»Wenn ein Zeichner den Nobelpreis verdient hätte, dann er: Art Spiegelman«. Welt am Sonntag
'Maus' von Art Spiegelman wurde über Nacht zu einem modernen Klassiker und revolutionierte die Welt des Comic-Strips. Als erster Comickünstler wurde Spiegelman mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet - und löste eine kontroverse und leidenschaftliche Diskussion aus: Darf man KZs in einem Comics darstellen, darf man Juden als Mäuse, Nazis als Katzen zeichnen?
In 'MetaMaus' lüftet Spiegelman den Vorhang und gewährt detailliert Einblick in seine Kunst: Er gibt die aufwühlenden Gespräche mit seinem Vater wieder, dem Helden des Buches. In den vielen Skizzen und Entwürfen können wir die Entstehung des berühmten Comic-Strips nachverfolgen, der zum Weltbestseller wurde. Ein vielschichtiger Material- und Interviewband, der keine Frage offen lässt.
'Maus' von Art Spiegelman wurde über Nacht zu einem modernen Klassiker und revolutionierte die Welt des Comic-Strips. Als erster Comickünstler wurde Spiegelman mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet - und löste eine kontroverse und leidenschaftliche Diskussion aus: Darf man KZs in einem Comics darstellen, darf man Juden als Mäuse, Nazis als Katzen zeichnen?
In 'MetaMaus' lüftet Spiegelman den Vorhang und gewährt detailliert Einblick in seine Kunst: Er gibt die aufwühlenden Gespräche mit seinem Vater wieder, dem Helden des Buches. In den vielen Skizzen und Entwürfen können wir die Entstehung des berühmten Comic-Strips nachverfolgen, der zum Weltbestseller wurde. Ein vielschichtiger Material- und Interviewband, der keine Frage offen lässt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fritz Göttler scheint dem Band eine Menge abgewinnen zu können, den Hillary Chute zusammen mit Art Spiegelmann zusammengestellt hat und der die 13 Jahre dokumentiert, die der Autor und Zeichner von "Maus" darauf verwendet hat, seine Familiengeschichte als Comic zu erzählen. Der Band vereint Gespräche, Materialien, Skizzen, Fotos und eine DVD zur Entstehung des Werkes und führt laut Göttler mitten hinein in die Geschichte, wenn der Titel auch Distanz vermuten lässt. Für den Rezensenten eine erschöpfende Lektüre zu einem mächtigen Kunstwerk.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2012Das Buch
der Erschöpfung
Art Spiegelmans „MetaMaus“ ist der Versuch, sich
von der Übermacht der „Maus“ freizumachen
VON FRITZ GÖTTLER
Was Autoren gemeinhin hoch erfreut, das passierte Art Spiegelman im Dezember 1991 – er sah sein neues Werk, „Maus II“, auf der Bestsellerliste der New York Times . Was ihm die Freude dann doch wieder verdüsterte, bis zum Befremden, war – dass das Buch in der Kategorie Fiction firmierte. Ja, es war ein Comic, eine Graphic Novel, politisch nicht wirklich korrekt, mit Mäusen und Katzen, Schweinen und Hunden. Aber es war die Geschichte von Wladek und Anja, Arts Eltern, ihre Jugend im Stetl, ihre Leiden in den KZs, ihr Neuanfang in den USA. Und reflektiert in diesem individuellen Familienroman die Geschichte des europäischen Holocaust, einem amerikanischen Publikum auf schockierende, irgendwie auch vertraute Weise vorgelegt. Als Romancier, so der Autor in einem Brief an die Redakteure der New York Times , hätte er sich einige der 13 Jahre historischer Recherche und Konstruktion, die er für sein Buch aufwandte, sparen können. „Ich weiß, dass ich durch das Zeichnen von Menschen mit Tierköpfen für Sie Klassifizierungsprobleme aufgeworfen habe. Könnten Sie bitte erwägen, Ihre Liste um eine eigene Kategorie ,Nonfiction/Mäuse‘ zu erweitern?“
Die 13 Jahre mit der Maus sind nun kompakt zusammengefasst in einem Band mit Gesprächen, Materialien, Skizzen, Dokumenten, Fotografien zur Entstehung dieses wuchtigen Kunstwerks. „MetaMaus“ heißt der Band, seine Geburtshelferin war Hillary Chute von der University of Chicago, der Art Spiegelman Zugang zu seinem Archiv gewährte und die fünf Jahre in seinem „Rattennest“ forschte. Sie steuert das lange Gespräch mit Spiegelman, das den Hauptteil des Bandes ausmacht, koordiniert die Illustrationen, die den Text ergänzen, macht Anmerkungen und gibt Hinweise auf Passagen aus den zwei „Maus“-Bänden – das Material in seiner Fülle ist auf einer DVD beigefügt. Es ist der dritte Coup in Sachen Spiegelman binnen kurzer Zeit, nach der Ausstellung im Museum Ludwig in Köln (SZ vom 5.9.) und dem Siegfried-Unseld-Preis für den Autor.
Man darf sich nicht abschrecken lassen von der Aura der Distanz, die der Titel entfaltet, man ist immer mitten drin. „MetaMaus“ holt Spiegelmans „Maus“ gewissermaßen von seinem Sockel. Einen Comic zu schaffen, für den man ein Lesezeichen braucht, hatte er sich vorgenommen, erzählt Spiegelman ironisch. Eine strenge Vorgabe, die er dann einlöste, indem er eine absolut persönliche Geschichte erzählte. 1972 hat er sie erstmals auf Tonband aufgenommen, an vier Tagen zu Besuch im Elternhaus, sie sind im Buch transkribiert und auf der DVD teilweise zu hören. Erfahrungen mit dem Familienschicksal in all seinen Details, die um dunkle, unerklärliche Zentren sich gruppierten, das Schicksal des verlorenen Bruders, der Selbstmord der Mutter. Eins der Geheimnisse von „Maus“ – dass die Mutter geschwiegen hat, dass Art Spiegelman ihre Geschichte nicht wirklich erzählen konnte.
Persönliche Erfahrungen, die es galt in eine eigene Form zu bringen – und der Band insistiert auf dem praktischen, dem professionellen, dem materiellen Aspekt dieser Arbeit. „Ich mag das Wort Material, denn es führt uns zurück in den Garment District, aus dem wir osteuropäischen Juden gekommen sind. Und ich mag es, weil es mir erlaubt, meine Arbeit zu objektivieren . . . Und andererseits ist es auch in dem Sinne Material, dass es Fühlbarkeit besitzt, Gewicht und Struktur und zu etwas verarbeitet werden muss.“
Der Band ist eine Lektion darin, wie kühl der Künstler auch die größten Schrecken verarbeiten muss – die Toten in kleine Schachteln legen, sagt Art Spiegelman, in die kleinen, die kleinsten Einheiten seines Comics. Spiegelman hat keinen Horror vor dem Begriff Postmoderne, Roland Barthes hätte das Buch gefallen. Jede „Maus“-Seite ist streng konstruiert und rhythmisiert, verdichtet zum Spiel von Erinnerung und Imagination, und das Erzählen ist immer Teil des Erzählten. Eine unglaubliche Klarheit, die ganz im Gegensatz steht zu den Hervorbringungen des Holocaust-Kitsch, die in der Zeit überhand nahmen, als das Buch entstand. Ein böses Beispiel erzählt Spiegelman, als er 1987 nach Polen reiste und der TV-Journalist Georg Stefan Troller ein Fernsehfeature darüber machte – die Themenparkisierung von Auschwitz. Troller bestellte eine Dampflok, die er vor die Tore des Lagers fahren ließ – trotz Spiegelmans Beteuerung, seine Eltern seien mit dem Lkw gebracht worden. Und die Bauern ums Lager hatten mitgekriegt, dass sie Geld dafür verlangen konnten, die Lok über ihr Land fahren zu lassen. „MetaMaus“ ist ein erschöpfendes Buch, ein Buch der Erschöpfung, der Versuch, sich vom Erfolg, von der Übermacht der „Maus“ freizumachen. Die Redakteure der New York Times diskutierten Spiegelmans Brief, schließlich wurde das Buch unter Nonfiction placiert. „Aber einer der Redakteure war darüber verärgert und sagte: ,Klingeln wir doch mal bei Spiegelman – wenn uns dann eine Riesenmaus öffnet, listen wir das Buch als Nonfiction!“
Art Spiegelman: MetaMaus. Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. S. Fischer, Frankfurt/Main 2012. 299 Seiten, 34 Euro.
Ich mag das Wort Material, es hilft
mir, meine Arbeit zu objektivieren
Eine Mutter, die merkwürdig abwesend bleibt: Anja und Art, Stockholm, um 1951.
„Mom und ich im Park, 1951“. Auf der Lithografie von 1979 wird die „Rache der Maus“ imaginiert. Was Spiegelman vermisst in seinem großen Werk, ist die Geschichte der Mutter.
ABB. (2): AUS DEM BESPROCHENEN BAND
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Erschöpfung
Art Spiegelmans „MetaMaus“ ist der Versuch, sich
von der Übermacht der „Maus“ freizumachen
VON FRITZ GÖTTLER
Was Autoren gemeinhin hoch erfreut, das passierte Art Spiegelman im Dezember 1991 – er sah sein neues Werk, „Maus II“, auf der Bestsellerliste der New York Times . Was ihm die Freude dann doch wieder verdüsterte, bis zum Befremden, war – dass das Buch in der Kategorie Fiction firmierte. Ja, es war ein Comic, eine Graphic Novel, politisch nicht wirklich korrekt, mit Mäusen und Katzen, Schweinen und Hunden. Aber es war die Geschichte von Wladek und Anja, Arts Eltern, ihre Jugend im Stetl, ihre Leiden in den KZs, ihr Neuanfang in den USA. Und reflektiert in diesem individuellen Familienroman die Geschichte des europäischen Holocaust, einem amerikanischen Publikum auf schockierende, irgendwie auch vertraute Weise vorgelegt. Als Romancier, so der Autor in einem Brief an die Redakteure der New York Times , hätte er sich einige der 13 Jahre historischer Recherche und Konstruktion, die er für sein Buch aufwandte, sparen können. „Ich weiß, dass ich durch das Zeichnen von Menschen mit Tierköpfen für Sie Klassifizierungsprobleme aufgeworfen habe. Könnten Sie bitte erwägen, Ihre Liste um eine eigene Kategorie ,Nonfiction/Mäuse‘ zu erweitern?“
Die 13 Jahre mit der Maus sind nun kompakt zusammengefasst in einem Band mit Gesprächen, Materialien, Skizzen, Dokumenten, Fotografien zur Entstehung dieses wuchtigen Kunstwerks. „MetaMaus“ heißt der Band, seine Geburtshelferin war Hillary Chute von der University of Chicago, der Art Spiegelman Zugang zu seinem Archiv gewährte und die fünf Jahre in seinem „Rattennest“ forschte. Sie steuert das lange Gespräch mit Spiegelman, das den Hauptteil des Bandes ausmacht, koordiniert die Illustrationen, die den Text ergänzen, macht Anmerkungen und gibt Hinweise auf Passagen aus den zwei „Maus“-Bänden – das Material in seiner Fülle ist auf einer DVD beigefügt. Es ist der dritte Coup in Sachen Spiegelman binnen kurzer Zeit, nach der Ausstellung im Museum Ludwig in Köln (SZ vom 5.9.) und dem Siegfried-Unseld-Preis für den Autor.
Man darf sich nicht abschrecken lassen von der Aura der Distanz, die der Titel entfaltet, man ist immer mitten drin. „MetaMaus“ holt Spiegelmans „Maus“ gewissermaßen von seinem Sockel. Einen Comic zu schaffen, für den man ein Lesezeichen braucht, hatte er sich vorgenommen, erzählt Spiegelman ironisch. Eine strenge Vorgabe, die er dann einlöste, indem er eine absolut persönliche Geschichte erzählte. 1972 hat er sie erstmals auf Tonband aufgenommen, an vier Tagen zu Besuch im Elternhaus, sie sind im Buch transkribiert und auf der DVD teilweise zu hören. Erfahrungen mit dem Familienschicksal in all seinen Details, die um dunkle, unerklärliche Zentren sich gruppierten, das Schicksal des verlorenen Bruders, der Selbstmord der Mutter. Eins der Geheimnisse von „Maus“ – dass die Mutter geschwiegen hat, dass Art Spiegelman ihre Geschichte nicht wirklich erzählen konnte.
Persönliche Erfahrungen, die es galt in eine eigene Form zu bringen – und der Band insistiert auf dem praktischen, dem professionellen, dem materiellen Aspekt dieser Arbeit. „Ich mag das Wort Material, denn es führt uns zurück in den Garment District, aus dem wir osteuropäischen Juden gekommen sind. Und ich mag es, weil es mir erlaubt, meine Arbeit zu objektivieren . . . Und andererseits ist es auch in dem Sinne Material, dass es Fühlbarkeit besitzt, Gewicht und Struktur und zu etwas verarbeitet werden muss.“
Der Band ist eine Lektion darin, wie kühl der Künstler auch die größten Schrecken verarbeiten muss – die Toten in kleine Schachteln legen, sagt Art Spiegelman, in die kleinen, die kleinsten Einheiten seines Comics. Spiegelman hat keinen Horror vor dem Begriff Postmoderne, Roland Barthes hätte das Buch gefallen. Jede „Maus“-Seite ist streng konstruiert und rhythmisiert, verdichtet zum Spiel von Erinnerung und Imagination, und das Erzählen ist immer Teil des Erzählten. Eine unglaubliche Klarheit, die ganz im Gegensatz steht zu den Hervorbringungen des Holocaust-Kitsch, die in der Zeit überhand nahmen, als das Buch entstand. Ein böses Beispiel erzählt Spiegelman, als er 1987 nach Polen reiste und der TV-Journalist Georg Stefan Troller ein Fernsehfeature darüber machte – die Themenparkisierung von Auschwitz. Troller bestellte eine Dampflok, die er vor die Tore des Lagers fahren ließ – trotz Spiegelmans Beteuerung, seine Eltern seien mit dem Lkw gebracht worden. Und die Bauern ums Lager hatten mitgekriegt, dass sie Geld dafür verlangen konnten, die Lok über ihr Land fahren zu lassen. „MetaMaus“ ist ein erschöpfendes Buch, ein Buch der Erschöpfung, der Versuch, sich vom Erfolg, von der Übermacht der „Maus“ freizumachen. Die Redakteure der New York Times diskutierten Spiegelmans Brief, schließlich wurde das Buch unter Nonfiction placiert. „Aber einer der Redakteure war darüber verärgert und sagte: ,Klingeln wir doch mal bei Spiegelman – wenn uns dann eine Riesenmaus öffnet, listen wir das Buch als Nonfiction!“
Art Spiegelman: MetaMaus. Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. S. Fischer, Frankfurt/Main 2012. 299 Seiten, 34 Euro.
Ich mag das Wort Material, es hilft
mir, meine Arbeit zu objektivieren
Eine Mutter, die merkwürdig abwesend bleibt: Anja und Art, Stockholm, um 1951.
„Mom und ich im Park, 1951“. Auf der Lithografie von 1979 wird die „Rache der Maus“ imaginiert. Was Spiegelman vermisst in seinem großen Werk, ist die Geschichte der Mutter.
ABB. (2): AUS DEM BESPROCHENEN BAND
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2014Wie kann man nach "Maus" noch Comics zeichnen?
Meisterwerke schaffen auch Tabus. Muss das so sein? Michel Kichka wagt eine neue Graphic Novel aus der Sicht des Kindes eines Überlebenden der Schoa.
Ein größeres literarisches Wagnis gibt es nicht, als das Thema eines weltweit anerkannten Meisterwerks aufzunehmen. Einen Tag in Dublin beschreiben? Die Anklageerhebung gegen jemanden, der sich keiner Schuld bewusst ist? Den russischen Abwehrkampf gegen Napoleon? Den jahrelangen Aufenthalt in einem Lungensanatorium? Solche Romane würden am "Ulysses" gemessen, am "Prozeß", an "Krieg und Frieden", am "Zauberberg". Und so wird Michel Kichkas jetzt auf Deutsch bei Egmont erschienene Graphic Novel "Zweite Generation" an "Maus" von Art Spiegelman gemessen werden. Denn beide Comics erzählen vom Leben als Kinder von Überlebenden der Schoa.
Spiegelmans 1991 abgeschlossene und im Folgejahr mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Geschichte gilt längst als Klassiker auf seinem Feld, und das umfasst nicht nur die Comics, sondern auch die jüdische Erinnerungsliteratur. "Maus" erzählt nicht nur ausgiebig von den familiären Belastungen, die ein Verbrechen wie der deutsche Massenmord an den Juden noch den Überlebenden und deren Nachkommen auferlegt, nein, der Comic setzt auch die von Spiegelman über Jahre hinweg aufgezeichneten Berichte seines Vaters Vladek an dessen Zeit im besetzten Polen und dann als Häftling in Auschwitz ins Bild. Im subjektiven Federstrich des Zeichners ist dabei alle Unsicherheit über die Zuverlässigkeit von Erinnerung und Deutung aufgehoben. Bisweilen wird sie gar durch konkurrierende Bilder explizit gemacht.
Aber darf ein solches anerkanntes Meisterwerk das Thema für alle anderen Autoren, zumal wenn sie selbst den Familien von Überlebenden entstammen, unmöglich machen? Das wäre grausam, denn wie wichtig ist es doch, sich den eigenen Traumata zu stellen. Und das hat eben vor zwei Jahren auch Michel Kichka mit "Zweite Generation" getan, und der Untertitel seines zunächst auf Französisch erschienenen Comics benennt den Antrieb dazu überdeutlich: "Was ich meinem Vater nie gesagt habe".
Wobei ein gravierender Unterschied zwischen dem Amerikaner Spiegelman (Jahrgang 1948) und dem in Israel lebenden Belgier Kichka (Jahrgang 1954) besteht: Als Spiegelman mit der Publikation von "Maus" begann, war sein Vater, der die öffentliche Erinnerung an die Lager gescheut hatte, gerade gestorben, und die Mutter, gleichfalls eine Überlebende der Vernichtungslager, hatte sich schon 1968 das Leben genommen. Kichkas Vater aber lebt noch, er ist mittlerweile achtundachtzig Jahre alt und immer noch als ein Zeitzeuge aktiv, der über seine Erlebnisse in drei Jahren KZ-Haft berichtet, auch selbst ein Buch darüber geschrieben hat. Die Voraussetzungen waren also ganz andere: Spiegelman musste seinem Vater den Stoff abringen, Kichka sich dagegen darin mit dem Vater messen. Das ist zentral für das Verständnis beider Comics.
"Zweite Generation" ist zudem das Werk eines Karikaturisten, keines Comiczeichners. Der Graphic-Novel-Boom der letzten Jahre hat etliche Bücher hervorgebracht, die von späten Comicdebütanten stammen, und in den besten Fällen bringt die mangelnde Vertrautheit mit der Erzählform ungewöhnliche Lösungen hervor. Das ist bei Kichka nicht so. Seinem hundertseitigen Werk merkt man den Karikaturisten noch überdeutlich an - nicht am Stil (da hat Kichka sich von französischen Vorbildern wie Gotlib, Tabary und ganz besonders von David B. anregen lassen), sondern an der Bedeutung des Einzelbildes, das nur selten in einer seitenübergreifende Architektur mit anderen Panels eingebunden wird.
Die wenigen Ausnahmen wie die gespenstische imaginäre Sicht ins Kleideratelier des elterlichen Schneiderbetriebs, der voller KZ-Uniformen hängt, oder die unweigerlich an die Vernichtungslager erinnernde, von Hochöfen, Schloten, Fördertürmen und Eisenbahngleisen bestimmte Silhouette des wallonischen Industriestädtchens Seraing-sur-Meuse, in dem Kichka aufwuchs, verdanken sich gerade der graphisch-assoziativen Methode von Spiegelman. Es ist deshalb kein Wunder, dass Kichka in einem Bild, das sein Zeichneratelier zeigt, das berühmte Titelbild von "Maus" an der Wand hängen lässt. Natürlich wusste er, welchem Vergleich er sich mit dem eigenen Vorhaben aussetzte.
Umso mutiger, dass er es gewagt hat. Und offenbar umso dringlicher für ihn persönlich. Darüber gibt "Zweite Generation" Auskunft: wie befreiend die Arbeit des mittlerweile selbst fast Sechzigjährigen am Stoff des eigenen Lebens gewesen ist. Dabei spielte im Gegensatz zu "Maus" die Erinnerung des Vaters nur insofern eine Rolle, als sie bereits dem jungen Michel vermittelt oder später dem Erwachsenen zugänglich wurde. Kichka trägt in seinem Buch also zusammen, was er bereits wusste. Spiegelmans "Maus" hatte mit einer dreiseitigen Frühfassung im Jahr 1973 auf die gleiche Weise begonnen, doch daraus erwuchs dann die mehrere Jahre umfassende Recherche. Diese Geschichte eröffnet das Geschehen, die von Kichka schließt es ab. "Zweite Generation" ist Kompensation für den nie erfüllten Wunsch seines Vaters, der Sohn möge ihn auf einer der zahlreichen Zeitzeugen-Reisen nach Auschwitz begleiten. Spiegelmans Vater wäre nie auf den Gedanken gekommen, dort noch einmal hinzufahren. "Maus" erzählt vom Kampf mit einer Verweigerung des Erinnerns, "Zweite Generation" von der Wiedergutmachung für die Verweigerung von Interesse.
Deshalb beruht Kichkas Auseinandersetzung mit dem Schicksal seines Vaters inhaltlich vor allem auf dessen Entschluss, sich nach der Gewährung einer belgischen Rente für die Überlebenden der Schoa früh aus dem Beruf zu verabschieden und sein Leben fortan ebender Erinnerung zu widmen. Für Vladek Spiegelman gab es einen ähnlich gravierenden biographischen Einschnitt, er bestand jedoch im Schock über den Suizid seiner Frau, und dieses Ereignis führte nicht den Überlebenden selbst, sondern seinen Sohn Art an das Thema heran. Das wiederum vereint die zeichnenden Söhne: Auch Michel Kichka wurde sich der Bedeutung der Schoa für sein eigenes Schicksal erst richtig bewusst, als sein jüngerer Bruder Charly, der selbst schon eine Familie gegründet hatte, sich für alle überraschend das Leben nahm.
Und doch könnten auch beide Väter Brüder sein, sosehr gleichen sich die Verbitterungen und Überempfindlichkeiten, die sie in der Lagerzeit ausgebildet und unter denen die jeweiligen Familien zu leiden haben. Das noch einmal, aber in ganz anderer familiärer, nationaler, sozialer Konstellation vorgeführt zu bekommen macht das geradezu beklemmende Gefühl der Lektüre von "Zweite Generation" aus. Diese Ähnlichkeit relativiert die Bedeutung von "Maus" nicht, sie verstärkt die Wahrnehmung der Pionierrolle Spiegelmans nicht nur als graphischer Erzähler, sondern auch als Psychologe.
Und das wird noch deutlicher, wenn man sich andere seit 1991 erschienene autobiographische Bildergeschichten ansieht, die "Maus" weniger nahe sind als Kichkas Buch, aber auch das Thema der Belastung von Kindern der Überlebenden aufnehmen. Die 1942 in Budapest geborene und gemeinsam mit ihrer Mutter der Schoa entkommene Miriam Katin hat in der Graphic Novel "Allein unter allen" 2006 aus Familienerzählungen die Geschichte des eigenen Entkommens rekonstruiert und zugleich daraus ihr Misstrauen gegen die Vorstellung eines Gottes begründet. Und Bernice Eisenstein, geboren 1949 in Toronto, publizierte im selben Jahr ihr Buch "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden" - keine Graphic Novel, aber durchsetzt mit Illustrationen und Comicsequenzen, womit auch sie sich einreiht ins Bemühen, durch die höchst subjektive Darstellung als gezeichnete Erinnerung die prinzipielle Fragwürdigkeit aller Versuche, vom Unsagbaren zu sprechen, zum Ausdruck zu bringen.
Michel Kichka kann für "Zweite Generation" auf solche Vorarbeiten zurücksehen und sie voraussetzen. Darum ist sein Beitrag ein freierer, auch witzigerer, zynischerer. Sein Buch weckt zwar nicht mehr Verständnis für die Elterngeneration als die anderen, es zeigt sie aber doch als souveränere Sachwalter ihres Schicksals, als es Spiegelman je gegenüber dem eigenen Vater eingefallen wäre. Man könnte auch sagen: In "Maus" bleiben Vater und Sohn sich fremd, in "Zweite Generation" versöhnen sie sich. Das war das Wagnis wert.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Meisterwerke schaffen auch Tabus. Muss das so sein? Michel Kichka wagt eine neue Graphic Novel aus der Sicht des Kindes eines Überlebenden der Schoa.
Ein größeres literarisches Wagnis gibt es nicht, als das Thema eines weltweit anerkannten Meisterwerks aufzunehmen. Einen Tag in Dublin beschreiben? Die Anklageerhebung gegen jemanden, der sich keiner Schuld bewusst ist? Den russischen Abwehrkampf gegen Napoleon? Den jahrelangen Aufenthalt in einem Lungensanatorium? Solche Romane würden am "Ulysses" gemessen, am "Prozeß", an "Krieg und Frieden", am "Zauberberg". Und so wird Michel Kichkas jetzt auf Deutsch bei Egmont erschienene Graphic Novel "Zweite Generation" an "Maus" von Art Spiegelman gemessen werden. Denn beide Comics erzählen vom Leben als Kinder von Überlebenden der Schoa.
Spiegelmans 1991 abgeschlossene und im Folgejahr mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Geschichte gilt längst als Klassiker auf seinem Feld, und das umfasst nicht nur die Comics, sondern auch die jüdische Erinnerungsliteratur. "Maus" erzählt nicht nur ausgiebig von den familiären Belastungen, die ein Verbrechen wie der deutsche Massenmord an den Juden noch den Überlebenden und deren Nachkommen auferlegt, nein, der Comic setzt auch die von Spiegelman über Jahre hinweg aufgezeichneten Berichte seines Vaters Vladek an dessen Zeit im besetzten Polen und dann als Häftling in Auschwitz ins Bild. Im subjektiven Federstrich des Zeichners ist dabei alle Unsicherheit über die Zuverlässigkeit von Erinnerung und Deutung aufgehoben. Bisweilen wird sie gar durch konkurrierende Bilder explizit gemacht.
Aber darf ein solches anerkanntes Meisterwerk das Thema für alle anderen Autoren, zumal wenn sie selbst den Familien von Überlebenden entstammen, unmöglich machen? Das wäre grausam, denn wie wichtig ist es doch, sich den eigenen Traumata zu stellen. Und das hat eben vor zwei Jahren auch Michel Kichka mit "Zweite Generation" getan, und der Untertitel seines zunächst auf Französisch erschienenen Comics benennt den Antrieb dazu überdeutlich: "Was ich meinem Vater nie gesagt habe".
Wobei ein gravierender Unterschied zwischen dem Amerikaner Spiegelman (Jahrgang 1948) und dem in Israel lebenden Belgier Kichka (Jahrgang 1954) besteht: Als Spiegelman mit der Publikation von "Maus" begann, war sein Vater, der die öffentliche Erinnerung an die Lager gescheut hatte, gerade gestorben, und die Mutter, gleichfalls eine Überlebende der Vernichtungslager, hatte sich schon 1968 das Leben genommen. Kichkas Vater aber lebt noch, er ist mittlerweile achtundachtzig Jahre alt und immer noch als ein Zeitzeuge aktiv, der über seine Erlebnisse in drei Jahren KZ-Haft berichtet, auch selbst ein Buch darüber geschrieben hat. Die Voraussetzungen waren also ganz andere: Spiegelman musste seinem Vater den Stoff abringen, Kichka sich dagegen darin mit dem Vater messen. Das ist zentral für das Verständnis beider Comics.
"Zweite Generation" ist zudem das Werk eines Karikaturisten, keines Comiczeichners. Der Graphic-Novel-Boom der letzten Jahre hat etliche Bücher hervorgebracht, die von späten Comicdebütanten stammen, und in den besten Fällen bringt die mangelnde Vertrautheit mit der Erzählform ungewöhnliche Lösungen hervor. Das ist bei Kichka nicht so. Seinem hundertseitigen Werk merkt man den Karikaturisten noch überdeutlich an - nicht am Stil (da hat Kichka sich von französischen Vorbildern wie Gotlib, Tabary und ganz besonders von David B. anregen lassen), sondern an der Bedeutung des Einzelbildes, das nur selten in einer seitenübergreifende Architektur mit anderen Panels eingebunden wird.
Die wenigen Ausnahmen wie die gespenstische imaginäre Sicht ins Kleideratelier des elterlichen Schneiderbetriebs, der voller KZ-Uniformen hängt, oder die unweigerlich an die Vernichtungslager erinnernde, von Hochöfen, Schloten, Fördertürmen und Eisenbahngleisen bestimmte Silhouette des wallonischen Industriestädtchens Seraing-sur-Meuse, in dem Kichka aufwuchs, verdanken sich gerade der graphisch-assoziativen Methode von Spiegelman. Es ist deshalb kein Wunder, dass Kichka in einem Bild, das sein Zeichneratelier zeigt, das berühmte Titelbild von "Maus" an der Wand hängen lässt. Natürlich wusste er, welchem Vergleich er sich mit dem eigenen Vorhaben aussetzte.
Umso mutiger, dass er es gewagt hat. Und offenbar umso dringlicher für ihn persönlich. Darüber gibt "Zweite Generation" Auskunft: wie befreiend die Arbeit des mittlerweile selbst fast Sechzigjährigen am Stoff des eigenen Lebens gewesen ist. Dabei spielte im Gegensatz zu "Maus" die Erinnerung des Vaters nur insofern eine Rolle, als sie bereits dem jungen Michel vermittelt oder später dem Erwachsenen zugänglich wurde. Kichka trägt in seinem Buch also zusammen, was er bereits wusste. Spiegelmans "Maus" hatte mit einer dreiseitigen Frühfassung im Jahr 1973 auf die gleiche Weise begonnen, doch daraus erwuchs dann die mehrere Jahre umfassende Recherche. Diese Geschichte eröffnet das Geschehen, die von Kichka schließt es ab. "Zweite Generation" ist Kompensation für den nie erfüllten Wunsch seines Vaters, der Sohn möge ihn auf einer der zahlreichen Zeitzeugen-Reisen nach Auschwitz begleiten. Spiegelmans Vater wäre nie auf den Gedanken gekommen, dort noch einmal hinzufahren. "Maus" erzählt vom Kampf mit einer Verweigerung des Erinnerns, "Zweite Generation" von der Wiedergutmachung für die Verweigerung von Interesse.
Deshalb beruht Kichkas Auseinandersetzung mit dem Schicksal seines Vaters inhaltlich vor allem auf dessen Entschluss, sich nach der Gewährung einer belgischen Rente für die Überlebenden der Schoa früh aus dem Beruf zu verabschieden und sein Leben fortan ebender Erinnerung zu widmen. Für Vladek Spiegelman gab es einen ähnlich gravierenden biographischen Einschnitt, er bestand jedoch im Schock über den Suizid seiner Frau, und dieses Ereignis führte nicht den Überlebenden selbst, sondern seinen Sohn Art an das Thema heran. Das wiederum vereint die zeichnenden Söhne: Auch Michel Kichka wurde sich der Bedeutung der Schoa für sein eigenes Schicksal erst richtig bewusst, als sein jüngerer Bruder Charly, der selbst schon eine Familie gegründet hatte, sich für alle überraschend das Leben nahm.
Und doch könnten auch beide Väter Brüder sein, sosehr gleichen sich die Verbitterungen und Überempfindlichkeiten, die sie in der Lagerzeit ausgebildet und unter denen die jeweiligen Familien zu leiden haben. Das noch einmal, aber in ganz anderer familiärer, nationaler, sozialer Konstellation vorgeführt zu bekommen macht das geradezu beklemmende Gefühl der Lektüre von "Zweite Generation" aus. Diese Ähnlichkeit relativiert die Bedeutung von "Maus" nicht, sie verstärkt die Wahrnehmung der Pionierrolle Spiegelmans nicht nur als graphischer Erzähler, sondern auch als Psychologe.
Und das wird noch deutlicher, wenn man sich andere seit 1991 erschienene autobiographische Bildergeschichten ansieht, die "Maus" weniger nahe sind als Kichkas Buch, aber auch das Thema der Belastung von Kindern der Überlebenden aufnehmen. Die 1942 in Budapest geborene und gemeinsam mit ihrer Mutter der Schoa entkommene Miriam Katin hat in der Graphic Novel "Allein unter allen" 2006 aus Familienerzählungen die Geschichte des eigenen Entkommens rekonstruiert und zugleich daraus ihr Misstrauen gegen die Vorstellung eines Gottes begründet. Und Bernice Eisenstein, geboren 1949 in Toronto, publizierte im selben Jahr ihr Buch "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden" - keine Graphic Novel, aber durchsetzt mit Illustrationen und Comicsequenzen, womit auch sie sich einreiht ins Bemühen, durch die höchst subjektive Darstellung als gezeichnete Erinnerung die prinzipielle Fragwürdigkeit aller Versuche, vom Unsagbaren zu sprechen, zum Ausdruck zu bringen.
Michel Kichka kann für "Zweite Generation" auf solche Vorarbeiten zurücksehen und sie voraussetzen. Darum ist sein Beitrag ein freierer, auch witzigerer, zynischerer. Sein Buch weckt zwar nicht mehr Verständnis für die Elterngeneration als die anderen, es zeigt sie aber doch als souveränere Sachwalter ihres Schicksals, als es Spiegelman je gegenüber dem eigenen Vater eingefallen wäre. Man könnte auch sagen: In "Maus" bleiben Vater und Sohn sich fremd, in "Zweite Generation" versöhnen sie sich. Das war das Wagnis wert.
ANDREAS PLATTHAUS
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