Michelangelos Moses gilt seit seiner Entstehung als Symbolgestalt des historischen Papstes Julius II. und des Papsttums der Renaissance schlechthin. Mit der Darstellung des biblischen Moses verbanden sich hohe nicht nur künstlerische Ansprüche.Obwohl sich die Ausführung des Grabmals von Papst Julius II. in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli von 1505 bis 1545 hinzog, das Vorhaben mehrfach abgewandelt und der Standort verlegt wurde, gehörte eine der über vierzig zunächst vorgesehenen Skulpturen von Beginn an zum festen Bestandteil des Monuments: Die Sitzstatue des Moses, seit ihrer Vollendung Inbegriff der bildhauerischen Arbeitsweise Michelangelos, war bereits ein Schlüsselwerk des ersten Entwurfs eines Mausoleums für Alt-St. Peter in Rom und wurde in der Folgezeit sowohl für den Künstler als auch für den Auftraggeber und seine Erben, welche die Ausführung des Projektes wie die jeweils regierenden Päpste mit Argusaugen verfolgten, zum Paradigma des Vorhabens. Mit der Darstellung des biblischen Moses verbanden sich hohe religiöse, ehrgeizige politische und dynastische, vor allem aber umfassende künstlerische Ansprüche. Für Michelangelo verkörperte die Sitzstatue den Triumph über widrige Arbeitsumstände, gegen die er sich mit seinem ruhelos schöpferischen Geist in der Formfindung zu behaupten wußte. Der Moses gilt seit seiner Entstehung als Symbolgestalt des historischen Papstes, ja des Papsttums der Renaissance schlechthin. Die Statue bleibt gerade auch nach der 2002 abgeschlossenen Restaurierung das Schlüsselmotiv der Deutung des Epitaphs.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2004Da durchlebt schon wieder jemand die Versagung seines Lebensziels
Wer, bitte schön, ist die Renaissance? Franz-Joachim Verspohl hat sich über Michelangelos Moses in einen fruchtbaren Deutungsstreit mit Sigmund Freud verwickelt
Rom-Reisende sollten es auf dem Weg vom Bahnhof Termini zum Kolosseum nicht allzu eilig haben. Denn auf dieser Strecke liegt nicht nur die große Basilika Santa Maria Maggiore, die keiner übersehen kann, sondern auch die kleine Kirche San Pietro in Vincoli. Es genügt nicht, sie von außen zu sehen; man muß hineingehen.
Dafür gibt es mindestens drei gute Gründe: Unter dem Hauptaltar werden die Ketten aufbewahrt, mit denen der heilige Petrus im Kerker gefesselt war. Ein Engel hat sie ihm abgestreift und ihn aus dem Gefängnis befreit. So etwas kommt schließlich nicht jeden Tag vor, und nach diesen Ketten bekam das kleine Gotteshaus seinen Namen. Der zweite Grund: Im linken Seitenschiff befindet sich das Grab des moselländischen Kardinals Nikolaus von Kues (gestorben 1464). Die Reliefplatte zeigt den heiligen Petrus zwischen einem Engel und dem betenden Kardinal. Die gute Arbeit hat Porträtähnlichkeit und gibt eine erste Anschauung dieses bedeutenden Denkers und einer wichtigen deutsch-italienischen Kulturbeziehung.
Aber die meisten Besucher eilen vorbei an den Ketten Petri und dem deutschen Kardinal; es zieht sie zum rechten Querhausarm, zu Michelangelos Grabmal für Papst Julius II. (gestorben 1513). Ursprünglich war es in größeren Dimensionen geplant und sollte in der Peterskirche stehen. Es sollte alle bisherigen profanen und kirchlichen Grabmäler übertreffen; diese gewaltigen Pläne gaben Anlaß, die antike Peterskirche abzureißen und den jetzigen Bau zu errichten, dessen Finanzierung mit Hilfe des Ablaßgeschäfts den Protest Martin Luthers provoziert hat.
Papst Julius II. hatte Michelangelo nach Rom berufen, hatte früh schon, 1505, den Auftrag für das Grabmal gegeben, aber die Arbeiten zogen sich bis 1545 hin, zunächst wegen der Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle. Die Machtverhältnisse in Rom wechselten rasch; Michelangelo hat unter acht verschiedenen Päpsten gearbeitet, und nicht alle waren an der Ehrung ihres umstrittenen Vorgängers Julius interessiert. Michelangelo mußte seine Entwürfe verkleinern und das Grabmal in der weniger angesehenen Petri-Ketten-Kirche errichten. Bei den verschiedenen Modifikationen des Projekts behielt aber die Figur des Moses die zentrale Rolle, und sie vor allem ist es, die das Interesse des Betrachters auf sich zieht. Vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart gibt es eine ununterbrochene Reihe der Deutungen dieses "übermenschlichen, aber auch die Menschheit gewaltsam überbietenden Moses" (Goethe).
Seit Jacob Burckhardt herrschte die Ansicht vor, Moses sei in dem Augenblick dargestellt, in dem er vom Berg Sinai herabsteigt, die Gesetzestafeln im Arm, und den Tanz des Volkes um das Goldene Kalb erblickt: Er rast vor Zorn und wird im nächsten Augenblick die Gesetzestafeln zerschmettern. Henry Thode sah in diesem Gesicht eine "Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung".
Gegen diese Deutung gibt es bedenkenswerte Einwände. Der Gesichtsausdruck ist voller Wucht, Düsternis und Größe, aber er kann auch als nachdenklich und besonnen gesehen werden. Die Figur zeigt lebhafte Spannung und Energie, aber sie ist nicht in einer konkreten Handlung begriffen. Dieser Moses hält die Gesetzestafeln keineswegs so, als wolle er sie im nächsten Augenblick zerschlagen. Sie kennzeichnen ihn eher ruhig als Gesetzgeber und Volksführer. Sigmund Freud hat in seiner schönen Abhandlung "Der Moses des Michelangelo" den Haupteinwand gegen die vorherrschende dramatisierende Betrachtung vorgebracht: Dieser Moses schreitet nicht vom Berg herab, er springt nicht zornig auf, sondern er sitzt. Die beruhigende Struktur des Gesamtgrabmals bringt dieses Sitzen optisch noch stärker zur Geltung; die isolierte Betrachtung der Figur des Moses fälscht den Eindruck.
Freud schloß daraus, Michelangelos Moses sei in dem Augenblick dargestellt, in dem er den ersten Zornausbruch überwunden hat, in einer Pause der Besinnung, bevor er sich zum treulos gewordenen Volk begibt. "Dieser Moses darf nicht aufspringen wollen; er muß in hehrer Ruhe verharren können." Freud wußte, daß Zeitgenossen Michelangelos dessen Moses als nachdenklich-meditativ beschrieben haben, "in der Stellung eines sinnenden Weisen", wie einen Mann, der müde ist und voller Sorgen (Ascanio Condivi). Vasari sah in diesem mächtigen Haupt die Herrlichkeit des Herrn strahlend leuchten.
Freud beschreibt die Erfahrungen, die der nicht fachlich deformierte Betrachter des Moses macht, wenn er die Experten befragt: Jeder von ihnen sagt etwas anderes, und keiner sagt "das, was dem schlichten Bewunderer das Rätsel löst". Freud registrierte amüsiert das Chaos der Meinungen der Kunsthistoriker: Einige von ihnen beklagten die "Brutalität der Gestalt und die Tierähnlichkeit des Kopfes", ein anderer sah den königlichen Priester mit dem "Abglanz der Ewigkeit auf der Stirne". Franz-Joachim Verspohl hat sich von diesem Meinungsstreit nicht entmutigen lassen und legt eine gelehrte neue Deutung vor. Er lenkt den Blick zunächst darauf, daß es sich um das Grabmal des Papstes Julius II. handelt, eines Papstes, der sich durch soldatische Tapferkeit, durch strategische und diplomatische Tüchtigkeit auszeichnete und der aus Rom endgültig das Zentrum der Renaissancekultur gemacht hat. Dieser Moses in der Gestalt eines römischen Feldherrn erlebt nicht den Augenblick seines Triumphs, sondern bedenkt, was er nicht erreicht hat. Julius II. hat den Kirchenstaat ausgeweitet und konsolidiert.
Verspohl verschweigt, daß Luther ihn einen "Blutsäufer" genannt und Erasmus ihn wegen seiner Feldzüge aus dem Paradies ausgeschlossen hat. Der Moses des Michelangelo ist wenige Jahre nach dem Tod des Papstes entstanden; jetzt sahen dessen Siege schon weniger glänzend aus. Verspohl beschreibt die politische und kulturelle Situation Roms während der vierzigjährigen Arbeit Michelangelos; er bringt die Planänderungen in Verbindung zu den wechselnden Großwetterlagen.
Vor allem aber liest er noch einmal die alttestamentlichen Texte und weist darauf hin, daß Moses zweimal auf den Berg Sinai gestiegen ist. Sein Moses hat den zweiten Abstieg hinter sich. Er wird die Tafeln nicht noch einmal zerschmettern. Das gewaltige Tuch, das auf seinen Knien liegt, trägt er, wenn er zum Volk spricht, der Gottesglanz auf seinem Haupt würde es blenden. Jetzt ist sein Haupt unverhüllt, er redet also mit Gott. Aber woher dann die Züge von Schmerz und Sorge? Verspohl antwortet: Gott hat ihm soeben mitgeteilt, daß Moses das Volk nicht über den Jordan führen wird. Der Volksführer wird das Gelobte Land nicht betreten; er wird bald, noch in der Fremde, sterben. Mit düster-existentialistischer Rhetorik schreibt Verspohl, Moses "imaginiert seinen Todeskampf und durchlebt die Versagung seines Lebensziels".
Ganz so tragisch bleibt das neue Mosesbild nicht. Aus dem "vorweggenommenen Todeskampf" macht Verspohl schließlich eine Ahnung des nahenden Todes und formuliert versöhnlich als Gesamteindruck: "Durch die Sitzhaltung gelingt es Michelangelo, die Heftigkeit der Bewegung zu mildern und von der rechten Körperhälfte fernzuhalten. Er erfaßt auf diese Weise sowohl den heiter-gelassenen wie den von Todesahnungen und Versagungen erschütterten Moses in einer einzigen Gestalt".
Der Jenaer Kunstprofessor hat sich mit respektablen neuen Ergebnissen in einen fruchtbaren Deutungsstreit mit Sigmund Freud eingelassen, aber mit dessen stilistischer Kunst kann er sich keineswegs messen. Es ist schon schwer einzusehen, wie jemand den Todeskampf oder auch nur die Todesahnung von der "rechten Körperhälfte" fernhalten kann. Das Buch nervt durch eine Unzahl holpriger, überfüllter Sätze. Der Leser atmet auf, wenn er einmal aus dem Gestrüpp der verklausulierten Fachsprache hinaustritt auf die Lichtung eines einfachen Satzes, aber dann will es das Unglück, daß er auf eine Banalität trifft wie diese: "Julius II. wußte sehr wohl zwischen Leben und Kunst zu unterscheiden." Wer hätte das gedacht? Giuliano della Rovere war, wie alle Welt weiß, ein Finanzgenie und ein Militär, der bei der Belagerung von Ferrara, mitten im Winter, die von Geschossen bedrängten Söldner anfeuerte, die entsetzlichsten Drohungen gegen die Belagerten ausstieß und - weil er es nicht abwarten konnte, daß die Tore sich öffneten - sich in einem hölzernen Kasten durch eine kleine Bresche hinaufwinden ließ. Er war Heerführer und Mäzen, ein Realist, vor dem Machiavelli Respekt zeigte. Luther nannte ihn mit einer Mischung von Anerkennung und Fassungslosigkeit ein "gräulich gewaltig Wunderthier".
Die Studie von Franz-Joachim Verspohl bringt durch intensive Werkbetrachtung und historische Ortung erheblichen Erkenntnisgewinn, gibt aber zugleich Anlaß zu methodischen Bedenken. Da heißt es zum Beispiel: "Die Renaissance kennt zwei biblische Handlungsstränge, denen sich die Gestalt des Moses mit den Gesetzestafeln zuordnen läßt." Wer, bitte schön, ist "die Renaissance"? Die Kommentierung des Alten Testaments geriet in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts in wirbelnde Bewegung; es wimmelte an theologischen Kontroversen, seit die humanistische Philologie sich des hebräischen Textes angenommen hatte. Verspohl spricht von "der Renaissance", als habe es Valla und Reuchlin, Erasmus, die Kardinäle Ximenes und Cajetan, die italienischen und die deutschen Häretiker nie gegeben.
Gegen Ende des Buches erwähnt er einmal Pico della Mirandola, aber nicht Ficino. Pico ist 1494 gestorben. Die Jahrzehnte bis zur Fertigstellung des Julius-Denkmals waren aber, wie wir spätestens seit Delio Cantimori wissen, in rasanter intellektueller Entwicklung. Sie wird hier mit dem Substantiv "die Renaissance" verdeckt. Ähnlich pauschal gebraucht er den Ausdruck des "Nikodemismus". Zu dieser Sorglosigkeit gegenüber der "intellectual history" paßt die Nachlässigkeit in der Zitationsweise. Verspohl zitiert zum Beispiel Dante, nicht, wie üblich, nach Canto und Vers, sondern nur mit den Worten: "Alighieri 1963, S. 278". Aus dem Literaturverzeichnis erfahren wir nur, daß es sich um eine deutsche Übersetzung handelt; wer der Übersetzer war, erfahren wir nicht. In einer Studie über den Dante-Verehrer Michelangelo ist dieser Dilettantismus unbegreiflich. Es handelt sich hier nicht um eine Kleinigkeit. Das ist doch, als würde ein Theologe die Bibel mit der Wendung zitieren: Genesis S. 17.
Der Verlag hat das Buch, dem das Register fehlt, gut ausgestattet; die Zuordnung der Abbildungen zum Text könnte besser sein. Der Band scheint rasch zusammengestellt worden zu sein. Aber er regt zu frischem Sehen an. Wer ihn gelesen hat, vielleicht zusammen mit den Arbeiten von Ilse Grubrich-Sinitis über Freuds Interesse an Michelangelos Moses, kommt in der Kirche San Pietro in Vincoli auf neue Gedanken.
KURT FLASCH
Franz-Joachim Verspohl: "Michelangelo Buonarotti und Papst Julius II." Moses - Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. Kleine politische Schriften, herausgegeben von Alois Riklin, Band 12. Wallstein Verlag, Göttingen und Stämpfli Verlag, Bern 2004. 244 S., 75 Abb., geb., 27,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer, bitte schön, ist die Renaissance? Franz-Joachim Verspohl hat sich über Michelangelos Moses in einen fruchtbaren Deutungsstreit mit Sigmund Freud verwickelt
Rom-Reisende sollten es auf dem Weg vom Bahnhof Termini zum Kolosseum nicht allzu eilig haben. Denn auf dieser Strecke liegt nicht nur die große Basilika Santa Maria Maggiore, die keiner übersehen kann, sondern auch die kleine Kirche San Pietro in Vincoli. Es genügt nicht, sie von außen zu sehen; man muß hineingehen.
Dafür gibt es mindestens drei gute Gründe: Unter dem Hauptaltar werden die Ketten aufbewahrt, mit denen der heilige Petrus im Kerker gefesselt war. Ein Engel hat sie ihm abgestreift und ihn aus dem Gefängnis befreit. So etwas kommt schließlich nicht jeden Tag vor, und nach diesen Ketten bekam das kleine Gotteshaus seinen Namen. Der zweite Grund: Im linken Seitenschiff befindet sich das Grab des moselländischen Kardinals Nikolaus von Kues (gestorben 1464). Die Reliefplatte zeigt den heiligen Petrus zwischen einem Engel und dem betenden Kardinal. Die gute Arbeit hat Porträtähnlichkeit und gibt eine erste Anschauung dieses bedeutenden Denkers und einer wichtigen deutsch-italienischen Kulturbeziehung.
Aber die meisten Besucher eilen vorbei an den Ketten Petri und dem deutschen Kardinal; es zieht sie zum rechten Querhausarm, zu Michelangelos Grabmal für Papst Julius II. (gestorben 1513). Ursprünglich war es in größeren Dimensionen geplant und sollte in der Peterskirche stehen. Es sollte alle bisherigen profanen und kirchlichen Grabmäler übertreffen; diese gewaltigen Pläne gaben Anlaß, die antike Peterskirche abzureißen und den jetzigen Bau zu errichten, dessen Finanzierung mit Hilfe des Ablaßgeschäfts den Protest Martin Luthers provoziert hat.
Papst Julius II. hatte Michelangelo nach Rom berufen, hatte früh schon, 1505, den Auftrag für das Grabmal gegeben, aber die Arbeiten zogen sich bis 1545 hin, zunächst wegen der Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle. Die Machtverhältnisse in Rom wechselten rasch; Michelangelo hat unter acht verschiedenen Päpsten gearbeitet, und nicht alle waren an der Ehrung ihres umstrittenen Vorgängers Julius interessiert. Michelangelo mußte seine Entwürfe verkleinern und das Grabmal in der weniger angesehenen Petri-Ketten-Kirche errichten. Bei den verschiedenen Modifikationen des Projekts behielt aber die Figur des Moses die zentrale Rolle, und sie vor allem ist es, die das Interesse des Betrachters auf sich zieht. Vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart gibt es eine ununterbrochene Reihe der Deutungen dieses "übermenschlichen, aber auch die Menschheit gewaltsam überbietenden Moses" (Goethe).
Seit Jacob Burckhardt herrschte die Ansicht vor, Moses sei in dem Augenblick dargestellt, in dem er vom Berg Sinai herabsteigt, die Gesetzestafeln im Arm, und den Tanz des Volkes um das Goldene Kalb erblickt: Er rast vor Zorn und wird im nächsten Augenblick die Gesetzestafeln zerschmettern. Henry Thode sah in diesem Gesicht eine "Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung".
Gegen diese Deutung gibt es bedenkenswerte Einwände. Der Gesichtsausdruck ist voller Wucht, Düsternis und Größe, aber er kann auch als nachdenklich und besonnen gesehen werden. Die Figur zeigt lebhafte Spannung und Energie, aber sie ist nicht in einer konkreten Handlung begriffen. Dieser Moses hält die Gesetzestafeln keineswegs so, als wolle er sie im nächsten Augenblick zerschlagen. Sie kennzeichnen ihn eher ruhig als Gesetzgeber und Volksführer. Sigmund Freud hat in seiner schönen Abhandlung "Der Moses des Michelangelo" den Haupteinwand gegen die vorherrschende dramatisierende Betrachtung vorgebracht: Dieser Moses schreitet nicht vom Berg herab, er springt nicht zornig auf, sondern er sitzt. Die beruhigende Struktur des Gesamtgrabmals bringt dieses Sitzen optisch noch stärker zur Geltung; die isolierte Betrachtung der Figur des Moses fälscht den Eindruck.
Freud schloß daraus, Michelangelos Moses sei in dem Augenblick dargestellt, in dem er den ersten Zornausbruch überwunden hat, in einer Pause der Besinnung, bevor er sich zum treulos gewordenen Volk begibt. "Dieser Moses darf nicht aufspringen wollen; er muß in hehrer Ruhe verharren können." Freud wußte, daß Zeitgenossen Michelangelos dessen Moses als nachdenklich-meditativ beschrieben haben, "in der Stellung eines sinnenden Weisen", wie einen Mann, der müde ist und voller Sorgen (Ascanio Condivi). Vasari sah in diesem mächtigen Haupt die Herrlichkeit des Herrn strahlend leuchten.
Freud beschreibt die Erfahrungen, die der nicht fachlich deformierte Betrachter des Moses macht, wenn er die Experten befragt: Jeder von ihnen sagt etwas anderes, und keiner sagt "das, was dem schlichten Bewunderer das Rätsel löst". Freud registrierte amüsiert das Chaos der Meinungen der Kunsthistoriker: Einige von ihnen beklagten die "Brutalität der Gestalt und die Tierähnlichkeit des Kopfes", ein anderer sah den königlichen Priester mit dem "Abglanz der Ewigkeit auf der Stirne". Franz-Joachim Verspohl hat sich von diesem Meinungsstreit nicht entmutigen lassen und legt eine gelehrte neue Deutung vor. Er lenkt den Blick zunächst darauf, daß es sich um das Grabmal des Papstes Julius II. handelt, eines Papstes, der sich durch soldatische Tapferkeit, durch strategische und diplomatische Tüchtigkeit auszeichnete und der aus Rom endgültig das Zentrum der Renaissancekultur gemacht hat. Dieser Moses in der Gestalt eines römischen Feldherrn erlebt nicht den Augenblick seines Triumphs, sondern bedenkt, was er nicht erreicht hat. Julius II. hat den Kirchenstaat ausgeweitet und konsolidiert.
Verspohl verschweigt, daß Luther ihn einen "Blutsäufer" genannt und Erasmus ihn wegen seiner Feldzüge aus dem Paradies ausgeschlossen hat. Der Moses des Michelangelo ist wenige Jahre nach dem Tod des Papstes entstanden; jetzt sahen dessen Siege schon weniger glänzend aus. Verspohl beschreibt die politische und kulturelle Situation Roms während der vierzigjährigen Arbeit Michelangelos; er bringt die Planänderungen in Verbindung zu den wechselnden Großwetterlagen.
Vor allem aber liest er noch einmal die alttestamentlichen Texte und weist darauf hin, daß Moses zweimal auf den Berg Sinai gestiegen ist. Sein Moses hat den zweiten Abstieg hinter sich. Er wird die Tafeln nicht noch einmal zerschmettern. Das gewaltige Tuch, das auf seinen Knien liegt, trägt er, wenn er zum Volk spricht, der Gottesglanz auf seinem Haupt würde es blenden. Jetzt ist sein Haupt unverhüllt, er redet also mit Gott. Aber woher dann die Züge von Schmerz und Sorge? Verspohl antwortet: Gott hat ihm soeben mitgeteilt, daß Moses das Volk nicht über den Jordan führen wird. Der Volksführer wird das Gelobte Land nicht betreten; er wird bald, noch in der Fremde, sterben. Mit düster-existentialistischer Rhetorik schreibt Verspohl, Moses "imaginiert seinen Todeskampf und durchlebt die Versagung seines Lebensziels".
Ganz so tragisch bleibt das neue Mosesbild nicht. Aus dem "vorweggenommenen Todeskampf" macht Verspohl schließlich eine Ahnung des nahenden Todes und formuliert versöhnlich als Gesamteindruck: "Durch die Sitzhaltung gelingt es Michelangelo, die Heftigkeit der Bewegung zu mildern und von der rechten Körperhälfte fernzuhalten. Er erfaßt auf diese Weise sowohl den heiter-gelassenen wie den von Todesahnungen und Versagungen erschütterten Moses in einer einzigen Gestalt".
Der Jenaer Kunstprofessor hat sich mit respektablen neuen Ergebnissen in einen fruchtbaren Deutungsstreit mit Sigmund Freud eingelassen, aber mit dessen stilistischer Kunst kann er sich keineswegs messen. Es ist schon schwer einzusehen, wie jemand den Todeskampf oder auch nur die Todesahnung von der "rechten Körperhälfte" fernhalten kann. Das Buch nervt durch eine Unzahl holpriger, überfüllter Sätze. Der Leser atmet auf, wenn er einmal aus dem Gestrüpp der verklausulierten Fachsprache hinaustritt auf die Lichtung eines einfachen Satzes, aber dann will es das Unglück, daß er auf eine Banalität trifft wie diese: "Julius II. wußte sehr wohl zwischen Leben und Kunst zu unterscheiden." Wer hätte das gedacht? Giuliano della Rovere war, wie alle Welt weiß, ein Finanzgenie und ein Militär, der bei der Belagerung von Ferrara, mitten im Winter, die von Geschossen bedrängten Söldner anfeuerte, die entsetzlichsten Drohungen gegen die Belagerten ausstieß und - weil er es nicht abwarten konnte, daß die Tore sich öffneten - sich in einem hölzernen Kasten durch eine kleine Bresche hinaufwinden ließ. Er war Heerführer und Mäzen, ein Realist, vor dem Machiavelli Respekt zeigte. Luther nannte ihn mit einer Mischung von Anerkennung und Fassungslosigkeit ein "gräulich gewaltig Wunderthier".
Die Studie von Franz-Joachim Verspohl bringt durch intensive Werkbetrachtung und historische Ortung erheblichen Erkenntnisgewinn, gibt aber zugleich Anlaß zu methodischen Bedenken. Da heißt es zum Beispiel: "Die Renaissance kennt zwei biblische Handlungsstränge, denen sich die Gestalt des Moses mit den Gesetzestafeln zuordnen läßt." Wer, bitte schön, ist "die Renaissance"? Die Kommentierung des Alten Testaments geriet in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts in wirbelnde Bewegung; es wimmelte an theologischen Kontroversen, seit die humanistische Philologie sich des hebräischen Textes angenommen hatte. Verspohl spricht von "der Renaissance", als habe es Valla und Reuchlin, Erasmus, die Kardinäle Ximenes und Cajetan, die italienischen und die deutschen Häretiker nie gegeben.
Gegen Ende des Buches erwähnt er einmal Pico della Mirandola, aber nicht Ficino. Pico ist 1494 gestorben. Die Jahrzehnte bis zur Fertigstellung des Julius-Denkmals waren aber, wie wir spätestens seit Delio Cantimori wissen, in rasanter intellektueller Entwicklung. Sie wird hier mit dem Substantiv "die Renaissance" verdeckt. Ähnlich pauschal gebraucht er den Ausdruck des "Nikodemismus". Zu dieser Sorglosigkeit gegenüber der "intellectual history" paßt die Nachlässigkeit in der Zitationsweise. Verspohl zitiert zum Beispiel Dante, nicht, wie üblich, nach Canto und Vers, sondern nur mit den Worten: "Alighieri 1963, S. 278". Aus dem Literaturverzeichnis erfahren wir nur, daß es sich um eine deutsche Übersetzung handelt; wer der Übersetzer war, erfahren wir nicht. In einer Studie über den Dante-Verehrer Michelangelo ist dieser Dilettantismus unbegreiflich. Es handelt sich hier nicht um eine Kleinigkeit. Das ist doch, als würde ein Theologe die Bibel mit der Wendung zitieren: Genesis S. 17.
Der Verlag hat das Buch, dem das Register fehlt, gut ausgestattet; die Zuordnung der Abbildungen zum Text könnte besser sein. Der Band scheint rasch zusammengestellt worden zu sein. Aber er regt zu frischem Sehen an. Wer ihn gelesen hat, vielleicht zusammen mit den Arbeiten von Ilse Grubrich-Sinitis über Freuds Interesse an Michelangelos Moses, kommt in der Kirche San Pietro in Vincoli auf neue Gedanken.
KURT FLASCH
Franz-Joachim Verspohl: "Michelangelo Buonarotti und Papst Julius II." Moses - Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. Kleine politische Schriften, herausgegeben von Alois Riklin, Band 12. Wallstein Verlag, Göttingen und Stämpfli Verlag, Bern 2004. 244 S., 75 Abb., geb., 27,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zufrieden zeigt sich Rezensent Kurt Flasch mit Franz-Joachim Verspohls Studie über Michelangelos Moses auf dem Grabmal des 1545 gestorbenen Papstes Julius II., auch wenn er im Detail einiges zu bekritteln hat. Flasch berichtet über den Jahrhunderte währenden Deutungsstreit um Michelangelos Moses und hebt dabei Freuds Abhandlung "Der Moses des Michelangelo" hervor. Dass sich Verspohl von dem Meinungsstreit nicht hat entmutigen lassen, findet seine Anerkennung, zumal der Autor eine "gelehrte neue Deutung" vorlege. "Respektabel" nennt Flasch vor allem die Ergebnisse, zu denen Verspohl in seiner Auseinandersetzung mit Freuds Abhandlung kommt. Mit dessen "stilistischer Kunst" kann sich Verspohl zum Bedauern Flasch nicht messen. Im Gegenteil: Flasch klagt über die "Unzahl holpriger, überfüllter Sätze" und das "Gestrüpp der verklausulierten Fachsprache". Er äußert zudem methodische Bedenken gegen die pauschalisierenden Art, mit der der Autor Begriffe wie "Renaissance" oder "Nikodemismus" gebraucht. Zu dieser Sorglosigkeit gegenüber der "intellectual history" geselle sich eine Nachlässigkeit in der Zitationsweise, die Flasch nicht hinnehmen mag. Auch die Zuordnungen der Abbildungen zum Text hätten besser sein können. Nichtsdestoweniger bringe Verspohl Studie durch intensive Werkbetrachtung und historische Ortung "erheblichen Erkenntnisgewinn" und rege zu "frischem Sehen" an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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