Jan Volker Röhnert ist der Flaneur unter den Dichtern der jüngeren Generation. Nicht umsonst bezieht er sich immer wieder auf Baudelaire und die französische Moderne, auf die amerikanische Poesie und auf Rolf Dieter Brinkmann, dem er eine große Studie gewidmet hat. Röhnerts Gedichte zeichnen sich durch Unmittelbarkeit, sinnliches Erleben und gesteigerte Aufmerksamkeit für die schillernde Vielfalt der Szenerie, in der wir uns bewegen, aus. Seine poetischen Wanderungen vom Osten Deutschlands in die Metropolen des Westens bereichern auf lustvolle, weltoffene Weise den modernen Altas der deutschen Lyrik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2008Dann kommen die Bilder
Es flackert im Geiste Ashberys und Brinkmanns, und man staunt nicht schlecht: Der Lyriker Jan Volker Röhnert spricht in fremden Zungen.
Mir fällt wenig ein, wenn man mich aus heiterem Himmel nach meinen Gedichten fragt" - so beginnt die "Nachbemerkung", die der 1976 in Gera geborene Lyriker und Literaturwissenschaftler Röhnert seinen neuen Gedichten hinterherschickt. Und dann folgt sogar der Gemeinplatz: "Den Gedichten ist nichts hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selber stünde", so Röhnert selbstbewusst. D'accord! Aber: Wozu dann noch eine Nachbemerkung?
Und wozu dann noch eine Rezension? Um aus heiterem Himmel nach ebendiesen Gedichten zu fragen und nachzutragen, was nicht schon in ihnen selber steht und auch in keinem Nachwort stehen kann: dass es sich um ganz außerordentlich schöne, neuartige, kunstreiche und dementsprechend lesenswerte Gedichte handelt; um Gedichte, die, wer sie gelesen hat, nicht mehr vergessen möchte und vielleicht nicht mehr vergessen kann.
Woran liegt's? Gewiss auch an den Metropolen selbst (Paris, New York, London, Amsterdam, Genua, Vilnius), deren Ortsnamen und deren Atmosphäre in den Texten bruchstückhaft begegnen. Die Orte sind aber vor allem Ausgangs- und Bezugspunkte der Worte, sie sind Sehhilfen, Geburtshelfer der Perspektiven, sie formieren die Landschaften, geschaffen für sinnliche Wahrnehmungen, für die Sensationen der Einbildungskraft. Namen machen Gedichte. In dem Gedicht "La Specia" ("Hier siehst du eine Frau, die nur ihrer Beine wegen / existiert") führt Röhnert das geradezu exemplarisch vor.
Wie sich das im Einzelnen abspielt, hat Röhnert schlicht, aber hintergründig in einem Gedicht ("Ein Gedicht") gesagt, das man als Ratschlag oder Gebrauchsanweisung lesen kann, als Beschreibung dessen, was sich tut, wenn ein Gedicht entsteht oder gemacht wird, mithin als Programmgedicht: "Erst das Staunen,/ dann kommen die Bilder, / dann denkst du dir eine fremde Zunge aus, / dann übersetzt du es, / Fetzen, / auf eine Rolle geklebt, / unter Quellwolken und Wind."
Mit dem Staunen fängt alles an: "Staunen heißt am Leben sein". Der Künstler erfährt im Staunen die lebendige Basis seiner Kreativität: "dann kommen die Bilder". Sie "kommen" offenbar, stellen sich ein als Phantasien, Assoziationen, Fügungen, Tagträume, wenn und wo gestaunt wird. Röhnerts Bildgebung ist deutlich geprägt durch die Bilderwelt des Films, die sich in seinen Gedichten sowohl thematisch als auch in der Art und Weise der Darstellung ausbreitet. Es gibt in den Gedichten den filmtypischen schnellen Wechsel der Perspektiven, die Beschleunigung, aber auch die Verlangsamung: Der Blick ruht für einen Moment auf einer Situation, um dann schnell zu einem neuen Bild fortzutreiben. Erzählerische Elemente wechseln mit Beobachtungen und Reflexionen, wie in den Porträtgedichten "Das Mädchen hinter der Theke" einer Cappuccino-Bar in Genua oder in dem Gedicht über das "Atlantis", zu dem die Kassiererin eines Supermarktes sich sehnsuchtsvoll hinträumt.
Röhnert ist ein so praktisch wie theoretisch erfahrener Spezialist des lyrischen Filmblicks. Seine komparatistische Dissertation über "Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars - Ashbery - Brinkmann" erschien gleichzeitig mit dem vorliegenden Gedichtband unter dem aparten und seine eigene Lyrik bezeichnenden Titel "Springende Gedanken und flackernde Bilder".
Aber mit den Bildern ist noch nicht alles getan: "dann denkst du dir eine fremde Zunge aus", heißt es in dem oben zitierten poetologischen Gedicht. Eine fremde Zunge! Röhnert distanziert sich hier ausdrücklich von einer immer noch weit verbreiteten Auffassung, der zufolge Lyrik nichts anderes ist als eine unverstellte Herzensaussprache, als unmittelbarer Ausdruck subjektiver Erlebnisse. Röhnert redet vielmehr aus Rollen heraus. Seine Sprache besitzt Zitatcharakter, und das lyrische Ich ergießt sich nicht im Vers, sondern gibt sich erst im Durchgang durch das Fremdzitat zu erkennen. Die "fremde Zunge" ist in der Sprache schon immer enthalten: als Klischee und Redensart, als Kunstleistung vorangegangener Autoren, traditionelle Bildvorstellung und herkömmliche Wortbedeutung, nicht zuletzt auch als fremdsprachliche Wendung, als Filmtitel und als verbreiteter Slogan. Alle diese Möglichkeiten, eine "fremde Zunge" sprechen zu lassen, nutzt Röhnert ausgiebig; so erklären sich die vielen Namen (Nietzsche in Genua, "Das Fahrrad von Blaise Cendrars", Apollinaire), die Titel-Zitate, die unaufdringliche literarische Gelehrsamkeit seiner Gedichte.
Der letzte Akt im Entstehungsprozess gilt, wenn man dem zitierten Gedicht weiter folgen mag, konsequenterweise der "Übersetzung" des einer "fremden Zunge" Anvertrauten: "dann übersetzt du es". Hier erst, am Ende und allerdings in letzter Instanz, bringt sich das Autor-Ich ins Spiel; denn "Übersetzung" heißt hier so viel wie Aneignung, Identifizierung des Fremden mit dem Eigenen. Das gilt auch für Röhnerts eigene Übersetzungen (aus dem Amerikanischen und Französischen), für seine Interpretationen und sogar für seine Essays und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen. Er beschäftigt sich mit den Autoren, durch die er sich als Lyriker gefördert sieht und für die er sich als Leser begeistern kann.
Uneingeschränkte Bewunderung erfährt vor allem Rolf Dieter Brinkmann, dessen Spontaneität, fotografischer Blick und permanente Tabubrüche Röhnert bis in einzelne Wendungen hinein geprägt haben und ihn nach wie vor faszinieren. Daneben verdankt er viel dem unverkrampften Realismus amerikanischer Lyriker wie Robert Creeley und John Ashbery sowie der lyrischen Sturzflut ("Kaddish") Paulus Böhmers, dem Röhnert sogar seinen eigenen Gedichtband gewidmet hat.
So wenig sparsam, wie Röhnert mit dem Lob seiner Kollegen umgeht, darf man auch ihm selbst gegenüber sein: Was seine vorangegangenen Gedichtbände "Burgruinenblues" (2003) und "Die Hingabe, endloser Kokon" (2005) schon versprachen, das löst dieses neue Album (so nennt er selbst seine Gedichtsammlung) auf beglückende Weise ein: In Gestalt von Jan Volker Röhnert ist ein Lyriker auf den Plan getreten, von dessen aus dem Staunen geborenen, mit bewegten Bildern und fremden Zungen ausgestatteten Gedichten wir uns gern auf die Insel der Poesie übersetzen lassen.
WULF SEGEBRECHT.
Jan Volker Röhnert: "Metropolen". Gedichte. Band 6 der Edition Lyrik Kabinett. Hrsg. von Ursula Haeusgen, Michael Krüger und Raoul Schrott. Carl Hanser Verlag, München 2007. 111 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es flackert im Geiste Ashberys und Brinkmanns, und man staunt nicht schlecht: Der Lyriker Jan Volker Röhnert spricht in fremden Zungen.
Mir fällt wenig ein, wenn man mich aus heiterem Himmel nach meinen Gedichten fragt" - so beginnt die "Nachbemerkung", die der 1976 in Gera geborene Lyriker und Literaturwissenschaftler Röhnert seinen neuen Gedichten hinterherschickt. Und dann folgt sogar der Gemeinplatz: "Den Gedichten ist nichts hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selber stünde", so Röhnert selbstbewusst. D'accord! Aber: Wozu dann noch eine Nachbemerkung?
Und wozu dann noch eine Rezension? Um aus heiterem Himmel nach ebendiesen Gedichten zu fragen und nachzutragen, was nicht schon in ihnen selber steht und auch in keinem Nachwort stehen kann: dass es sich um ganz außerordentlich schöne, neuartige, kunstreiche und dementsprechend lesenswerte Gedichte handelt; um Gedichte, die, wer sie gelesen hat, nicht mehr vergessen möchte und vielleicht nicht mehr vergessen kann.
Woran liegt's? Gewiss auch an den Metropolen selbst (Paris, New York, London, Amsterdam, Genua, Vilnius), deren Ortsnamen und deren Atmosphäre in den Texten bruchstückhaft begegnen. Die Orte sind aber vor allem Ausgangs- und Bezugspunkte der Worte, sie sind Sehhilfen, Geburtshelfer der Perspektiven, sie formieren die Landschaften, geschaffen für sinnliche Wahrnehmungen, für die Sensationen der Einbildungskraft. Namen machen Gedichte. In dem Gedicht "La Specia" ("Hier siehst du eine Frau, die nur ihrer Beine wegen / existiert") führt Röhnert das geradezu exemplarisch vor.
Wie sich das im Einzelnen abspielt, hat Röhnert schlicht, aber hintergründig in einem Gedicht ("Ein Gedicht") gesagt, das man als Ratschlag oder Gebrauchsanweisung lesen kann, als Beschreibung dessen, was sich tut, wenn ein Gedicht entsteht oder gemacht wird, mithin als Programmgedicht: "Erst das Staunen,/ dann kommen die Bilder, / dann denkst du dir eine fremde Zunge aus, / dann übersetzt du es, / Fetzen, / auf eine Rolle geklebt, / unter Quellwolken und Wind."
Mit dem Staunen fängt alles an: "Staunen heißt am Leben sein". Der Künstler erfährt im Staunen die lebendige Basis seiner Kreativität: "dann kommen die Bilder". Sie "kommen" offenbar, stellen sich ein als Phantasien, Assoziationen, Fügungen, Tagträume, wenn und wo gestaunt wird. Röhnerts Bildgebung ist deutlich geprägt durch die Bilderwelt des Films, die sich in seinen Gedichten sowohl thematisch als auch in der Art und Weise der Darstellung ausbreitet. Es gibt in den Gedichten den filmtypischen schnellen Wechsel der Perspektiven, die Beschleunigung, aber auch die Verlangsamung: Der Blick ruht für einen Moment auf einer Situation, um dann schnell zu einem neuen Bild fortzutreiben. Erzählerische Elemente wechseln mit Beobachtungen und Reflexionen, wie in den Porträtgedichten "Das Mädchen hinter der Theke" einer Cappuccino-Bar in Genua oder in dem Gedicht über das "Atlantis", zu dem die Kassiererin eines Supermarktes sich sehnsuchtsvoll hinträumt.
Röhnert ist ein so praktisch wie theoretisch erfahrener Spezialist des lyrischen Filmblicks. Seine komparatistische Dissertation über "Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars - Ashbery - Brinkmann" erschien gleichzeitig mit dem vorliegenden Gedichtband unter dem aparten und seine eigene Lyrik bezeichnenden Titel "Springende Gedanken und flackernde Bilder".
Aber mit den Bildern ist noch nicht alles getan: "dann denkst du dir eine fremde Zunge aus", heißt es in dem oben zitierten poetologischen Gedicht. Eine fremde Zunge! Röhnert distanziert sich hier ausdrücklich von einer immer noch weit verbreiteten Auffassung, der zufolge Lyrik nichts anderes ist als eine unverstellte Herzensaussprache, als unmittelbarer Ausdruck subjektiver Erlebnisse. Röhnert redet vielmehr aus Rollen heraus. Seine Sprache besitzt Zitatcharakter, und das lyrische Ich ergießt sich nicht im Vers, sondern gibt sich erst im Durchgang durch das Fremdzitat zu erkennen. Die "fremde Zunge" ist in der Sprache schon immer enthalten: als Klischee und Redensart, als Kunstleistung vorangegangener Autoren, traditionelle Bildvorstellung und herkömmliche Wortbedeutung, nicht zuletzt auch als fremdsprachliche Wendung, als Filmtitel und als verbreiteter Slogan. Alle diese Möglichkeiten, eine "fremde Zunge" sprechen zu lassen, nutzt Röhnert ausgiebig; so erklären sich die vielen Namen (Nietzsche in Genua, "Das Fahrrad von Blaise Cendrars", Apollinaire), die Titel-Zitate, die unaufdringliche literarische Gelehrsamkeit seiner Gedichte.
Der letzte Akt im Entstehungsprozess gilt, wenn man dem zitierten Gedicht weiter folgen mag, konsequenterweise der "Übersetzung" des einer "fremden Zunge" Anvertrauten: "dann übersetzt du es". Hier erst, am Ende und allerdings in letzter Instanz, bringt sich das Autor-Ich ins Spiel; denn "Übersetzung" heißt hier so viel wie Aneignung, Identifizierung des Fremden mit dem Eigenen. Das gilt auch für Röhnerts eigene Übersetzungen (aus dem Amerikanischen und Französischen), für seine Interpretationen und sogar für seine Essays und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen. Er beschäftigt sich mit den Autoren, durch die er sich als Lyriker gefördert sieht und für die er sich als Leser begeistern kann.
Uneingeschränkte Bewunderung erfährt vor allem Rolf Dieter Brinkmann, dessen Spontaneität, fotografischer Blick und permanente Tabubrüche Röhnert bis in einzelne Wendungen hinein geprägt haben und ihn nach wie vor faszinieren. Daneben verdankt er viel dem unverkrampften Realismus amerikanischer Lyriker wie Robert Creeley und John Ashbery sowie der lyrischen Sturzflut ("Kaddish") Paulus Böhmers, dem Röhnert sogar seinen eigenen Gedichtband gewidmet hat.
So wenig sparsam, wie Röhnert mit dem Lob seiner Kollegen umgeht, darf man auch ihm selbst gegenüber sein: Was seine vorangegangenen Gedichtbände "Burgruinenblues" (2003) und "Die Hingabe, endloser Kokon" (2005) schon versprachen, das löst dieses neue Album (so nennt er selbst seine Gedichtsammlung) auf beglückende Weise ein: In Gestalt von Jan Volker Röhnert ist ein Lyriker auf den Plan getreten, von dessen aus dem Staunen geborenen, mit bewegten Bildern und fremden Zungen ausgestatteten Gedichten wir uns gern auf die Insel der Poesie übersetzen lassen.
WULF SEGEBRECHT.
Jan Volker Röhnert: "Metropolen". Gedichte. Band 6 der Edition Lyrik Kabinett. Hrsg. von Ursula Haeusgen, Michael Krüger und Raoul Schrott. Carl Hanser Verlag, München 2007. 111 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lob streut Rezensent Wulf Segebrecht reichlich über die "ganz außerordentlich schönen, neuartigen" Gedichte von Jan Volker Röhnert, die sich, wie er beteuert, in sein Gedächtnis eingegraben haben. Die titelgebenden "Metropolen" bieten nicht nur den Schreibanlass, sie formen auch die Folie für die in den Versen festgehaltenen Sinneseindrücke und sind Inspirationsquelle, erklärt der begeisterte Rezensent. Ausgehend vom "Staunen" öffne sich der Lyriker, der zugleich Literaturwissenschaftler ist, den entstehenden Bildern, die nicht selten von der Filmästhetik geprägt seien, so Segebrecht weiter. Für ihn ist der Autor ein "Spezialist des lyrischen Filmblicks". Röhnert, der sich in seiner zeitgleich erschienenen Dissertation mit Lyrikern wie Rolf Dieter Brinkmann, John Ashley und Robert Creeley beschäftigt, eignet sich auch mit Vorliebe verschiedene Sprachrollen an, die aber bei aller "Gelehrsamkeit" keineswegs penetrant wirken, wie der Rezensent betont. Segebrecht jedenfalls lässt sich voller Glück von diesem Gedichtband auf die "Insel der Poesie" entführen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"In Gestalt von Jan Volker Röhnert ist ein Lyriker auf den Plan getreten, von dessen aus dem Staunen geborenen, mit bewegten Bildern und fremden Zungen ausgestatteten Gedichten wir uns gern auf die Insel der Poesie übersetzen lassen." Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.08