Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.1996Das Politische im Zeitalter der Systemtheorie
Eine neue Generation übernimmt die Carl-Schmitt-Debatte: Zu einer Sammlung bemerkenswerter Studien
Carl Schmitt hat Konjunktur. Die Reihe der Bücher, die sich mit ihm auseinandersetzen, reißt nicht ab. Offenbar gehen von seinem Werk nach wie vor Anregungen und Herausforderungen aus, die Freund wie Feind erstaunen lassen. Seit der Veröffentlichung des "Glossarium" (seiner Tagebücher aus den Jahren 1947 bis 1951) hat das zugenommen. Und da Carl Schmitt nicht allein als Jurist und Lehrer des Staats-und Völkerrechts geschrieben und gewirkt hat, vielmehr ebenso als politischer Theoretiker, universal gebildeter homme de lettres und auch politischer Theologe, ist das Spektrum derer, die sich mit ihm und seinem OEuvre befassen, entsprechend weit.
Lange Zeit, bis in die letzten Jahre hinein, stand die Beschäftigung mit Schmitt und seinem Werk im Bannkreis der Vergangenheitsbewältigung. Sein Wirken und Engagement in den Jahren des "Dritten Reiches" war, ausdrücklich oder unausgesprochen, der Bezugspunkt der Auseinandersetzung. Die Frage nach der Kontinuität seines Werkes(Gegner der Demokratie und des Rechtsstaates von Anfang an?) oder der fundamentalen Brüche in ihm (steter sich anpassender Opportunismus oder okkasioneller Positionswechsel?) stand im Vordergrund, oft verbunden mit der Frage nach Persönlichkeit und Charakter. Die Auseinandersetzung bewegte sich, bald intensiver, bald zurückhaltender, zwischen Anklage und (oftmals bemühter) Verteidigung, kritischer Infragestellung und verhaltener sachlicher Rechtfertigung, nicht selten mitgetragen von persönlichen Erfahrungen oder Enttäuschungen.
Das hier anzuzeigende Buch markiert eine neue Phase der Auseinandersetzung. Die fünfzehn Autoren sind bis auf zwei nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, gehören überwiegend zur Generation der Nach-Achtundsechziger. Sie sind über Carl Schmitt im "Dritten Reich" informiert, aber sie interessiert nicht mehr Person und Persönlichkeit, diese ist historisch geworden, sondern die Sache. Von den personbezogenen Kontroversen, auch denen der letzten Jahre, lassen sie sich nicht mehr beeindrucken. Einer der Autoren, Thomas Vesting, formuliert es respektlos-unbekümmert, wie es einer jungen Generation ansteht:". . . die dem Werk Carl Schmitts entspringenden Einsichten, Begriffe und Polemiken sind doch heute nicht mehr als Produkte des Autors Carl Schmitt von Interesse", sondern "allein als semantische Ablagerungen einer Elite, die den Übergang zur industriellen Massengesellschaft registriert haben" und uns Heutigen "Einblicke in die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts ermöglichen". Und sie wenden sich, aufgewachsen und geprägt als Bewohner der (alten) Bundesrepublik, denen, wie Dirk van Laak einleitend bemerkt, "der Staat als das größte aller Dienstleistungsunternehmen erschien und ,Nation' nichts mehr sagte", einem Thema zu, das seit der Wiedervereinigung auch für sie aktuelle Evidenz erhalten hat: dem Problem politischer Einheitsbildung. Es wird in diesem Band anhand und in Auseinandersetzung mit der Theoriebildung über Staat und Politik seit den zwanziger Jahren verfolgt.
Das gibt dem Buch seinen Reiz und eine eigentümliche Spannung zwischen Historisierung und Aktualität. Das Thema, wie und von woher sich die Einheit einer Gesellschaft und ihre politische Handlungsfähigkeit, die dazu erforderliche Integration und relative Übereinstimmung ungeachtet aller Differenziertheit und Pluralität herstellt und erhält, ist ein gegenwärtiges ("Von welchen Ressourcen leben wir?"; "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?"); es hat und gewinnt zunehmend Aktualität. Es ist ein Thema, bei dem die Diskussion und Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zentral ist, denn bei aller Theoriebildung über Staat und Politik in Deutschland und darüber hinaus hat Carl Schmitt, wie zutreffend bemerkt wird, "fortan irgendwie immer mit am Verhandlungstisch gesessen" (und sitzt auch heute weiterhin dort). Dabei zeigt sich, daß gerade die Auseinandersetzung mit seinem Werk (wohlgemerkt: die Auseinandersetzung, nicht nachbeten oder Apologie) geeignet ist, eine ganze Epoche des Nachdenkens über politische Einheitsbildung in den Griff zu bekommen, die Epoche der modernen Staatlichkeit, die Carl Schmitt selbst schließlich für beendet erklärt hat.
Die geistige Spannweite der einzelnen Beiträge ist weit, aber sie verlieren den zentralen Punkt nie aus dem Auge. Sie reichen, um einiges zu nennen, von der Frage nach dem Sinn der Einheit im Recht, wie sie bei Carl Schmitt, Gustav Radbruch und Hans Kelsen hervortritt, über die gegensätzlichen Positionen zum Formproblem der Moderne bei Georg Lukacs und Carl Schmitt, die Analyse der Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar am Beispiel der Positionen von Rudolf Smend, Schmitt und Hermann Heller (wobei sich zeigt, daß Heller am weitesten gedacht hat und ihm die Palme gebührt), die Darstellung und kritische Aufbereitung der unterschiedlichen politischen Einheitsvorstellungen Carl Schmitts, wie sie in verschiedenen zeitlichen Phasen hervortreten, einschließlich seiner Diagnose des Endes der Staatlichkeit, bis hin zur Staatlichkeitstheorie Ernst Forsthoffs, der kritischen Auseinandersetzung Martin Draths und Dolf Sternbergers mit dem Begriff des Politischen und einer wissenssoziologischen Erörterung und Kritik der Eigenart und Begrenztheit des begrifflichen Instrumentariums von Carl Schmitt.
Beachtlich ist das durchweg hohe intellektuelle Niveau der Argumentation, die zupackende Sachlichkeit, die gediegene Durcharbeitung und umfassende Heranziehung von Belegen. Gedankenführung und Ergebnisse der verschiedenen Beiträge können hier nicht im einzelnen referiert werden. Doch sei ein Hinweis auf eine Pretiose, die man in dem Band nicht vermutet, erlaubt: Ingeborg Villingers eindrucksvoll geführter Nachweis, wie stark die zweite Fassung von Hugo von Hofmannsthals "Der Turm" von der Lektüre von Carl Schmitts "Diktatur" und "Politischer Theologie" beeinflußt ist: die Dramaturgie des Verlustes politischer Einheit.
Carl Schmitts staats- und verfassungstheoretisches Werk wird von den Autoren - ungeachtet der unterschiedlichen Ansätze - als fundamentale Kritik der geistigen und politischen Grundlagen des westlichen (angloamerikanischen) Liberalismus oder - systemtheoretisch formuliert - der Autopoiesis der modernen, sich nahezu unbegrenzt ausdifferenzierenden Gesellschaft wahrgenommen und analysiert. Carl Schmitt sieht dies als Auflösung der Grundlagen politischer Einheit und Einheitsbildung im Staat und durch den Staat, wobei er diese Entwicklung einerseits auf staats- und verfassungstheoretischer Ebene bekämpft, zugleich aber eindrucksvoll diagnostiziert und analysiert, um schließlich resignativ das Ende der Staatlichkeit festzustellen.
Er stellt dieser Entwicklung zweierlei entgegen: einerseits die Rechtfertigung und Verteidigung des Staates als politischer Staat, der die politische Einheit der Gesellschaft trägt und repräsentiert, dies in deutlicher Frontstellung gegen liberal-funktionalen Rechtsstaat und Leviathan (Günter Meuter); andererseits - in dem Maße, in dem dieses Bemühen angesichts der gegebenen Situation keinen Erfolg mehr verspricht - den Rückgriff auf das Politische als den umfassenden Leitbegriff, der, nunmehr dem Staat vorgeordnet, den Steuerungs- und Integrationsanspruch gegenüber der Gesellschaft als Garant von deren Einheit geltend macht, und die zeitweise Aktualisierung des Reichsbegriffs als neuer Konkretion politischer Einheitsbildung.
Die Beiträge sind in der Fragestellung gut aufeinander bezogen. Sie machen deutlich, wie sich bei Carl Schmitt Staats- und Verfassungstheorie und politische Theologie miteinander verschränken, ohne daß aber die erstere zum bloßen Appendix der letzteren wird oder sich umgekehrt politische Theologie auf eine nur innere Motivation reduziert. Ohne Bündnis von Herrschaft und Transzendenz - dies ein Credo von Carl Schmitt - wird Herrschaft der Repräsentation (als Idee-Repräsentation) entkleidet, nur eine Form von Macht und Wille zur Macht, Ausdruck des einfachen Verhältnisses von konkretem Zweck und geeignetem Mittel und damit unfähig, politische Einheit jenseits nackter Machtzusammenballung zu bilden und zu erhalten.
Also gilt es, in der säkularen Gesellschaft und auf deren Boden, für sie plausibel, Formen zu finden, Institutionen zu stützen oder zu schaffen, die Herrschaft und Repräsentation noch beieinanderhalten. Spannend deckt Andreas Koenen die intensive, bisher so nicht bekannte Verbindung Carl Schmitts zu den katholischen Kreisen um die Reichstheologie auf und läßt darüber hinaus seine katholische Prägung und die viel beredete "katholische Verschärfung" in neuem Licht erscheinen. Auch der deutsche Katholizismus wird, wohl sehr zu seinem Unwillen, von der Carl-Schmitt-Diskussion eingeholt.
Ein intellektuelles Glanzstück des Buches stellt die unter dem Titel "Paradigmatische Erschöpfung" von Andreas Göbel auf der Grundlage der Systemtheorie vorgetragene fundamentale Kritik an der begrifflichen Tragfähigkeit der Staat-Gesellschaft-Dichotomie und der darauf gestützten staatstheoretischen Analysen und Postulate dar. Carl Schmitt bildet dafür das paradigmatische Beispiel, aber die Stoßrichtung zielt auf eine ganze Epoche staatstheoretischen Denkens bis hin zu Hegel. Dieser Beitrag eröffnet eine neue Diskussionsebene und reizt seinerseits zur Auseinandersetzung, die hier wiederum nicht erfolgen kann - das für Qualität sensible 19. Jahrhundert hätte den Autor womöglich sogleich habilitiert.
Für die Systemtheorie erscheint staatstheoretische Begrifflichkeit, mithin auch die Differenz von Staat und Gesellschaft, als Semantik, gesellschaftlich produziertes Ideengut, das als Typisierung von Sinn die Funktion hat, die Selektivität allen Handelns nochmals im Hinblick auf sozial Erwartbares und konsistent Begründbares zu orientieren und so zu steuern. Dabei geht es auf der ersten Ebene um Methoden und Begrifflichkeit, auf der zweiten Ebene jedoch um die Sache, nämlich darum, daß der Versuch, die Einheit der Gesellschaft im Staat zu sichern, zum Scheitern verurteilt sei. Die Strukturlogik der Differenz von Staat und Gesellschaft könne nur zu paradoxalen Ergebnissen führen, weil in ihr der Staat sich als die Differenz zur (primär ökonomisch bestimmten) Gesellschaft konstituiere, zugleich aber, als die eine Seite dieser Differenz, die Einheit des Differenten soll garantieren können. Das sei eine unzureichende Semantik, die die realen Probleme nicht mehr erfassen könne - was schließlich auch Carl Schmitt mit dem Übergang vom Begriff des Staates zum Begriff des Politischen als orientierendem Leitbegriff nachvollzogen habe.
Dafür mag viel sprechen. Aber der systemtheoretische Ansatz erklärt darüber hinaus das Sachproblem, um das es hier geht, für begrifflich und semantisch nicht mehr faßbar und blendet es damit als irrelevant aus: "Systemtheoretisch läßt sich keine Frage nach der politischen Einheit einer Gesellschaft stellen, weil gesellschaftliche Einheit - als Anspruch, die Gesellschaft in der Gesellschaft zu repräsentieren - von keinem ihrer Funktionssysteme zureichend mit Anspruch auf verbindliche Geltung repräsentiert werden kann."
Wie aber, wenn dies, die politische Einheitsbildung in und aus der Gesellschaft, eine Bestandsbedingung für das Überleben der Gesellschaft wird, etwa bei fundamentalen Krisensituationen im Innern oder konkreten Bedrohungen von außen, wie zum Beispiel beim Staat Israel? Könnte es sein, daß die Systemtheorie gerade dann und so lange ein adäquates Theorieinstrument für die Erfassung einer Gesellschaft ist, wie diese sich als Wohlstandsgesellschaft expandierend ausdifferenzieren kann, eigentlich politische Entscheidungen, die Souveränität voraussetzen und beanspruchen, jedoch nicht anstehen oder die Gesellschaft ihrer kraft auferlegter Souveränitätsbeschränkung enthoben ist - die Lage der Bundesrepublik bis 1990? Das würde manches erklären, auch für die Tragfähigkeit ihrer Semantik. ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE
Andreas Göbel/Dirk van Laak/Ingeborg Villinger (Hrsg.): "Metamorphosen des Politischen". Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren. Akademie Verlag, Berlin 1995. 307 S., geb., 68,- DM.
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Eine neue Generation übernimmt die Carl-Schmitt-Debatte: Zu einer Sammlung bemerkenswerter Studien
Carl Schmitt hat Konjunktur. Die Reihe der Bücher, die sich mit ihm auseinandersetzen, reißt nicht ab. Offenbar gehen von seinem Werk nach wie vor Anregungen und Herausforderungen aus, die Freund wie Feind erstaunen lassen. Seit der Veröffentlichung des "Glossarium" (seiner Tagebücher aus den Jahren 1947 bis 1951) hat das zugenommen. Und da Carl Schmitt nicht allein als Jurist und Lehrer des Staats-und Völkerrechts geschrieben und gewirkt hat, vielmehr ebenso als politischer Theoretiker, universal gebildeter homme de lettres und auch politischer Theologe, ist das Spektrum derer, die sich mit ihm und seinem OEuvre befassen, entsprechend weit.
Lange Zeit, bis in die letzten Jahre hinein, stand die Beschäftigung mit Schmitt und seinem Werk im Bannkreis der Vergangenheitsbewältigung. Sein Wirken und Engagement in den Jahren des "Dritten Reiches" war, ausdrücklich oder unausgesprochen, der Bezugspunkt der Auseinandersetzung. Die Frage nach der Kontinuität seines Werkes(Gegner der Demokratie und des Rechtsstaates von Anfang an?) oder der fundamentalen Brüche in ihm (steter sich anpassender Opportunismus oder okkasioneller Positionswechsel?) stand im Vordergrund, oft verbunden mit der Frage nach Persönlichkeit und Charakter. Die Auseinandersetzung bewegte sich, bald intensiver, bald zurückhaltender, zwischen Anklage und (oftmals bemühter) Verteidigung, kritischer Infragestellung und verhaltener sachlicher Rechtfertigung, nicht selten mitgetragen von persönlichen Erfahrungen oder Enttäuschungen.
Das hier anzuzeigende Buch markiert eine neue Phase der Auseinandersetzung. Die fünfzehn Autoren sind bis auf zwei nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, gehören überwiegend zur Generation der Nach-Achtundsechziger. Sie sind über Carl Schmitt im "Dritten Reich" informiert, aber sie interessiert nicht mehr Person und Persönlichkeit, diese ist historisch geworden, sondern die Sache. Von den personbezogenen Kontroversen, auch denen der letzten Jahre, lassen sie sich nicht mehr beeindrucken. Einer der Autoren, Thomas Vesting, formuliert es respektlos-unbekümmert, wie es einer jungen Generation ansteht:". . . die dem Werk Carl Schmitts entspringenden Einsichten, Begriffe und Polemiken sind doch heute nicht mehr als Produkte des Autors Carl Schmitt von Interesse", sondern "allein als semantische Ablagerungen einer Elite, die den Übergang zur industriellen Massengesellschaft registriert haben" und uns Heutigen "Einblicke in die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts ermöglichen". Und sie wenden sich, aufgewachsen und geprägt als Bewohner der (alten) Bundesrepublik, denen, wie Dirk van Laak einleitend bemerkt, "der Staat als das größte aller Dienstleistungsunternehmen erschien und ,Nation' nichts mehr sagte", einem Thema zu, das seit der Wiedervereinigung auch für sie aktuelle Evidenz erhalten hat: dem Problem politischer Einheitsbildung. Es wird in diesem Band anhand und in Auseinandersetzung mit der Theoriebildung über Staat und Politik seit den zwanziger Jahren verfolgt.
Das gibt dem Buch seinen Reiz und eine eigentümliche Spannung zwischen Historisierung und Aktualität. Das Thema, wie und von woher sich die Einheit einer Gesellschaft und ihre politische Handlungsfähigkeit, die dazu erforderliche Integration und relative Übereinstimmung ungeachtet aller Differenziertheit und Pluralität herstellt und erhält, ist ein gegenwärtiges ("Von welchen Ressourcen leben wir?"; "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?"); es hat und gewinnt zunehmend Aktualität. Es ist ein Thema, bei dem die Diskussion und Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zentral ist, denn bei aller Theoriebildung über Staat und Politik in Deutschland und darüber hinaus hat Carl Schmitt, wie zutreffend bemerkt wird, "fortan irgendwie immer mit am Verhandlungstisch gesessen" (und sitzt auch heute weiterhin dort). Dabei zeigt sich, daß gerade die Auseinandersetzung mit seinem Werk (wohlgemerkt: die Auseinandersetzung, nicht nachbeten oder Apologie) geeignet ist, eine ganze Epoche des Nachdenkens über politische Einheitsbildung in den Griff zu bekommen, die Epoche der modernen Staatlichkeit, die Carl Schmitt selbst schließlich für beendet erklärt hat.
Die geistige Spannweite der einzelnen Beiträge ist weit, aber sie verlieren den zentralen Punkt nie aus dem Auge. Sie reichen, um einiges zu nennen, von der Frage nach dem Sinn der Einheit im Recht, wie sie bei Carl Schmitt, Gustav Radbruch und Hans Kelsen hervortritt, über die gegensätzlichen Positionen zum Formproblem der Moderne bei Georg Lukacs und Carl Schmitt, die Analyse der Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar am Beispiel der Positionen von Rudolf Smend, Schmitt und Hermann Heller (wobei sich zeigt, daß Heller am weitesten gedacht hat und ihm die Palme gebührt), die Darstellung und kritische Aufbereitung der unterschiedlichen politischen Einheitsvorstellungen Carl Schmitts, wie sie in verschiedenen zeitlichen Phasen hervortreten, einschließlich seiner Diagnose des Endes der Staatlichkeit, bis hin zur Staatlichkeitstheorie Ernst Forsthoffs, der kritischen Auseinandersetzung Martin Draths und Dolf Sternbergers mit dem Begriff des Politischen und einer wissenssoziologischen Erörterung und Kritik der Eigenart und Begrenztheit des begrifflichen Instrumentariums von Carl Schmitt.
Beachtlich ist das durchweg hohe intellektuelle Niveau der Argumentation, die zupackende Sachlichkeit, die gediegene Durcharbeitung und umfassende Heranziehung von Belegen. Gedankenführung und Ergebnisse der verschiedenen Beiträge können hier nicht im einzelnen referiert werden. Doch sei ein Hinweis auf eine Pretiose, die man in dem Band nicht vermutet, erlaubt: Ingeborg Villingers eindrucksvoll geführter Nachweis, wie stark die zweite Fassung von Hugo von Hofmannsthals "Der Turm" von der Lektüre von Carl Schmitts "Diktatur" und "Politischer Theologie" beeinflußt ist: die Dramaturgie des Verlustes politischer Einheit.
Carl Schmitts staats- und verfassungstheoretisches Werk wird von den Autoren - ungeachtet der unterschiedlichen Ansätze - als fundamentale Kritik der geistigen und politischen Grundlagen des westlichen (angloamerikanischen) Liberalismus oder - systemtheoretisch formuliert - der Autopoiesis der modernen, sich nahezu unbegrenzt ausdifferenzierenden Gesellschaft wahrgenommen und analysiert. Carl Schmitt sieht dies als Auflösung der Grundlagen politischer Einheit und Einheitsbildung im Staat und durch den Staat, wobei er diese Entwicklung einerseits auf staats- und verfassungstheoretischer Ebene bekämpft, zugleich aber eindrucksvoll diagnostiziert und analysiert, um schließlich resignativ das Ende der Staatlichkeit festzustellen.
Er stellt dieser Entwicklung zweierlei entgegen: einerseits die Rechtfertigung und Verteidigung des Staates als politischer Staat, der die politische Einheit der Gesellschaft trägt und repräsentiert, dies in deutlicher Frontstellung gegen liberal-funktionalen Rechtsstaat und Leviathan (Günter Meuter); andererseits - in dem Maße, in dem dieses Bemühen angesichts der gegebenen Situation keinen Erfolg mehr verspricht - den Rückgriff auf das Politische als den umfassenden Leitbegriff, der, nunmehr dem Staat vorgeordnet, den Steuerungs- und Integrationsanspruch gegenüber der Gesellschaft als Garant von deren Einheit geltend macht, und die zeitweise Aktualisierung des Reichsbegriffs als neuer Konkretion politischer Einheitsbildung.
Die Beiträge sind in der Fragestellung gut aufeinander bezogen. Sie machen deutlich, wie sich bei Carl Schmitt Staats- und Verfassungstheorie und politische Theologie miteinander verschränken, ohne daß aber die erstere zum bloßen Appendix der letzteren wird oder sich umgekehrt politische Theologie auf eine nur innere Motivation reduziert. Ohne Bündnis von Herrschaft und Transzendenz - dies ein Credo von Carl Schmitt - wird Herrschaft der Repräsentation (als Idee-Repräsentation) entkleidet, nur eine Form von Macht und Wille zur Macht, Ausdruck des einfachen Verhältnisses von konkretem Zweck und geeignetem Mittel und damit unfähig, politische Einheit jenseits nackter Machtzusammenballung zu bilden und zu erhalten.
Also gilt es, in der säkularen Gesellschaft und auf deren Boden, für sie plausibel, Formen zu finden, Institutionen zu stützen oder zu schaffen, die Herrschaft und Repräsentation noch beieinanderhalten. Spannend deckt Andreas Koenen die intensive, bisher so nicht bekannte Verbindung Carl Schmitts zu den katholischen Kreisen um die Reichstheologie auf und läßt darüber hinaus seine katholische Prägung und die viel beredete "katholische Verschärfung" in neuem Licht erscheinen. Auch der deutsche Katholizismus wird, wohl sehr zu seinem Unwillen, von der Carl-Schmitt-Diskussion eingeholt.
Ein intellektuelles Glanzstück des Buches stellt die unter dem Titel "Paradigmatische Erschöpfung" von Andreas Göbel auf der Grundlage der Systemtheorie vorgetragene fundamentale Kritik an der begrifflichen Tragfähigkeit der Staat-Gesellschaft-Dichotomie und der darauf gestützten staatstheoretischen Analysen und Postulate dar. Carl Schmitt bildet dafür das paradigmatische Beispiel, aber die Stoßrichtung zielt auf eine ganze Epoche staatstheoretischen Denkens bis hin zu Hegel. Dieser Beitrag eröffnet eine neue Diskussionsebene und reizt seinerseits zur Auseinandersetzung, die hier wiederum nicht erfolgen kann - das für Qualität sensible 19. Jahrhundert hätte den Autor womöglich sogleich habilitiert.
Für die Systemtheorie erscheint staatstheoretische Begrifflichkeit, mithin auch die Differenz von Staat und Gesellschaft, als Semantik, gesellschaftlich produziertes Ideengut, das als Typisierung von Sinn die Funktion hat, die Selektivität allen Handelns nochmals im Hinblick auf sozial Erwartbares und konsistent Begründbares zu orientieren und so zu steuern. Dabei geht es auf der ersten Ebene um Methoden und Begrifflichkeit, auf der zweiten Ebene jedoch um die Sache, nämlich darum, daß der Versuch, die Einheit der Gesellschaft im Staat zu sichern, zum Scheitern verurteilt sei. Die Strukturlogik der Differenz von Staat und Gesellschaft könne nur zu paradoxalen Ergebnissen führen, weil in ihr der Staat sich als die Differenz zur (primär ökonomisch bestimmten) Gesellschaft konstituiere, zugleich aber, als die eine Seite dieser Differenz, die Einheit des Differenten soll garantieren können. Das sei eine unzureichende Semantik, die die realen Probleme nicht mehr erfassen könne - was schließlich auch Carl Schmitt mit dem Übergang vom Begriff des Staates zum Begriff des Politischen als orientierendem Leitbegriff nachvollzogen habe.
Dafür mag viel sprechen. Aber der systemtheoretische Ansatz erklärt darüber hinaus das Sachproblem, um das es hier geht, für begrifflich und semantisch nicht mehr faßbar und blendet es damit als irrelevant aus: "Systemtheoretisch läßt sich keine Frage nach der politischen Einheit einer Gesellschaft stellen, weil gesellschaftliche Einheit - als Anspruch, die Gesellschaft in der Gesellschaft zu repräsentieren - von keinem ihrer Funktionssysteme zureichend mit Anspruch auf verbindliche Geltung repräsentiert werden kann."
Wie aber, wenn dies, die politische Einheitsbildung in und aus der Gesellschaft, eine Bestandsbedingung für das Überleben der Gesellschaft wird, etwa bei fundamentalen Krisensituationen im Innern oder konkreten Bedrohungen von außen, wie zum Beispiel beim Staat Israel? Könnte es sein, daß die Systemtheorie gerade dann und so lange ein adäquates Theorieinstrument für die Erfassung einer Gesellschaft ist, wie diese sich als Wohlstandsgesellschaft expandierend ausdifferenzieren kann, eigentlich politische Entscheidungen, die Souveränität voraussetzen und beanspruchen, jedoch nicht anstehen oder die Gesellschaft ihrer kraft auferlegter Souveränitätsbeschränkung enthoben ist - die Lage der Bundesrepublik bis 1990? Das würde manches erklären, auch für die Tragfähigkeit ihrer Semantik. ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE
Andreas Göbel/Dirk van Laak/Ingeborg Villinger (Hrsg.): "Metamorphosen des Politischen". Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren. Akademie Verlag, Berlin 1995. 307 S., geb., 68,- DM.
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