diese Leerstelle zu füllen - und dabei zu fragen, wie dies angemessen geschehen kann. Literatur, die sich mit dem Trauma der Überlebenden, aber auch mit dem nachfolgender Generationen beschäftigt, wäre ein wichtiger Teil einer solchen Fragestellung. Aber hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem für deutsche Lehrpläne: Die nachfolgende Generation, also die, die sich damit konfrontiert sieht, die lebendige Verbindung zum Holocaust zu sein, und in der sich das Wissen der Eltern zu Geschichte, Mythos, Erzählung wandelt, schreibt oft nicht auf Deutsch.
Im Deutschunterricht werden aber Übersetzungen nur selten durchgenommen, im Fremdsprachenunterricht findet sich selten Platz für die Schoa. Das Problem, so scheint es, ist, dass die Schoa als Thema eben nicht nur in einem Fach unterrichtet werden kann. Sie berührt Geschichte, Sprachen, Politik, Philosophie, Religion. In die Zwischenräume, die disziplinäre Fächer eröffnen, fallen nicht-deutschsprachige, künstlerische Auseinandersetzungen wie "Maus" einfach hinein - und halten so Bildungslücken offen, die interdisziplinäres Denken schließen könnte.
Auch ein generelles Umdenken könnte diese Lücke schließen: wenn sich die Lehrpläne konsequenter von der Perspektive "der Täter" verabschieden würden. Dass "Maus" in deutschen Lehrplänen fehlt, bestätigt die These des Historikers Raul Hilberg, nach der der Nationalsozialismus in Deutschland problematischerweise vor allem Familiengeschichte sei. Zwar seien der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus präsent, der Mord an den Juden werde aber lediglich als schlimmster Auswuchs einer Ideologie wahrgenommen. Die Erinnerungen der Opfer, Überlebenden, Nachkommen bleiben auf seltsame Weise "jüdisch-fremd".
Dass beispielsweise die (eigentlich kanonischen) Stimmen von Primo Levi, Ida Fink, Jurek Becker, von Tadeusz Borowski, Ruth Klüger oder Nathan Englander kaum Eingang in den Schulkanon finden, ist also einerseits problematisch, weil die Perspektive um die jüdische Erfahrung verkürzt wird und damit um eine Auseinandersetzung mit dieser. Darüber hinaus könnten aber Texte wie "Maus", Texte, die zudem das Trauma der nachfolgenden Generationen behandeln, einen Zugang für heutige Jugendliche erschließen, den sie benötigen. "Maus" zum Beispiel teilt die Erfahrung mit ihnen, kein Zeitzeuge zu sein. Genauso wenig wie die Kinder der zweiten Generation, die ja selbst nun schon eine Fülle an Texten bieten.
So arbeitet sich die Graphic Novel nicht nur daran ab, was Art selbst nicht erlebt hat und was unbeschreibbar erscheint, sondern findet schließlich doch Wege, es darzustellen. Das gibt der Lektüre etwas Hoffnungsvolles. Sie will nicht nur Schweigen, Respekt und Andacht hervorrufen, sondern das Erzählen in Frage stellen und versuchen, die Gegenwart in der Geschichte zu begreifen. "Die Klasse war von ,Maus' damals sehr ergriffen", sagt Brill. Für historische Fotografien wären seine Schülerinnen und Schüler, so glaubt er, vielleicht noch zu jung gewesen. "Bei manchen Stellen in ,Maus' wurde ihnen die Brutalität aber ansatzweise bewusst. Sie waren fassungslos gegenüber der Ideologie und fingen an, vieles in Frage zu stellen und zu diskutieren."
Brill las "Maus" danach nicht noch mal mit einer Klasse. Der Text ist nicht abiturrelevant. Und für alles darüber hinaus bleibt kaum Zeit.
CAROLINE JEBENS
Art Spiegelmans "Maus" ist, auf Deutsch übersetzt von Christine Brinck und Josef Joffe, im Fischer Verlag erschienen (300 Seiten, 16 Euro).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main