Die Männer, die im Mittleren Büro ihren Dienst versehen, arbeiten, Pult neben Pult, am weichen Glas. Am Ende des Tages marschieren sie geschlossen zum aktuellen Nährflur, wo die bleiche Wand eine Speise für alle bereitstellt. Danach schlüpft jeder in seine Ruhekoje.
Dort aber liegt Büroleiter Nettler seit einigen Nächten wach. Ein rätselhafter Binnenwind zieht ihm das Gestern, Heute, Morgen ungezählter Arbeitsjahre neu herbei. Allmählich geraten die Selbstverständlichkeiten des Bürolebens ins Wanken. Es hat den Anschein, die guten Tage seien gezählt. Gemeinsam mit drei mehr oder weniger vertrauenswürdigen Kollegen passiert Nettler die Schleuse, den einzigen Weg, der hinausführt aus dem Mittleren Büro.
Draußen aber wird, was die Männer für ihre Arbeitsheimat hielten, bereits mit heller Wachsamkeit beobachtet. Fachleutnant Xazy, die leitende technische Agentin, hat begonnen, sich furchtlos um die Zwielichtzone des Natürlichen, um den Grenzbereich zwischen Außen- und Innenwelt, zu kümmern.
Mit Ernst und Eigensinn, mit Humor und Gefühl führt Georg Klein seine Figuren einem großen Gegenspieler in die Arme. Nicht alle werden den Frühlingsmorgen dämmern sehen. Aber das Licht des Phantastischen leuchtet hell über die Grenzen des Erwartbaren hinaus.
Dort aber liegt Büroleiter Nettler seit einigen Nächten wach. Ein rätselhafter Binnenwind zieht ihm das Gestern, Heute, Morgen ungezählter Arbeitsjahre neu herbei. Allmählich geraten die Selbstverständlichkeiten des Bürolebens ins Wanken. Es hat den Anschein, die guten Tage seien gezählt. Gemeinsam mit drei mehr oder weniger vertrauenswürdigen Kollegen passiert Nettler die Schleuse, den einzigen Weg, der hinausführt aus dem Mittleren Büro.
Draußen aber wird, was die Männer für ihre Arbeitsheimat hielten, bereits mit heller Wachsamkeit beobachtet. Fachleutnant Xazy, die leitende technische Agentin, hat begonnen, sich furchtlos um die Zwielichtzone des Natürlichen, um den Grenzbereich zwischen Außen- und Innenwelt, zu kümmern.
Mit Ernst und Eigensinn, mit Humor und Gefühl führt Georg Klein seine Figuren einem großen Gegenspieler in die Arme. Nicht alle werden den Frühlingsmorgen dämmern sehen. Aber das Licht des Phantastischen leuchtet hell über die Grenzen des Erwartbaren hinaus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2018Gegenspruchbeule, bitte antworten!
Was macht man sich nur aus diesem höchst rätselhaften Text? Georg Kleins "Miakro" ist ein phantastisch ekelhafter Büro-Roman.
Von Jan Wiele
Wenn man Literatur als Kunstform ernst nimmt, muss es auch einmal erlaubt sein zuzugeben, dass man über einen Text noch ein sehr vorläufiges Urteil hat. Nach Erstlektüre von Georg Kleins angeblichem Roman "Miakro" ist es gut möglich, dass einem Leser noch völlig unklar ist, ob er davon begeistert, genervt oder angeekelt sein soll - vielleicht ist auch alles zusammen denkbar.
Dass das Buch Ekel erzeugen soll, wer wollte es nach dem folgenden Auszug bezweifeln? "Wir haben dir die Kartoffeln zu Brei zerdrückt, aber was davon in dich hineingegabelt wurde, hast du gleich wieder hochgewürgt. Nur die durchgekauten Dicksprossen, die sie uns für dich mitgegeben hat, sind in dir dringeblieben. Du hast dich fünf Tage lang von Wasser, Sprossenbrei und Weiberspucke ernährt."
Diese Auskunft erhält ein Arbeiter von seinen Kollegen, die ihn nach seiner fiebrigen Erkrankung wieder aufgepäppelt haben. Ist das also ein realistisches Setting? Eine Sozialreportage? Kaum. Aus dem Zitat kann man Interessantes über Georg Kleins literarische Technik ableiten: Abgesehen von den "Dicksprossen", die man vielleicht nicht kennt, aber sich doch sofort etwas darunter vorstellen kann, benutzt er zumeist durchaus geläufige, vertraute Sprache. In der Welt seiner Erzählung gibt es Menschen und Tiere, Männer und Frauen, es gibt Jahreszeiten und die Empfindung von Schmerz. Aber so scheinbar vertraut die Sprachelemente zunächst klingen - das, wozu Klein sie dann zusammensetzt, ist doch etwas völlig Fremdes, teils Unerhörtes: "Zinkenspitzen", "Grundgepünktel", "Rübenheldgepurzel".
Die Arbeiter in diesem Roman plagen sich in einem "Büro" - der Begriff fällt schon auf den ersten Seiten und dann immer wieder. Damit steht der Text in einer literarischen Tradition, nämlich der des Angestelltenromans. Man denkt etwa an Robert Walsers "Der Gehülfe" (1908), natürlich an Kafka, vielleicht auch an Wilhelm Genazino. Das Thema der Entfremdung, des Ausgeliefertseins an höhere, unverständliche Mächte ist damit von Beginn an gesetzt, aber Georg Klein gibt ihm auch sofort noch einen Dreh ins Phantastische: Das besagte Büro ist ein seltsam flexibler, unüberschaubarer Bau, in dem ständig neue Flure entstehen und andere wieder verschwinden. Das Phantastische überrascht den Leser in behutsam eingestreuten Neologismen, zum Beispiel in den für den Roman zentralen Verben "auswanden" und "einwanden".
Dazu muss man sich vorstellen, dass die Wände des besagten Büros nicht hart, sondern elastisch sind, vielleicht gar Teile eines organischen Wesens. Ausgewandet, also hervorgebracht, werden Arbeitsgegenstände und Lebensmittel - in sogenannten Nährfluren formt die Wand auch schon mal Nippel, die Flüssigkeit verspritzen. Lebensweltliche Parallelen etwa zu 3D-Druckern und künstlich gezüchtetem Fleisch scheinen hier auf. Eingewandet, also verschluckt werden abgenutzte Geräte, aber auch Menschen: Da verstirbt einmal ein Arbeiter, und am folgenden Morgen ist er bereits "spaltlos eingewandet". Frei nach der Horrorerkenntnis "Soylent Green is People!" darf man auch hier einen Zusammenhang zwischen den eingewandeten Toten und der ausgewandeten Speise vermuten, die oft aus Pudding oder "Tunke" besteht.
Langsam begreift man, dass das Büro eine "Innenwelt" bildet, während draußen, hinter der Wand, die "wilde Welt" liegt - hier verknüpft Klein alte Science-Fiction-Topoi mit Platons Höhlengleichnis. Die Innenweltler verrichten sogenannte Glasarbeit, bei der sie einen "Bildfluss" in Gang halten müssen, sie führen eine regredierte Sekundärexistenz, die Klein uns teils aus ihrer Perspektive schildert. Dann plötzlich wechselt die Erzählung nach außen in die märchenhafte Wildwelt, in der es "Bitterseen", Riesenpilze und ein "Mordmückenrayon" gibt. Eine Naturkontrollagentin namens Xazy soll mit einem Erkundungstrupp ein großes "Unding" untersuchen, von dem man annimmt, dass es der besagte Büro-Organismus ist. Bewohner beider Ebenen nähern sich an, es sammelt sich in widerlichen Wurmszenen langsam der Alien-Genremüll, und Frau Xazy lernt schließlich die Glasarbeit.
Trotz alledem kann Kleins Prosa durchaus amüsant sein, weil sie so sprachschöpferisch ist - manchmal könnte man glauben, im Sinne einer deutschen Sprachakademie. Ist "Gegenspruchbeule" vielleicht nur ein schöneres Wort für "Handy" und "Glastiefenschleim" eines für allen Rotz im Internet?
Wofür diese gefühlte Allegorie, deren Titel Mikro- und Makroebene vereint, eigentlich steht, bleibt äußerst fraglich. Handelt es sich am Ende um einen weiteren Google-Roman oder um fiktionalisierte Sprachkritik? Ist es einfach nur ein mit expressionistischen Mitteln übersteigerter Kantinenbesuch, oder, ganz steile These, eine Parodie der Pläne für das Humboldt Forum? Kaum eine Deutung, die sich nicht irgendwie plausibel machen ließe - und dann auch manchmal die Ahnung, dass Georg Klein nur spielen will: Eines der kurzen Kapitel trägt die Überschrift "Denkverhinderung - Was so gut wie nichts bedeuten könnte".
Georg Klein: "Miakro".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 334 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was macht man sich nur aus diesem höchst rätselhaften Text? Georg Kleins "Miakro" ist ein phantastisch ekelhafter Büro-Roman.
Von Jan Wiele
Wenn man Literatur als Kunstform ernst nimmt, muss es auch einmal erlaubt sein zuzugeben, dass man über einen Text noch ein sehr vorläufiges Urteil hat. Nach Erstlektüre von Georg Kleins angeblichem Roman "Miakro" ist es gut möglich, dass einem Leser noch völlig unklar ist, ob er davon begeistert, genervt oder angeekelt sein soll - vielleicht ist auch alles zusammen denkbar.
Dass das Buch Ekel erzeugen soll, wer wollte es nach dem folgenden Auszug bezweifeln? "Wir haben dir die Kartoffeln zu Brei zerdrückt, aber was davon in dich hineingegabelt wurde, hast du gleich wieder hochgewürgt. Nur die durchgekauten Dicksprossen, die sie uns für dich mitgegeben hat, sind in dir dringeblieben. Du hast dich fünf Tage lang von Wasser, Sprossenbrei und Weiberspucke ernährt."
Diese Auskunft erhält ein Arbeiter von seinen Kollegen, die ihn nach seiner fiebrigen Erkrankung wieder aufgepäppelt haben. Ist das also ein realistisches Setting? Eine Sozialreportage? Kaum. Aus dem Zitat kann man Interessantes über Georg Kleins literarische Technik ableiten: Abgesehen von den "Dicksprossen", die man vielleicht nicht kennt, aber sich doch sofort etwas darunter vorstellen kann, benutzt er zumeist durchaus geläufige, vertraute Sprache. In der Welt seiner Erzählung gibt es Menschen und Tiere, Männer und Frauen, es gibt Jahreszeiten und die Empfindung von Schmerz. Aber so scheinbar vertraut die Sprachelemente zunächst klingen - das, wozu Klein sie dann zusammensetzt, ist doch etwas völlig Fremdes, teils Unerhörtes: "Zinkenspitzen", "Grundgepünktel", "Rübenheldgepurzel".
Die Arbeiter in diesem Roman plagen sich in einem "Büro" - der Begriff fällt schon auf den ersten Seiten und dann immer wieder. Damit steht der Text in einer literarischen Tradition, nämlich der des Angestelltenromans. Man denkt etwa an Robert Walsers "Der Gehülfe" (1908), natürlich an Kafka, vielleicht auch an Wilhelm Genazino. Das Thema der Entfremdung, des Ausgeliefertseins an höhere, unverständliche Mächte ist damit von Beginn an gesetzt, aber Georg Klein gibt ihm auch sofort noch einen Dreh ins Phantastische: Das besagte Büro ist ein seltsam flexibler, unüberschaubarer Bau, in dem ständig neue Flure entstehen und andere wieder verschwinden. Das Phantastische überrascht den Leser in behutsam eingestreuten Neologismen, zum Beispiel in den für den Roman zentralen Verben "auswanden" und "einwanden".
Dazu muss man sich vorstellen, dass die Wände des besagten Büros nicht hart, sondern elastisch sind, vielleicht gar Teile eines organischen Wesens. Ausgewandet, also hervorgebracht, werden Arbeitsgegenstände und Lebensmittel - in sogenannten Nährfluren formt die Wand auch schon mal Nippel, die Flüssigkeit verspritzen. Lebensweltliche Parallelen etwa zu 3D-Druckern und künstlich gezüchtetem Fleisch scheinen hier auf. Eingewandet, also verschluckt werden abgenutzte Geräte, aber auch Menschen: Da verstirbt einmal ein Arbeiter, und am folgenden Morgen ist er bereits "spaltlos eingewandet". Frei nach der Horrorerkenntnis "Soylent Green is People!" darf man auch hier einen Zusammenhang zwischen den eingewandeten Toten und der ausgewandeten Speise vermuten, die oft aus Pudding oder "Tunke" besteht.
Langsam begreift man, dass das Büro eine "Innenwelt" bildet, während draußen, hinter der Wand, die "wilde Welt" liegt - hier verknüpft Klein alte Science-Fiction-Topoi mit Platons Höhlengleichnis. Die Innenweltler verrichten sogenannte Glasarbeit, bei der sie einen "Bildfluss" in Gang halten müssen, sie führen eine regredierte Sekundärexistenz, die Klein uns teils aus ihrer Perspektive schildert. Dann plötzlich wechselt die Erzählung nach außen in die märchenhafte Wildwelt, in der es "Bitterseen", Riesenpilze und ein "Mordmückenrayon" gibt. Eine Naturkontrollagentin namens Xazy soll mit einem Erkundungstrupp ein großes "Unding" untersuchen, von dem man annimmt, dass es der besagte Büro-Organismus ist. Bewohner beider Ebenen nähern sich an, es sammelt sich in widerlichen Wurmszenen langsam der Alien-Genremüll, und Frau Xazy lernt schließlich die Glasarbeit.
Trotz alledem kann Kleins Prosa durchaus amüsant sein, weil sie so sprachschöpferisch ist - manchmal könnte man glauben, im Sinne einer deutschen Sprachakademie. Ist "Gegenspruchbeule" vielleicht nur ein schöneres Wort für "Handy" und "Glastiefenschleim" eines für allen Rotz im Internet?
Wofür diese gefühlte Allegorie, deren Titel Mikro- und Makroebene vereint, eigentlich steht, bleibt äußerst fraglich. Handelt es sich am Ende um einen weiteren Google-Roman oder um fiktionalisierte Sprachkritik? Ist es einfach nur ein mit expressionistischen Mitteln übersteigerter Kantinenbesuch, oder, ganz steile These, eine Parodie der Pläne für das Humboldt Forum? Kaum eine Deutung, die sich nicht irgendwie plausibel machen ließe - und dann auch manchmal die Ahnung, dass Georg Klein nur spielen will: Eines der kurzen Kapitel trägt die Überschrift "Denkverhinderung - Was so gut wie nichts bedeuten könnte".
Georg Klein: "Miakro".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 334 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2018Körperkunde
Georg Kleins „Miakro“ ist ein Abenteuerroman, mit heißen Ohren zu lesen:
Aber das größte Abenteuer darin ist die Sprache
VON THOMAS STEINFELD
Wer im Geiste je die Nautilus bestieg, um auf diesem geheimnisvollen Unterseeboot die Feinde der Menschheit zu versenken, weiß, dass er sich keineswegs nur aus Begeisterung für die außerordentlichen Eigenschaften Kapitän Nemos durch die Seiten treiben ließ. Das Fahrzeug, dessen Einrichtung und technischen Eigenschaften, die Unterwasserwelt, die vor den Bullaugen vorbeizieht, die Riesenkraken und das versunkene Atlantis: Das alles ist interessanter als die Frage, ob es das verborgene Verlangen nach Rache war, das den Kapitän auf seine lange Reise schickte. Alle wahren Abenteuerromane sind von dieser Art: Wenn der (meist jugendliche) Leser seinen Blick durch die Seiten jagt, mag es zwar auch so sein, dass er im Helden der Geschichte sich selbst zu erkennen meint. Aber stärker als das Motiv der Selbstfindung im Anderen ist die Neugier auf eine fremde Welt, in die man sich als Leser mischt, in begieriger Erwartung der Überraschungen, mit denen schon für das nächste Kapitel zu rechnen ist.
Eine Neigung zum Abenteuerlichen zieht sich durch alle großen Bücher Georg Kleins, von „Libidissi“ (1998), einer Art Agentengeschichte in vage orientalischem Milieu, bis zum Roman „Die Zukunft des Mars“ (2013), der von einer verloren gegangenen Kolonie auf einem anderen Planeten handelt. Die fremden Welten scheinen dabei räumlich und zeitlich oft so entlegen zu sein, dass man sich der „Science Fiction“ nahe wähnt. Mit Wissenschaft im landläufigen Sinne haben Georg Kleins Erfindungen indessen nur wenig zu tun, um so mehr aber mit einer utopischen Körperkunde. Das gilt in besonderem Maße für das Buch „Miakro“, Georg Kleins jüngsten Roman. Die Geschichte spielt in einer Welt, in der es nicht nur Klappmesser, Süßkartoffeln und Glasfassaden gibt, sondern auch „Schockstöcke“ und „Raupenroboter“. Eine kriegerische Katastrophe ist offenbar über diese Welt hinweggegangen und hat eher Disparates zurückgelassen. Das eigentlich fantastische Element in dieser Welt aber ist biologischer Art.
Eine Gruppe von Männern lebt und arbeitet in einem „Mittleren Büro“. Sie schlafen in Kojen, die Ausbuchtungen in einer auf kaum fassliche Art lebendigen Wand zu bilden scheinen. Sie verbringen ihre Tage an Monitoren oder Bildtischen aus geschichtetem „weichem Glas“, die offenbar ebenfalls mit einem eigenen Leben ausgestattet sind. Ihre Speise dringt aus dem Gewebe heraus, das ihre kleine Welt umfängt. Und was sie darüber hinaus zum Leben brauchen – Overalls, Seife, Tafelschokolade – wird ihnen gleichermaßen durch den Organismus zugeteilt, der ihre kleine Welt bildet und umfasst. Eine Art Gebärmutter scheint diese dichte Hülle zu sein, ein geschlossenes Wesen, das die darin befindlichen Männer, entmännlicht alle miteinander, schützt und versorgt. Das Abenteuer beginnt mit dem Auszug aus dieser Geborgenheit: Das lebendige Gewebe entpuppt sich als für seine Bewohner potenziell gefährlich, ein Mann verschwindet, und es bildet sich eine kleine Expedition, ihn zu bergen oder gar zurückzuholen.
So nimmt das Abenteuer seinen Weg, hinaus aus der bekannten, verlässlichen inneren Welt, hinein in das Fremde und Unberechenbare. Doch wo Jules Vernes Utopie aus Eisen und Nieten geschlagen ist, besteht Georg Kleins fremde Welt aus weichen Massen. Draußen warten nicht nur Gefahren, plötzliche Abgründe zum Beispiel oder die diebischen Frauen des „Volkes“, sondern auch Erkenntnisse zur Beschaffenheit der eigenen Lebenswelt: „Etwas Ungesehenes wollte Gestalt annehmen.“ Irgendwie insektenhaft muss das Wesen sein, das die Lebenswelt des „Mittleren Büros“ in sich barg, und auch irgendwie mit Intelligenz ausgestattet. Die Menschen verändern sich auf dem Weg hinaus. Manch einer wächst im Abenteuer und er bekommt einen Bart, manch einer schrumpft und verliert seine Autorität. Und plötzlich, kurz nach der Mitte des Buches, wendet sich die Geschichte. War die eine Welt im Büro zu Hause, in einer in jeder Beziehung neutralisierten Umgebung, ist die andere nun kämpferisch, ja militärisch geprägt, allen voran durch die Befehlshaberin, Frau Fachleutnant Xazy. Von außen arbeitet sich daraufhin eine nicht nur ähnliche, sondern spiegelbildliche Gruppe nach innen. Selbstverständlich begegnen sich die Trupps am Ende, und sie tun es auf, wie es sich gehört, wiederum überraschende Weise.
Immer wieder geschieht es dem Leser, dass er einen Hinweis auf eine außerhalb der Geschichte liegende Realität zu erkennen meint, ein Indiz, dass ihm erlaubt, das Geschehen im Roman als Allegorie zu identifizieren. Ist die Gebärmutter nicht eine Art avancierter Sozialstaat? Oder ist nicht das Spiel mit der „Science Fiction“ auch ein Reflex auf das Glücksversprechen, das die Lektüre von Abenteuergeschichten für einen Heranwachsenden (und nicht minder: einer Heranwachsenden enthielt), eine Erinnerung an überlange, mit heißen Ohren vollzogene Lektüren, in denen das Gelesene aufhörte, ein Außen zu sein, das man sich langsam aneignete, sondern sich dem enthusiastischen Leser als eine Art begehbarer Landschaft, ja beinahe als etwas Eigenmächtiges, ja als Subjekt darstellte, gar nicht unähnlich dem Wesen, das in „Miakro“ die bewohnbare Welt darstellt?
Selbstverständlich gehen solche Vergleiche nicht auf, nicht vollständig jedenfalls. Aber es wäre zu erwarten, dass Georg Klein, der kluge Autor, diese Möglichkeiten bedacht, geplant hat – und absichtlich hintertreibt.
In diesem Buch wird nichts Vorhandenes beschrieben. Alles, was darin erscheint, die Menschen wie die Apparate, die Schlafkojen wie die „Nährflure“ wird schreibend erbaut, aus Sprache und auf eine Art, die im Wort „Miakro“, dem Titel des Romans, programmatisch enthalten ist: als ein Versprechen, demzufolge, wie Walter Benjamin in einer Notiz mit dem Titel „Lesendes Kind“ schrieb, „die Abenteuer des Helden noch im Wirbel der Lettern zu lesen“ seien. Die Sprache selbst ist hier das abenteuerliche Fremde, sie bildet eine eigene Wirklichkeit: „Noch wirkt das Wesen vor sich hin. Es bildet, es bildet sich, indem es anderes bildet. Es bildet nach und bildet um und um. Es spricht zu sich und spricht darin zu uns.“ Im Text gemeint scheint jener alles umfassende und alles durchdringende Organismus zu sein, der offenbar manchmal als eine Art Gebärmutter fungiert. Doch gelten diese Sätze auch für den Organismus, aus dem Romane hervorgehen, für die Sprache.
„Miakro“ ist ein außerordentliches Buch, dem man sich zwar mit erwachsenem Verstand nähern muss, das aber eine Art des Umgangs mit Literatur erfordert, die sich zumindest zu erinnern vermag an die kindliche Lektüre, an ein Lesen, in dem man sich dem „Treiben des Textes“ (Walter Benjamin) anheimzugeben vermag. In der zeitgenössischen deutschen Literatur gibt es nichts, was man in dieser Hinsicht mit den Romanen Georg Kleins vergleichen könnte. Man müsste auf Älteres zurückgreifen, auf Franz Kafkas Parabel vom „Bau“ vielleicht, auf Stanislaw Lems Expeditionen an die Ränder des Begreifens, man muss das Echo der Welt vergessen können und sich, in jeder Beziehung, auf etwas Neues einlassen: auf eine Wirklichkeit, die durch Dichtung überhaupt erst entsteht, manchmal schillernd düster, manchmal hell aufleuchtend, immer aber beglückend gegenwärtig.
Georg Klein: Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018. 334 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro
Ein Mann verschwindet, und
es bildet sich eine kleine
Expedition, um ihn zu bergen
Hier muss sich der Leser
auf eine Welt einlassen, die
durch Dichtung erst entsteht
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Georg Kleins „Miakro“ ist ein Abenteuerroman, mit heißen Ohren zu lesen:
Aber das größte Abenteuer darin ist die Sprache
VON THOMAS STEINFELD
Wer im Geiste je die Nautilus bestieg, um auf diesem geheimnisvollen Unterseeboot die Feinde der Menschheit zu versenken, weiß, dass er sich keineswegs nur aus Begeisterung für die außerordentlichen Eigenschaften Kapitän Nemos durch die Seiten treiben ließ. Das Fahrzeug, dessen Einrichtung und technischen Eigenschaften, die Unterwasserwelt, die vor den Bullaugen vorbeizieht, die Riesenkraken und das versunkene Atlantis: Das alles ist interessanter als die Frage, ob es das verborgene Verlangen nach Rache war, das den Kapitän auf seine lange Reise schickte. Alle wahren Abenteuerromane sind von dieser Art: Wenn der (meist jugendliche) Leser seinen Blick durch die Seiten jagt, mag es zwar auch so sein, dass er im Helden der Geschichte sich selbst zu erkennen meint. Aber stärker als das Motiv der Selbstfindung im Anderen ist die Neugier auf eine fremde Welt, in die man sich als Leser mischt, in begieriger Erwartung der Überraschungen, mit denen schon für das nächste Kapitel zu rechnen ist.
Eine Neigung zum Abenteuerlichen zieht sich durch alle großen Bücher Georg Kleins, von „Libidissi“ (1998), einer Art Agentengeschichte in vage orientalischem Milieu, bis zum Roman „Die Zukunft des Mars“ (2013), der von einer verloren gegangenen Kolonie auf einem anderen Planeten handelt. Die fremden Welten scheinen dabei räumlich und zeitlich oft so entlegen zu sein, dass man sich der „Science Fiction“ nahe wähnt. Mit Wissenschaft im landläufigen Sinne haben Georg Kleins Erfindungen indessen nur wenig zu tun, um so mehr aber mit einer utopischen Körperkunde. Das gilt in besonderem Maße für das Buch „Miakro“, Georg Kleins jüngsten Roman. Die Geschichte spielt in einer Welt, in der es nicht nur Klappmesser, Süßkartoffeln und Glasfassaden gibt, sondern auch „Schockstöcke“ und „Raupenroboter“. Eine kriegerische Katastrophe ist offenbar über diese Welt hinweggegangen und hat eher Disparates zurückgelassen. Das eigentlich fantastische Element in dieser Welt aber ist biologischer Art.
Eine Gruppe von Männern lebt und arbeitet in einem „Mittleren Büro“. Sie schlafen in Kojen, die Ausbuchtungen in einer auf kaum fassliche Art lebendigen Wand zu bilden scheinen. Sie verbringen ihre Tage an Monitoren oder Bildtischen aus geschichtetem „weichem Glas“, die offenbar ebenfalls mit einem eigenen Leben ausgestattet sind. Ihre Speise dringt aus dem Gewebe heraus, das ihre kleine Welt umfängt. Und was sie darüber hinaus zum Leben brauchen – Overalls, Seife, Tafelschokolade – wird ihnen gleichermaßen durch den Organismus zugeteilt, der ihre kleine Welt bildet und umfasst. Eine Art Gebärmutter scheint diese dichte Hülle zu sein, ein geschlossenes Wesen, das die darin befindlichen Männer, entmännlicht alle miteinander, schützt und versorgt. Das Abenteuer beginnt mit dem Auszug aus dieser Geborgenheit: Das lebendige Gewebe entpuppt sich als für seine Bewohner potenziell gefährlich, ein Mann verschwindet, und es bildet sich eine kleine Expedition, ihn zu bergen oder gar zurückzuholen.
So nimmt das Abenteuer seinen Weg, hinaus aus der bekannten, verlässlichen inneren Welt, hinein in das Fremde und Unberechenbare. Doch wo Jules Vernes Utopie aus Eisen und Nieten geschlagen ist, besteht Georg Kleins fremde Welt aus weichen Massen. Draußen warten nicht nur Gefahren, plötzliche Abgründe zum Beispiel oder die diebischen Frauen des „Volkes“, sondern auch Erkenntnisse zur Beschaffenheit der eigenen Lebenswelt: „Etwas Ungesehenes wollte Gestalt annehmen.“ Irgendwie insektenhaft muss das Wesen sein, das die Lebenswelt des „Mittleren Büros“ in sich barg, und auch irgendwie mit Intelligenz ausgestattet. Die Menschen verändern sich auf dem Weg hinaus. Manch einer wächst im Abenteuer und er bekommt einen Bart, manch einer schrumpft und verliert seine Autorität. Und plötzlich, kurz nach der Mitte des Buches, wendet sich die Geschichte. War die eine Welt im Büro zu Hause, in einer in jeder Beziehung neutralisierten Umgebung, ist die andere nun kämpferisch, ja militärisch geprägt, allen voran durch die Befehlshaberin, Frau Fachleutnant Xazy. Von außen arbeitet sich daraufhin eine nicht nur ähnliche, sondern spiegelbildliche Gruppe nach innen. Selbstverständlich begegnen sich die Trupps am Ende, und sie tun es auf, wie es sich gehört, wiederum überraschende Weise.
Immer wieder geschieht es dem Leser, dass er einen Hinweis auf eine außerhalb der Geschichte liegende Realität zu erkennen meint, ein Indiz, dass ihm erlaubt, das Geschehen im Roman als Allegorie zu identifizieren. Ist die Gebärmutter nicht eine Art avancierter Sozialstaat? Oder ist nicht das Spiel mit der „Science Fiction“ auch ein Reflex auf das Glücksversprechen, das die Lektüre von Abenteuergeschichten für einen Heranwachsenden (und nicht minder: einer Heranwachsenden enthielt), eine Erinnerung an überlange, mit heißen Ohren vollzogene Lektüren, in denen das Gelesene aufhörte, ein Außen zu sein, das man sich langsam aneignete, sondern sich dem enthusiastischen Leser als eine Art begehbarer Landschaft, ja beinahe als etwas Eigenmächtiges, ja als Subjekt darstellte, gar nicht unähnlich dem Wesen, das in „Miakro“ die bewohnbare Welt darstellt?
Selbstverständlich gehen solche Vergleiche nicht auf, nicht vollständig jedenfalls. Aber es wäre zu erwarten, dass Georg Klein, der kluge Autor, diese Möglichkeiten bedacht, geplant hat – und absichtlich hintertreibt.
In diesem Buch wird nichts Vorhandenes beschrieben. Alles, was darin erscheint, die Menschen wie die Apparate, die Schlafkojen wie die „Nährflure“ wird schreibend erbaut, aus Sprache und auf eine Art, die im Wort „Miakro“, dem Titel des Romans, programmatisch enthalten ist: als ein Versprechen, demzufolge, wie Walter Benjamin in einer Notiz mit dem Titel „Lesendes Kind“ schrieb, „die Abenteuer des Helden noch im Wirbel der Lettern zu lesen“ seien. Die Sprache selbst ist hier das abenteuerliche Fremde, sie bildet eine eigene Wirklichkeit: „Noch wirkt das Wesen vor sich hin. Es bildet, es bildet sich, indem es anderes bildet. Es bildet nach und bildet um und um. Es spricht zu sich und spricht darin zu uns.“ Im Text gemeint scheint jener alles umfassende und alles durchdringende Organismus zu sein, der offenbar manchmal als eine Art Gebärmutter fungiert. Doch gelten diese Sätze auch für den Organismus, aus dem Romane hervorgehen, für die Sprache.
„Miakro“ ist ein außerordentliches Buch, dem man sich zwar mit erwachsenem Verstand nähern muss, das aber eine Art des Umgangs mit Literatur erfordert, die sich zumindest zu erinnern vermag an die kindliche Lektüre, an ein Lesen, in dem man sich dem „Treiben des Textes“ (Walter Benjamin) anheimzugeben vermag. In der zeitgenössischen deutschen Literatur gibt es nichts, was man in dieser Hinsicht mit den Romanen Georg Kleins vergleichen könnte. Man müsste auf Älteres zurückgreifen, auf Franz Kafkas Parabel vom „Bau“ vielleicht, auf Stanislaw Lems Expeditionen an die Ränder des Begreifens, man muss das Echo der Welt vergessen können und sich, in jeder Beziehung, auf etwas Neues einlassen: auf eine Wirklichkeit, die durch Dichtung überhaupt erst entsteht, manchmal schillernd düster, manchmal hell aufleuchtend, immer aber beglückend gegenwärtig.
Georg Klein: Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018. 334 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro
Ein Mann verschwindet, und
es bildet sich eine kleine
Expedition, um ihn zu bergen
Hier muss sich der Leser
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durch Dichtung erst entsteht
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für Rezensent Philipp Theison ist Georg Klein einer der Meister des fantastischen Erzählens. Denn Klein vermag geschickt Okkultes mit Analyse zu verknüpfen, fährt der Kritiker fort, der sich von dem Autor in dessen neuen Roman "Miakro" mit in einen unterirdischen, lebenden Gebäudekomplex nehmen lässt, in dem fünf Gestalten hausen, während oberirdisch eine Naturkontrollagentin nach ihnen fahndet. Wie der Autor hier Reales und Imaginäres in einem dichten Referenznetz verwebt, dabei die "Entstehung des Kosmos aus der Sprachsubstanz" feiert, ringt dem Rezensenten größte Anerkennung ab. "Halluzinogene Prosa" vom Feinsten, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein meisterliches Werk (...) in einer Beschreibungsgenauigkeit geschildert, die einzigartig ist in der Gegenwartsliteratur. Michael Braun Der Tagesspiegel