Wissenschaftliche Erkenntnisse können eine Weltsensation darstellen, ohne gleich ein neues Weltbild zu installieren. Als der Pariser Physiker Léon Foucault 1851 die Erdrotation mit einem Pendel nachweisen konnte, musste niemand mehr von der Richtigkeit des Heliozentrismus überzeugt werden. Dennoch gilt das Experiment bis heute als eines der berühmtesten in der Geschichte der Wissenschaften. Hat also Foucaults Pendel immer noch mit uns zu tun? In seinem neuen, mit vielen bislang unbekannten Bildern versehenen Buch geht Michael Hagner dieser brisanten Frage nach und zeigt, wie eng der Pendelversuch mit technischen Präzisionsbasteleien, ideologischen Konflikten, dem Aufstieg der Populärkultur sowie der Verbreitung von Bildmedien verbunden ist. Dabei behandelt Hagner kosmologische Fragen ebenso wie politische und ästhetische Vorstellungen über die öffentliche Inszenierung von Wissenschaft. Der Glaube an den zivilisatorischen Fortschritt durch die Wissenschaften prägte die öffentlicheGeschichte des Pendels, bis Umberto Eco es in einem postmodernen Welttheater wiederverzauberte. Damit wurde die Bühne frei für die Vermutung, bei Foucaults Pendel könnte es sich auch um ein Kunstwerk handeln. In einer überraschenden Wende deutet Hagner die Installation Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel, die Gerhard Richter 2018 in der Dominikanerkirche in Münster eingerichtet hat, als Vorschlag, künstlerische und wissenschaftliche Reflektion auf paradoxe Weise miteinander in Korrespondenz treten zu lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Um Augenschein für Wahrheit bittend
Der Bedarf der Vernunft an anschaulicher Demonstration ihrer Einsichten wird nicht immer pünktlich geliefert: Michael Hagner hat eine exzellente Geschichte des Foucaultschen Pendels und seiner Weltkarriere geschrieben.
Von Jürgen Kaube
Die Erde dreht sich um die Sonne und um ihre eigene Achse. Das wissen wir seit 1687. Isaac Newton vereinigte damals in seiner mathematischen Naturlehre das Modell eines heliozentrischen Weltbildes von Nikolaus Kopernikus mit Galileis Hypothesen zur Physik der Bewegung und Johannes Keplers "Gesetz", die Planeten bewegten sich aufgrund der Anziehung durch die Sonne auf elliptischen Bahnen.
Wir wissen seitdem, dass wir nicht das Zentrum aller Dinge sind. Aber haben wir auch eine Anschauung davon? Nach wie vor sprechen wir geozentrisch von Sonnenauf- und -untergang. Als Ludwig Wittgenstein einmal fragte, weshalb das so ist, bekam er zur Antwort: "Vermutlich, weil es so aussieht, als würde sich die Sonne um die Erde bewegen." Seine Erwiderung: "Nun, wie hätte es denn ausgesehen, wenn es so ausgesehen hätte, als würde sich die Erde um ihre Achse drehen?"
Das detailreiche und glänzend geschriebene Buch des Zürcher Wissenschaftshistorikers Michael Hagner zitiert Wittgenstein nicht, aber es handelt von der Antwort auf seine Frage. Die Antwort lautete für ein Zeitalter vor der Raumfahrt: Wir können die Eigenbewegung der Erde nicht am Himmel ablesen, sondern nur in einem Experiment. 1851 hat es der französische Instrumentenbauer Léon Foucault vorgestellt, indem er die Rotation der Erde durch ein Pendel sichtbar machte. Dieses - ein langes Drahtseil und ein daran befestigtes, meist kugelförmiges Gewicht - schwingt zunächst genau auf die unbewegten Betrachter zu, die nach einiger Zeit merken, dass die Kugel sich im Uhrzeigersinn langsam von ihnen wegbewegt. Das Pendel schwingt seine Bahn, die Betrachter bewegen sich mit der Erde. Wer das lange aushält, kommt in Paris oder München in den Genuss eines Pendels, das nach 32 Stunden wieder genau auf die Beobachter zu schwingt. Am Nordpol geht es schneller.
Hagner beschreibt die Physik dieses Experiments samt seiner erhabenen Ästhetik und findet den schönen Satz, es sei, als ob bei einer Uhr sich das Zifferblatt drehe, nicht die Zeiger. Er entwickelt seine Darstellung aber vor allem anhand der wissenschaftshistorischen Seltsamkeit, dass hier etwas erstmals veranschaulicht wurde, was längst feststand. Niemand glaubte 1851 mehr, die Sonne drehe sich um die Erde. Nur gab es keine sinnliche Vergewisserung dieses Wissens. Und das ausgerechnet bei der gewaltigsten irdischen Bewegung, die wir kennen. Galilei hatte noch vollmundig von "hundert Gründen" gesprochen, die er für die Erdbewegung anführen könne. Tatsächlich besaß er keinen einzigen, der zweifelsfrei gewesen wäre. Kepler wiederum war überzeugt, die Planeten folgten einem beseelten Gesetz.
Es waren theoretische Argumente, Formeln, die der heliozentrischen Weltordnung zum Durchbruch verhalfen. Für ihre Veranschaulichung bedurfte es hingegen kaum der Theorie. Dazu passt es, dass Léon Foucault kein Physiker war und erst nach seinem Experiment eine wissenschaftliche Anstellung fand. Hagner nennt ihn einen Präzisionsbastler. Früh beschäftigte er sich mit der gerade aufgekommenen Fotografie. 1845 war er am ersten Lichtbild beteiligt, das die Sonne zeigte. In der Kontroverse, ob Licht aus kleinen Körpern oder aus Wellen bestehe, nahm er durch Experimente zur Geschwindigkeit der Lichtfortpflanzung im Wasser und in der Luft teil. Das prägte nicht nur seine Fähigkeiten aus, Apparate zu entwickeln, es schulte auch seinen Sinn für öffentlich überzeugende Demonstrationen. Er schrieb Feuilletons über Wissenschaft für das "Journal des débats", die dort neben den Fortsetzungsromanen Balzacs standen. Und er wandte seine apparativen Kenntnisse auch an: Das blendende Bogenlicht, das Richard Wagner 1850 in einer Aufführung von Meyerbeers "Le prophète" überwältigte und das er für sein "Rheingold" adaptierte, kam aus dem Hause Foucault.
Foucaults Pendel gehört also nicht nur in die Geschichte der Wissenschaft, sondern mehr noch in die ihrer Popularisierung. Hagner zeichnet nach, wie die französische Politik und Volkspädagogik sich des Experiments bemächtigten. Zeitweise galt es als kraftvoller Beleg für die der katholischen Kirche überlegene Wissenschaft. Doch sobald man die Kirche politisch zu brauchen glaubte, war die Aufklärung dann auch wieder nicht so wichtig. So kam es zu einem epochalen Hin und Her: 1851 wurde das Pendel im Panthéon vorgeführt, kurz danach wieder demontiert und woanders aufgebaut, 1902 triumphal wieder installiert, dann neuerlich abgebaut. 1995 kehrt das Pendel schlussendlich ins Panthéon zurück.
Showmaster der frühen Vorführungen war nach dem frühen Tod Foucaults lange Zeit der Astronom Camille Flammarion, ein Unternehmer, der mit der Faszination durch kosmologische Fragen handelte; seine "Astronomie populaire" von 1880 hatte eine Auflage von einhunderttausend. Dass bald auch in Kirchen, ihrer geeigneten Raumhöhen halber, Foucaults Gerät installiert wurde, befriedigte die antiklerikale Fraktion besonders. In der Sowjetunion wurde gar aus der Leningrader Isaakskathedrale ein antireligiöses Museum gemacht, mit einem 93 Meter langen Pendel. Hagner bettet die Verbreitung des Experiments in die Epoche der frühen Weltausstellungen und des Städtetourismus ein; es kamen Tischpendel und Baukästen für Schüler auf den Markt, am Ende hatten sogar die UN in New York ein besonderes Foucaultsches Pendel, in ihrem Treppenaufgang, über den Köpfen hängend. In Cattenom zierte 1985 das größte jemals installierte Pendel mit einem Draht von 165 Meter Länge den Rohbau eines Atomkraftwerks. Kurz: Überall, wo ein Fortschritt festgehalten werden sollte, war das Pendel zur Stelle.
Das Schlusskapitel behandelt den hier schon absehbaren Übergang des Pendels in die Geschichte der Kunst und Literatur. Dort verdampft der Fortschritt entweder im Stimmengewirr von Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel", der sich einen Spaß daraus macht, die Suche nach Gewissheit und festen Punkten im Universum als sektiererisch darzustellen. Oder er wird reflexiv: Gerhard Richters Installation "Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel" in der leeren Dominikanerkirche zu Münster, ebenfalls von Konflikten über Profanierung des ehedem sakralen Raums begleitet, zwingt die Betrachter, nicht nur das Pendel, sondern stets auch sich selbst sowie das eigene Gesehenwerden zu sehen.
Damit ist die Geschichte dieses Experiments einstweilen abgeschlossen. Während das Pendel sich verbreitete, änderte sich die physikalische Grundlagendiskussion. Ernst Mach etwa bestand schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts darauf, alle Aussagen über Bewegungen eines Körpers seien relativ zu Bewegungen anderer Körper, weswegen es keine absoluten Aussagen über die Erdbewegung geben könne. Es sei nur praktischer anzunehmen, sie rotiere. Henri Poincaré spitzte das zu: Es sei kein Unterschied, ob man sage "Die Erde dreht sich" oder "Es ist bequemer vorauszusetzen, dass die Erde sich dreht."
So stand es in einem Buch, das kurz nach der verspäteten Jubiläumsfeier von 1902 erschien. Sogleich bekam der Physiker falsche Freunde, die mit einem "Alles ist relativ" das alte katholische Weltbild wieder ins Recht setzen wollten und sich zu diesem ersichtlich politischen Zweck der Metaphysik eines Wissenschaftlers bedienten. Poincaré wies das als Missbrauch von Philosophie von sich. Wenn er sage, die Erde drehe sich, dann meine er, dass auf der Grundlage dieses Satzes einfach mehr erklärt werden könne als durch Leugnung der Erdrotation. Die größere Bequemlichkeit, von der er gesprochen hatte, war also nicht die eines ebenso untätigen wie ungebildeten Skeptizismus gegenüber der Wissenschaft.
Michael Hagner: "Foucaults Pendel und wir". Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter.
Buchhandlung Walther König, Köln 2021. 396 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Bedarf der Vernunft an anschaulicher Demonstration ihrer Einsichten wird nicht immer pünktlich geliefert: Michael Hagner hat eine exzellente Geschichte des Foucaultschen Pendels und seiner Weltkarriere geschrieben.
Von Jürgen Kaube
Die Erde dreht sich um die Sonne und um ihre eigene Achse. Das wissen wir seit 1687. Isaac Newton vereinigte damals in seiner mathematischen Naturlehre das Modell eines heliozentrischen Weltbildes von Nikolaus Kopernikus mit Galileis Hypothesen zur Physik der Bewegung und Johannes Keplers "Gesetz", die Planeten bewegten sich aufgrund der Anziehung durch die Sonne auf elliptischen Bahnen.
Wir wissen seitdem, dass wir nicht das Zentrum aller Dinge sind. Aber haben wir auch eine Anschauung davon? Nach wie vor sprechen wir geozentrisch von Sonnenauf- und -untergang. Als Ludwig Wittgenstein einmal fragte, weshalb das so ist, bekam er zur Antwort: "Vermutlich, weil es so aussieht, als würde sich die Sonne um die Erde bewegen." Seine Erwiderung: "Nun, wie hätte es denn ausgesehen, wenn es so ausgesehen hätte, als würde sich die Erde um ihre Achse drehen?"
Das detailreiche und glänzend geschriebene Buch des Zürcher Wissenschaftshistorikers Michael Hagner zitiert Wittgenstein nicht, aber es handelt von der Antwort auf seine Frage. Die Antwort lautete für ein Zeitalter vor der Raumfahrt: Wir können die Eigenbewegung der Erde nicht am Himmel ablesen, sondern nur in einem Experiment. 1851 hat es der französische Instrumentenbauer Léon Foucault vorgestellt, indem er die Rotation der Erde durch ein Pendel sichtbar machte. Dieses - ein langes Drahtseil und ein daran befestigtes, meist kugelförmiges Gewicht - schwingt zunächst genau auf die unbewegten Betrachter zu, die nach einiger Zeit merken, dass die Kugel sich im Uhrzeigersinn langsam von ihnen wegbewegt. Das Pendel schwingt seine Bahn, die Betrachter bewegen sich mit der Erde. Wer das lange aushält, kommt in Paris oder München in den Genuss eines Pendels, das nach 32 Stunden wieder genau auf die Beobachter zu schwingt. Am Nordpol geht es schneller.
Hagner beschreibt die Physik dieses Experiments samt seiner erhabenen Ästhetik und findet den schönen Satz, es sei, als ob bei einer Uhr sich das Zifferblatt drehe, nicht die Zeiger. Er entwickelt seine Darstellung aber vor allem anhand der wissenschaftshistorischen Seltsamkeit, dass hier etwas erstmals veranschaulicht wurde, was längst feststand. Niemand glaubte 1851 mehr, die Sonne drehe sich um die Erde. Nur gab es keine sinnliche Vergewisserung dieses Wissens. Und das ausgerechnet bei der gewaltigsten irdischen Bewegung, die wir kennen. Galilei hatte noch vollmundig von "hundert Gründen" gesprochen, die er für die Erdbewegung anführen könne. Tatsächlich besaß er keinen einzigen, der zweifelsfrei gewesen wäre. Kepler wiederum war überzeugt, die Planeten folgten einem beseelten Gesetz.
Es waren theoretische Argumente, Formeln, die der heliozentrischen Weltordnung zum Durchbruch verhalfen. Für ihre Veranschaulichung bedurfte es hingegen kaum der Theorie. Dazu passt es, dass Léon Foucault kein Physiker war und erst nach seinem Experiment eine wissenschaftliche Anstellung fand. Hagner nennt ihn einen Präzisionsbastler. Früh beschäftigte er sich mit der gerade aufgekommenen Fotografie. 1845 war er am ersten Lichtbild beteiligt, das die Sonne zeigte. In der Kontroverse, ob Licht aus kleinen Körpern oder aus Wellen bestehe, nahm er durch Experimente zur Geschwindigkeit der Lichtfortpflanzung im Wasser und in der Luft teil. Das prägte nicht nur seine Fähigkeiten aus, Apparate zu entwickeln, es schulte auch seinen Sinn für öffentlich überzeugende Demonstrationen. Er schrieb Feuilletons über Wissenschaft für das "Journal des débats", die dort neben den Fortsetzungsromanen Balzacs standen. Und er wandte seine apparativen Kenntnisse auch an: Das blendende Bogenlicht, das Richard Wagner 1850 in einer Aufführung von Meyerbeers "Le prophète" überwältigte und das er für sein "Rheingold" adaptierte, kam aus dem Hause Foucault.
Foucaults Pendel gehört also nicht nur in die Geschichte der Wissenschaft, sondern mehr noch in die ihrer Popularisierung. Hagner zeichnet nach, wie die französische Politik und Volkspädagogik sich des Experiments bemächtigten. Zeitweise galt es als kraftvoller Beleg für die der katholischen Kirche überlegene Wissenschaft. Doch sobald man die Kirche politisch zu brauchen glaubte, war die Aufklärung dann auch wieder nicht so wichtig. So kam es zu einem epochalen Hin und Her: 1851 wurde das Pendel im Panthéon vorgeführt, kurz danach wieder demontiert und woanders aufgebaut, 1902 triumphal wieder installiert, dann neuerlich abgebaut. 1995 kehrt das Pendel schlussendlich ins Panthéon zurück.
Showmaster der frühen Vorführungen war nach dem frühen Tod Foucaults lange Zeit der Astronom Camille Flammarion, ein Unternehmer, der mit der Faszination durch kosmologische Fragen handelte; seine "Astronomie populaire" von 1880 hatte eine Auflage von einhunderttausend. Dass bald auch in Kirchen, ihrer geeigneten Raumhöhen halber, Foucaults Gerät installiert wurde, befriedigte die antiklerikale Fraktion besonders. In der Sowjetunion wurde gar aus der Leningrader Isaakskathedrale ein antireligiöses Museum gemacht, mit einem 93 Meter langen Pendel. Hagner bettet die Verbreitung des Experiments in die Epoche der frühen Weltausstellungen und des Städtetourismus ein; es kamen Tischpendel und Baukästen für Schüler auf den Markt, am Ende hatten sogar die UN in New York ein besonderes Foucaultsches Pendel, in ihrem Treppenaufgang, über den Köpfen hängend. In Cattenom zierte 1985 das größte jemals installierte Pendel mit einem Draht von 165 Meter Länge den Rohbau eines Atomkraftwerks. Kurz: Überall, wo ein Fortschritt festgehalten werden sollte, war das Pendel zur Stelle.
Das Schlusskapitel behandelt den hier schon absehbaren Übergang des Pendels in die Geschichte der Kunst und Literatur. Dort verdampft der Fortschritt entweder im Stimmengewirr von Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel", der sich einen Spaß daraus macht, die Suche nach Gewissheit und festen Punkten im Universum als sektiererisch darzustellen. Oder er wird reflexiv: Gerhard Richters Installation "Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel" in der leeren Dominikanerkirche zu Münster, ebenfalls von Konflikten über Profanierung des ehedem sakralen Raums begleitet, zwingt die Betrachter, nicht nur das Pendel, sondern stets auch sich selbst sowie das eigene Gesehenwerden zu sehen.
Damit ist die Geschichte dieses Experiments einstweilen abgeschlossen. Während das Pendel sich verbreitete, änderte sich die physikalische Grundlagendiskussion. Ernst Mach etwa bestand schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts darauf, alle Aussagen über Bewegungen eines Körpers seien relativ zu Bewegungen anderer Körper, weswegen es keine absoluten Aussagen über die Erdbewegung geben könne. Es sei nur praktischer anzunehmen, sie rotiere. Henri Poincaré spitzte das zu: Es sei kein Unterschied, ob man sage "Die Erde dreht sich" oder "Es ist bequemer vorauszusetzen, dass die Erde sich dreht."
So stand es in einem Buch, das kurz nach der verspäteten Jubiläumsfeier von 1902 erschien. Sogleich bekam der Physiker falsche Freunde, die mit einem "Alles ist relativ" das alte katholische Weltbild wieder ins Recht setzen wollten und sich zu diesem ersichtlich politischen Zweck der Metaphysik eines Wissenschaftlers bedienten. Poincaré wies das als Missbrauch von Philosophie von sich. Wenn er sage, die Erde drehe sich, dann meine er, dass auf der Grundlage dieses Satzes einfach mehr erklärt werden könne als durch Leugnung der Erdrotation. Die größere Bequemlichkeit, von der er gesprochen hatte, war also nicht die eines ebenso untätigen wie ungebildeten Skeptizismus gegenüber der Wissenschaft.
Michael Hagner: "Foucaults Pendel und wir". Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter.
Buchhandlung Walther König, Köln 2021. 396 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld lernt die ganze Geschichte von Foucaults Pendel und seiner Rezeption kennen in diesem Buch des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner. Für den Kritiker ist das Werk eines der "schönsten Sachbücher" der letzten Jahre, präsentiert es ihm doch in liebevoller Gestaltung samt Illustrationen, wie der Journalist und Feinmechaniker Leon Foucault im Jahr 1851 im Pariser Pantheon darstellte, wie die Erde um die eigene Achse rotiert. Mehr noch: Steinfeld erfährt hier von Entwicklung und Problemen mit dem Experiment, liest in Hagners präzisen Ausführungen, wie die Kirche auf Galileis Lehre reagierte und in welchen Museen, Kirchen und Weltausstellungen das Pendel gezeigt wurde bis es sogar als Bausatz zu erwerben war. Auch auf Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel" aus dem Jahr 1988 geht Hagner ein, bis er schließlich bei Gerhard Richters aktueller Pendel-Installation ankommt, freut sich der Rezensent. Über die "Eleganz", mit der der Autor den Übergang von Wissenschaft und Politik in Kunst in diesem Buch schildert, kann der Kritiker nur staunen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH