Produktdetails
- Verlag: Koenemann.com
- Seitenzahl: 140
- Abmessung: 320mm
- Gewicht: 1438g
- ISBN-13: 9783829006859
- ISBN-10: 3829006853
- Artikelnr.: 25628732
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001Der wilde Maler und das älteste Gunstgewerbe der Welt
Ein Artist als Lichtmaschine: Die Aneignung Caravaggios im Zeichen von Körperblabla, Kintopp und Konsumentenfang / Von Thomas Meder
Zuletzt wanderte die Nachricht durch die Feuilletons, er sei ein Spion des französischen Königs gewesen. Gern hat man auch diesem Gerücht Glauben geschenkt. Häufte der Maler Michelangelo Merisi, dem es galt und den die Kunstgeschichte unter dem Namen seines Heimatortes Caravaggio bei Bergamo kennt, doch bereits allerlei Stigmata auf sich. Nicht nur, daß er als Maler an keiner Kunstakademie seiner Zeit eine Chance bekommen hätte. Homosexuell soll er gewesen sein, ein finsterer Charakter dazu, der im Streit nachweislich einen Mann erschlagen hat und sich mit den wohlwollendsten Auftraggeber bald unweigerlich überwarf, und was der Archive Ertrag sonst noch so ist, die in den letzten Jahren noch einmal erstaunliches Material zu diesem "wilden" Maler der frühen Neuzeit zutage treten ließen.
Aus solchem Stoff entstehen Künstlerlegenden. Im fünfzehnten Jahrhundert war der Vogelfreie noch einer, der frei von allen Diensten war. Bis zur Romantik wurde er zu einem, über den alle anderen ungestraft richten konnten. Im realitätsfernen Raum der Kunst hat sich diese Typisierung im materialistischen zwanzigsten Jahrhundert noch einmal stark geändert, zum Positiven diesmal. Es mag daher nur einen Moment lang befremden, wenn wir in Caravaggio, der von 1571 bis 1610 lebte, einen der einflußreichsten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts zur Geltung bringen wollen. Unter den Alten Meistern kommt ihm an Einfluß höchstens Rembrandt van Rijn gleich. Dessen Kunst wurde nach ihrer nationalistischen Ausdeutung durch Julius Langbehn erst spät zum Vorbild im ganz wörtlichen Sinn, für Maler wie Liebermann, Slevogt, Corinth und Nolde und - eher unterbewertet - auch für ein besonders dramatisches Licht im Film: Hörte ein Kameramann der zwanziger und dreißiger Jahre den Hinweis "Rembrandtlicht", griff er zu den expressivsten Effekten, die ihm mit elektrischem Licht möglich waren.
Dagegen vollzog sich Caravaggios Wiederentdeckung eher schleichend. Zögernd löste sich selbst die Fachöffentlichkeit von der Vorstellung des ersten großen Naturalisten der Neuzeit, der nichts anderes konnte, als nur das zu malen, was ihm selbst unter die Augen kam. Diese Auffassung findet sich bereits ausgeprägt bei den Zeitgenossen und Kommentatoren des siebzehnten Jahrhunderts. Der Niederländer Carel van Mander, der seine Informationen bereits aus zweiter Hand bezog, aber noch zu dessen Lebenszeit über Caravaggio berichtete, prägte das Bild eines aggressiven, zu Raufhändeln neigenden Lebemannes. Der Kriegsgott Mars und Minerva, die Schutzpatronin der Musen, schrieb van Mander, seien niemals gute Freunde gewesen. Der Kunst sei durch Caravaggios Nachbilden der Natur ein bemerkenswerter Dienst geleistet, wenn diesem malenden Solitär der Sinn für die wahre Schönheit nach einer höheren Idee auch völlig abgehe.
Diese Gespaltenheit ist bis weit ins zwanzigste Jahrhundert zu verfolgen: zwischen dem revolutionären Künstler, der jeden bis dahin formulierten Begriff von Naturnachahmung übertraf, und dem gleichzeitigen Argwohn, solche Mimesis könne niemals in den allerhöchsten Rang der Kunst aufsteigen. Franziska Maria Brehm hat mit großem kunsthistorischen Fleiß und Eifer den "Fall Caravaggio" über die Jahrhunderte hinweg rekonstruiert, ein Fall, der immer auch für eine Yellow-press-Historiographie interessant geblieben ist, als das prototypische Modell eines Genies zwischen Methode und Wahnsinn. Anders als im Fall Rembrandt versagte sich kaum ein Exeget den Hinweis auf den Charakter des Malers, der auf den Bildern selbst gesehen wurde. Viele vermeintliche Selbstporträts, auf großen, erzählenden Tafeln untergebracht, verwiesen auf einen jähzornigen Charakter, der durch die Quellen scheinbar so eindeutig bestätigt wird. Dazu paßt, daß auf so vielen seiner Gemälde, vor allem der klassischen Phase ab 1600, auch noch Schwerter und Dolche zu sehen sind, so daß man gerne an einen malenden Waffennarren glauben mochte. Caravaggios Version der Enthauptung des Johannes durch Salome ist nicht nur eine Attraktion der Sammlung Barberini in Rom, sie ist auch zur Ikone einer feministischen Radikalität geworden, die in der Not auch vor äußersten Mitteln nicht zurückschreckt. In solchem Licht muß die Wiederentdeckung Caravaggios im zwanzigsten Jahrhundert gesehen werden: nicht primär als der Erfinder jenes "Kellerlichtes", das die Fachwissenschaft, vom Nominalismus eines Hugo Voss bis zum Neoformalismus Andreas Praters, stets in höchstem Maß interessiert hat.
Aber das Licht, in der Malerei wie im Film, scheint immer auf etwas, und dieses "Etwas" ist für die kommunikativen und medialen Prozesse, die mit der jeweils aktuellen Kunst zu allen Zeiten verbunden waren, wesentlicher. Jeden nicht bereits kunstwissenschaftlich motivierten Galeriebesucher interessiert zunächst der Inhalt eines Bildes, ehe er darüber nachzudenken beginnt, wie dieser Inhalt zustande kam. Dies gilt selbst für abstrakte Kunst, die von Auge und Hirn quasi automatisch nach wiedererkennbaren Formen befragt wird.
Caravaggios Wiederentdeckung im zwanzigsten Jahrhundert vollzog sich im Zeichen des Körpers, und der wurde nunmehr in ungesehener Weise in der illustrierten Presse und als Pin-up, im Kino und als Cyberfigur ausgestellt. "Politik und Martyrium der Körper" nannte die Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held daher scheinbar folgerichtig ihre Relektüre dieses Malerwerkes. Das Buch von 1996 kann man als Weiterführung der "Caravaggio Studies" Walter Friedländers ansehen, jener bahnbrechenden Studie von 1955, die lange Zeit als schwer zu übertreffender Meilenstein in der Erforschung des Malers galt. Held, erste Ordinaria auf einem kunsthistorischen Lehrstuhl in Deutschland, bettet die Hauptwerke in einen soliden historischen Kontext ein und bezieht sich dabei fast ausschließlich auf Bilder und Quellen der Entstehungszeit - ein Ausloten des zeitgenössischen Horizonts, das die Kunstwissenschaft unter dem Stichwort Ikonologie kennt. Alle weiteren Exegeten Caravaggios, die ein Kunstwerk in erster Linie als Signum seiner Entstehungszeit betrachten, in diesem Fall also des Roms der Gegenreformation, eines erstarkten Jesuitentums und einer "säkulären Dissidentenkultur" (Held), werden mit dieser gelehrten Studie arbeiten. Den Untertitel des Buchs dementierend, der eine Auseinandersetzung mit den derzeit allgegenwärtigen "body politics" verspricht, sieht die Autorin aber bei Caravaggio nur "erste Konturen einer modernen, libertären Kultur". Die Folge dieser Vorsicht ist, daß der Leser im Medienzeitalter immer deutlicher spüren kann, wie den Figuren Caravaggios erneut die Körpersäfte ausgetrieben werden, wie sie zu Posen erstarren, kurz: daß gerade solche Gelehrsamkeit der Kunst weder zu sich noch zu einem gegenwärtigen Ausdruck verhelfen kann.
Und das ist die Lektion, die von der Kunstwissenschaft noch nicht verinnerlicht ist: Es gibt heute niemanden mehr, der noch auf ein traditionell "statisches" Bild schauen und dabei die Erfahrung der "laufenden" Bilder ausblenden kann. Wir alle sind, willens oder nicht, von jener Beschleunigung der Wahrnehmung geprägt, die im übrigen lange vor dem Film, nämlich mit der ersten Fahrt eines Zuges, begann. Längst hat sich das Sehen verflüssigt: Es ist neben sehendem Subjekt und betrachtetem Objekt zum dritten Element der Kunst geworden. Schaut man so auf Caravaggio, dann ist zu sehen, wie er den "fruchtbaren Moment" der Klassik stets mit Absicht verfehlt, wie er zeitlich "daneben" kadriert und damit eine ungeheure, kaum anders als filmisch zu nennende Dynamik in seine Gemälde bringt.
Wenn die Ikonologie, so wie sie Jutta Held praktiziert, für eine, vielleicht für die genuine kunstwissenschaftliche Hermeneutik steht, so bietet das Fach auch andere Lösungen an. Eine einfache Methode wendet der Berliner Kunsthistoriker Eberhard König an, der in einer 1997 vorgelegten Monographie Caravaggio lediglich neu sieht: Von den philologischen Eruditionen seiner Kolleginnen und Kollegen unbeeindruckt, tut König wenig anderes, als den visuellen Befund dieses Malerwerkes neu zu beschreiben. Dabei kommt er bisweilen zu Resultaten, die dem Betrachter durchaus die Augen öffnen - in Beobachtungen zur Lebensgröße, zu "stroboskopischen" Figurengruppen oder zur Farbe. An der frühen "Ruhe auf der Flucht" in der römischen Sammlung Doria Pamphilii wird der erfindende Ikonograph Caravaggio deutlich, der Verwandler eingeführter Pathosformeln.
Ganz freiwillig begibt sich dieser kunsthistorische Versuch auf die Spuren der "Einsichts-Methode" eines Kenners vom Schlage Roberto Longhis. Dieser Altmeister der Caravaggio-Forschung hatte dieselbe mit seinen Studien, darunter eine 1968 auch auf deutsch erschienene Monographie, auf ein wissenschaftlich diskutierbares Niveau gehoben. Die angewandte Methode bestärkte freilich jüngere italienischen Forscherinnen wie Mina Gregori und Mia Cinotti, dem einstigen Nestor in den letzten Jahrzehnten dank erheblich verbesserter Möglichkeiten einen gravierenden Zuschreibungsfehler nach dem anderen nachweisen zu können. So steht heute ein Korpus von etwa siebzig Gemälden im Raum, die dem lombardischen Maler zugeschrieben werden. Das herausragende Ereignis in der Caravaggio-Forschung der letzten zehn Jahre war denn auch konsequent die über jeden Zweifel erhabene Neuzuschreibung eines Gemäldes in Dublin, einer "Gefangennahme Christi", die man bisher mit dem Namen des Caravaggisten Gerhard von Honthorst aus Utrecht verbunden hatte.
Roberto Longhi selbst hat ein benachbartes Terrain betreten, das vom Forschungsinteresse der Kunsthistoriker noch weitgehend unbeackert ist, auch wenn in jüngster Zeit einige entsprechende Versuche verzeichnet werden können: In einem italienischen Archiv schlummert ein etwa zwanzigminütiger, nicht ganz fertiggestellter Film über die Arbeiten Caravaggios. Er datiert aus dem Jahr 1949 und ist in Zusammenarbeit Longhis mit dem Filmtheoretiker Umberto Barbaro entstanden, einem bekennenden Kommunisten und Propagandisten der großen russischen Revolutionsfilme und aus diesem Grund im "kalten" Nachkrieg nicht mehr Leiter der staatlichen Filmhochschule. Der italienische Spielfilm stand in dieser Phase der christdemokratischen Konsolidierung auf der Höhe seines Ruhmes, und zwar durch die neorealistischen Werke mit ihrer dominierenden sozialen Note. Als Thema und Garant einer genuin italienischen Kunst kam der veristische Maler dieser Konjunktur gerade recht. Träumten die visuellen Aufklärer aber noch den Traum einer Hochschule für das Volk, die ihr Zuhause im Kino hätte erhalten sollen, hat das Phantasma Caravaggio die Leinwände der Lichtspielhäuser zunehmend anderweitig erobert: bei dem britischen Experimentalfilmer Derek Jarman etwa als Mann des Jahres 1986, der Schreibmaschine und Taschenrechner zu gebrauchen weiß. Eine Kritikerin schrieb hierzu staunend: "Das Dokumentarische, das noch dem fiktivsten Filmbild innewohnt, hilft ihm, den noch nicht sublimierten Rest von Malerei zu umschreiben."
Vom Dokumentarischen wird kaum mehr die Rede sein können, sieht man auf das nächste Feld, auf dem Varianten nach Caravaggio ein Zuhause fanden: die angewandten Künste. Noch nicht annähernd hat seine Vermarktung die Züge jener unsäglichen Banalisierung und Verkitschung angenommen, die mit Michelangelos sixtinischem Fingerzeig oder Raffaels anrührend sinnierenden Engeln betrieben wird. Immerhin fällt es schwer, in der Auslage einer Buchhandlung nicht auf irgendeinen Buchdeckel zu stoßen, der von einem Motiv nach unserem Maler geziert wird. Eine besondere Note verlieh ein Buchgestalter zuletzt der deutschen Ausgabe von Mo Haydens "Vogelmann", einem ausgefallen schaurigen Kriminalroman, dessen Titelheld seinen toten Opfern einen noch lebenden Vogel in den Brustkorb einnäht, auf daß dieser das Herz so lange ersetze, bis der Mörder seinen nekrophilen Trieb gestillt hat. Auf dem Einband prangt die Teilansicht eines Engelflügels von der Hand Caravaggios. In dieser Fragmentierung wird eine zeitgenössische Tendenz zur Abstraktion vom Ganzen eines gemalten Bildes offensichtlich; sie erhellt, welche zeichenhafte Versatzstücke bekannter Malerei heute genügen, um deren kulinarischen Glanz zu evozieren. Der Maler selbst hat diese Tendenz mit zahlreichen Gewändern und Vorhängen gefördert. Seine Drapierungen erinnern - gegen den Naturalismus-Vorwurf der Zeitgenossen - oft an mittelalterliche Faltenwürfe. Der Modernist Longhi dagegen wollte im Kleid genau jenes Engels einen "knatternden Umhang" sehen, der ihm fast wie ein Fallschirm vorkam.
Ein begeisterter Hörer Longhis war Pier Paolo Pasolini. In vielen seiner Filme kann man Momente der italienischen Malereigeschichte aufblitzen sehen. Und doch war Pasolini als Regisseur zu intelligent, um solche Wiedererkennungseffekte beim Zuschauer über Gebühr zu strapazieren. Im deutlichsten Fall, dem kurzen Spielfilm "La Ricotta" von 1963, ironisiert er das Leid eines Komparsen, der als Statist der Produktion eines Historienfilms einen der beiden Schächer neben Jesu Kreuz verkörpert. Während er sich nach Anweisung seines Regisseurs "wie auf einem manieristischen Gemälde" krümmen soll, bereitet die mittelitalienische Sonne dem Leben des armen Schauspielers ein filmisch-reales Ende.
Den Effekt des Medienwechsels, bei Pasolini von der quasicaravaggesken Malerei zum Film, macht sich die Werbung andauernd zunutze. Sie baut dabei auf ähnlich krasse Effekte. Ein Beispiel bot ein Münchner Verlag schon in den achtziger Jahren, als er die Titelgestaltung einer literarischen Reihe ausschließlich mit Ausschnitten aus Caravaggios Gemälden bestritt. So erhielten die modernen Klassiker Italiens als visuellen Ausweis die versammelten Grausamkeiten eines mit deftigen Details gewiß nicht kleinlichen, aber vierhundert Jahre vergangenen Malers.
Eine historisch kontingente Sammlungspolitik wollte es, daß die beiden deftigsten Körperinszenierungen Caravaggios in Deutschland hängen, genauer im Raum der alten und neuen Hauptstadt Berlin. Auf der Tafel im Schloß Sanssouci zu Potsdam ist die Ungläubigkeit des Jüngers Thomas dargestellt, der seinen eigenen Augen nicht trauen will, als er den auferstandenen Heiland trifft. Mit ungeheuer lakonischer Geste zerrt Christus mit der Rechten die eigene Kleidung beiseite, um mit der Linken den Finger des Jüngers in seine Seitenwunde einzuführen. Zwei weitere Jünger stehen stumm glotzend daneben. Hier führt der Maler das Maximum dessen vor, was visuelle Kunst, was Bilder zu leisten vermögen: ein dramatisches Geschehen so augenfällig zu machen, daß es auch der einfältigste Tor - im Zweifelsfall: der vor dem Bild stehende - sofort versteht, gleichwohl aber doch niemals ins Geschehen eingreifen, nicht unmittelbar agieren kann.
Zum wesentlich beliebteren Motiv wurde das jüngst auf die Berliner Museumsinsel zurückgekehrte Gemälde: die Darstellung des "irdischen Amor" in Gestalt eines kecken Knaben, dem im Atelier offensichtlich schnell ein paar Flügel angeheftet wurden. Der Grund für den dauerhaften Erfolg dieses Bildes ist weniger der ausgestellte sexuelle Körper als vielmehr die offene Haltung, die jedem unbefangenen Betrachter ein Gratisangebot von Sehen und Gesehenwerden offenbart. So blicken uns auch die verschiedenen Anverwandlungen an, die diese Pose nach Caravaggio zuletzt erlebt hat: abgeklärt, nicht aufklärend. "Zeigt mir einen Engel, und ich male euch einen", hatte Courbet gesagt. Hundertzwanzig Jahre später, zur Jahrtausendwende, kamen die Engel noch einmal massiv zurück, in Form technisch fabrizierter Bilder. Und sie verfügen neuerdings sogar über ein Geschlecht.
Letzteres anzuerkennen, hat sich auch ein Teil der Kunstwissenschaft bemüht, wie Andreas Sternweiler in seiner Studie zur Homosexualität in der italienischen Kunst von Donatello bis Caravaggio beweist. Doch die kunstwissenschaftlichen Schleusen zu den profanisierten Bildern sind noch nicht sehr weit geöffnet. Der Reformstau, mit der historischen Orientierung des Faches immer latent angelegt, hat hier zuletzt ein Dilemma entstehen lassen: die alten Gegenstände des Faches mit neuen Theorien zu konfrontieren oder sich mit dem vorhandenen methodischen Instrumentarium auf neue Felder zu wagen. Eine Zwischenlösung versucht die Niederländerin Mieke Bal in ihrem Buch über Zitationen Caravaggios in der gegenwärtigen Kunst. Im Gegensatz zu den wenigen, aber überzeugenden Bildbeispielen mäandern Bals Texte im weiten Feld einer poststrukturalistischen Semiose. An keinem Punkt lassen sie den Gedanken aufkommen, daß irgendwelche Deutungshoheiten - und kämen sie aus den bildenden Künsten selbst - angesichts der derzeitigen medialen Entwicklungen noch ein Vorrecht beanspruchen könnten.
Einen anderen Weg schlägt das Autorenteam Leo Bersani und Ulysse Dutoit ein. Doch ihre Studie, die Caravaggios Geheimnisse mit Hilfe der Psychoanalyse entschlüsseln will, krankt an einem entscheidenden, immerhin strukturell angelegten Dilemma: Was vorgebildete Analysten an Psychosen und Deformierungen auf vierhundert Jahre alten Gemälden zu sehen vermögen, teilt sich längst nicht jedem Durchschnittsbetrachter mit. Die Lektüre von Caravaggios spätem David-und-Goliath-Bild, mit dem die beiden Engländer ihr Buch beschließen, bestärkt diesen Eindruck. Man mag das Argument mitvollziehen, das vom Ereignis aus dem Alten Testament über die Involvierung des Malers, der in den abgeschlagenen Goliathskopf sein eigenes Porträt eingefügt hat, bis zur Kastrationsangst des Betrachters führt. Man muß es aber nicht. Und das wiederum liegt nicht an der fehlenden Subtilität des Künstlers, sondern an den beschränkten Versprechungen des Mediums Malerei angesichts der Erzählungen der technischen Moderne.
Der Autor unterrichtet Kunstgeschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Artist als Lichtmaschine: Die Aneignung Caravaggios im Zeichen von Körperblabla, Kintopp und Konsumentenfang / Von Thomas Meder
Zuletzt wanderte die Nachricht durch die Feuilletons, er sei ein Spion des französischen Königs gewesen. Gern hat man auch diesem Gerücht Glauben geschenkt. Häufte der Maler Michelangelo Merisi, dem es galt und den die Kunstgeschichte unter dem Namen seines Heimatortes Caravaggio bei Bergamo kennt, doch bereits allerlei Stigmata auf sich. Nicht nur, daß er als Maler an keiner Kunstakademie seiner Zeit eine Chance bekommen hätte. Homosexuell soll er gewesen sein, ein finsterer Charakter dazu, der im Streit nachweislich einen Mann erschlagen hat und sich mit den wohlwollendsten Auftraggeber bald unweigerlich überwarf, und was der Archive Ertrag sonst noch so ist, die in den letzten Jahren noch einmal erstaunliches Material zu diesem "wilden" Maler der frühen Neuzeit zutage treten ließen.
Aus solchem Stoff entstehen Künstlerlegenden. Im fünfzehnten Jahrhundert war der Vogelfreie noch einer, der frei von allen Diensten war. Bis zur Romantik wurde er zu einem, über den alle anderen ungestraft richten konnten. Im realitätsfernen Raum der Kunst hat sich diese Typisierung im materialistischen zwanzigsten Jahrhundert noch einmal stark geändert, zum Positiven diesmal. Es mag daher nur einen Moment lang befremden, wenn wir in Caravaggio, der von 1571 bis 1610 lebte, einen der einflußreichsten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts zur Geltung bringen wollen. Unter den Alten Meistern kommt ihm an Einfluß höchstens Rembrandt van Rijn gleich. Dessen Kunst wurde nach ihrer nationalistischen Ausdeutung durch Julius Langbehn erst spät zum Vorbild im ganz wörtlichen Sinn, für Maler wie Liebermann, Slevogt, Corinth und Nolde und - eher unterbewertet - auch für ein besonders dramatisches Licht im Film: Hörte ein Kameramann der zwanziger und dreißiger Jahre den Hinweis "Rembrandtlicht", griff er zu den expressivsten Effekten, die ihm mit elektrischem Licht möglich waren.
Dagegen vollzog sich Caravaggios Wiederentdeckung eher schleichend. Zögernd löste sich selbst die Fachöffentlichkeit von der Vorstellung des ersten großen Naturalisten der Neuzeit, der nichts anderes konnte, als nur das zu malen, was ihm selbst unter die Augen kam. Diese Auffassung findet sich bereits ausgeprägt bei den Zeitgenossen und Kommentatoren des siebzehnten Jahrhunderts. Der Niederländer Carel van Mander, der seine Informationen bereits aus zweiter Hand bezog, aber noch zu dessen Lebenszeit über Caravaggio berichtete, prägte das Bild eines aggressiven, zu Raufhändeln neigenden Lebemannes. Der Kriegsgott Mars und Minerva, die Schutzpatronin der Musen, schrieb van Mander, seien niemals gute Freunde gewesen. Der Kunst sei durch Caravaggios Nachbilden der Natur ein bemerkenswerter Dienst geleistet, wenn diesem malenden Solitär der Sinn für die wahre Schönheit nach einer höheren Idee auch völlig abgehe.
Diese Gespaltenheit ist bis weit ins zwanzigste Jahrhundert zu verfolgen: zwischen dem revolutionären Künstler, der jeden bis dahin formulierten Begriff von Naturnachahmung übertraf, und dem gleichzeitigen Argwohn, solche Mimesis könne niemals in den allerhöchsten Rang der Kunst aufsteigen. Franziska Maria Brehm hat mit großem kunsthistorischen Fleiß und Eifer den "Fall Caravaggio" über die Jahrhunderte hinweg rekonstruiert, ein Fall, der immer auch für eine Yellow-press-Historiographie interessant geblieben ist, als das prototypische Modell eines Genies zwischen Methode und Wahnsinn. Anders als im Fall Rembrandt versagte sich kaum ein Exeget den Hinweis auf den Charakter des Malers, der auf den Bildern selbst gesehen wurde. Viele vermeintliche Selbstporträts, auf großen, erzählenden Tafeln untergebracht, verwiesen auf einen jähzornigen Charakter, der durch die Quellen scheinbar so eindeutig bestätigt wird. Dazu paßt, daß auf so vielen seiner Gemälde, vor allem der klassischen Phase ab 1600, auch noch Schwerter und Dolche zu sehen sind, so daß man gerne an einen malenden Waffennarren glauben mochte. Caravaggios Version der Enthauptung des Johannes durch Salome ist nicht nur eine Attraktion der Sammlung Barberini in Rom, sie ist auch zur Ikone einer feministischen Radikalität geworden, die in der Not auch vor äußersten Mitteln nicht zurückschreckt. In solchem Licht muß die Wiederentdeckung Caravaggios im zwanzigsten Jahrhundert gesehen werden: nicht primär als der Erfinder jenes "Kellerlichtes", das die Fachwissenschaft, vom Nominalismus eines Hugo Voss bis zum Neoformalismus Andreas Praters, stets in höchstem Maß interessiert hat.
Aber das Licht, in der Malerei wie im Film, scheint immer auf etwas, und dieses "Etwas" ist für die kommunikativen und medialen Prozesse, die mit der jeweils aktuellen Kunst zu allen Zeiten verbunden waren, wesentlicher. Jeden nicht bereits kunstwissenschaftlich motivierten Galeriebesucher interessiert zunächst der Inhalt eines Bildes, ehe er darüber nachzudenken beginnt, wie dieser Inhalt zustande kam. Dies gilt selbst für abstrakte Kunst, die von Auge und Hirn quasi automatisch nach wiedererkennbaren Formen befragt wird.
Caravaggios Wiederentdeckung im zwanzigsten Jahrhundert vollzog sich im Zeichen des Körpers, und der wurde nunmehr in ungesehener Weise in der illustrierten Presse und als Pin-up, im Kino und als Cyberfigur ausgestellt. "Politik und Martyrium der Körper" nannte die Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held daher scheinbar folgerichtig ihre Relektüre dieses Malerwerkes. Das Buch von 1996 kann man als Weiterführung der "Caravaggio Studies" Walter Friedländers ansehen, jener bahnbrechenden Studie von 1955, die lange Zeit als schwer zu übertreffender Meilenstein in der Erforschung des Malers galt. Held, erste Ordinaria auf einem kunsthistorischen Lehrstuhl in Deutschland, bettet die Hauptwerke in einen soliden historischen Kontext ein und bezieht sich dabei fast ausschließlich auf Bilder und Quellen der Entstehungszeit - ein Ausloten des zeitgenössischen Horizonts, das die Kunstwissenschaft unter dem Stichwort Ikonologie kennt. Alle weiteren Exegeten Caravaggios, die ein Kunstwerk in erster Linie als Signum seiner Entstehungszeit betrachten, in diesem Fall also des Roms der Gegenreformation, eines erstarkten Jesuitentums und einer "säkulären Dissidentenkultur" (Held), werden mit dieser gelehrten Studie arbeiten. Den Untertitel des Buchs dementierend, der eine Auseinandersetzung mit den derzeit allgegenwärtigen "body politics" verspricht, sieht die Autorin aber bei Caravaggio nur "erste Konturen einer modernen, libertären Kultur". Die Folge dieser Vorsicht ist, daß der Leser im Medienzeitalter immer deutlicher spüren kann, wie den Figuren Caravaggios erneut die Körpersäfte ausgetrieben werden, wie sie zu Posen erstarren, kurz: daß gerade solche Gelehrsamkeit der Kunst weder zu sich noch zu einem gegenwärtigen Ausdruck verhelfen kann.
Und das ist die Lektion, die von der Kunstwissenschaft noch nicht verinnerlicht ist: Es gibt heute niemanden mehr, der noch auf ein traditionell "statisches" Bild schauen und dabei die Erfahrung der "laufenden" Bilder ausblenden kann. Wir alle sind, willens oder nicht, von jener Beschleunigung der Wahrnehmung geprägt, die im übrigen lange vor dem Film, nämlich mit der ersten Fahrt eines Zuges, begann. Längst hat sich das Sehen verflüssigt: Es ist neben sehendem Subjekt und betrachtetem Objekt zum dritten Element der Kunst geworden. Schaut man so auf Caravaggio, dann ist zu sehen, wie er den "fruchtbaren Moment" der Klassik stets mit Absicht verfehlt, wie er zeitlich "daneben" kadriert und damit eine ungeheure, kaum anders als filmisch zu nennende Dynamik in seine Gemälde bringt.
Wenn die Ikonologie, so wie sie Jutta Held praktiziert, für eine, vielleicht für die genuine kunstwissenschaftliche Hermeneutik steht, so bietet das Fach auch andere Lösungen an. Eine einfache Methode wendet der Berliner Kunsthistoriker Eberhard König an, der in einer 1997 vorgelegten Monographie Caravaggio lediglich neu sieht: Von den philologischen Eruditionen seiner Kolleginnen und Kollegen unbeeindruckt, tut König wenig anderes, als den visuellen Befund dieses Malerwerkes neu zu beschreiben. Dabei kommt er bisweilen zu Resultaten, die dem Betrachter durchaus die Augen öffnen - in Beobachtungen zur Lebensgröße, zu "stroboskopischen" Figurengruppen oder zur Farbe. An der frühen "Ruhe auf der Flucht" in der römischen Sammlung Doria Pamphilii wird der erfindende Ikonograph Caravaggio deutlich, der Verwandler eingeführter Pathosformeln.
Ganz freiwillig begibt sich dieser kunsthistorische Versuch auf die Spuren der "Einsichts-Methode" eines Kenners vom Schlage Roberto Longhis. Dieser Altmeister der Caravaggio-Forschung hatte dieselbe mit seinen Studien, darunter eine 1968 auch auf deutsch erschienene Monographie, auf ein wissenschaftlich diskutierbares Niveau gehoben. Die angewandte Methode bestärkte freilich jüngere italienischen Forscherinnen wie Mina Gregori und Mia Cinotti, dem einstigen Nestor in den letzten Jahrzehnten dank erheblich verbesserter Möglichkeiten einen gravierenden Zuschreibungsfehler nach dem anderen nachweisen zu können. So steht heute ein Korpus von etwa siebzig Gemälden im Raum, die dem lombardischen Maler zugeschrieben werden. Das herausragende Ereignis in der Caravaggio-Forschung der letzten zehn Jahre war denn auch konsequent die über jeden Zweifel erhabene Neuzuschreibung eines Gemäldes in Dublin, einer "Gefangennahme Christi", die man bisher mit dem Namen des Caravaggisten Gerhard von Honthorst aus Utrecht verbunden hatte.
Roberto Longhi selbst hat ein benachbartes Terrain betreten, das vom Forschungsinteresse der Kunsthistoriker noch weitgehend unbeackert ist, auch wenn in jüngster Zeit einige entsprechende Versuche verzeichnet werden können: In einem italienischen Archiv schlummert ein etwa zwanzigminütiger, nicht ganz fertiggestellter Film über die Arbeiten Caravaggios. Er datiert aus dem Jahr 1949 und ist in Zusammenarbeit Longhis mit dem Filmtheoretiker Umberto Barbaro entstanden, einem bekennenden Kommunisten und Propagandisten der großen russischen Revolutionsfilme und aus diesem Grund im "kalten" Nachkrieg nicht mehr Leiter der staatlichen Filmhochschule. Der italienische Spielfilm stand in dieser Phase der christdemokratischen Konsolidierung auf der Höhe seines Ruhmes, und zwar durch die neorealistischen Werke mit ihrer dominierenden sozialen Note. Als Thema und Garant einer genuin italienischen Kunst kam der veristische Maler dieser Konjunktur gerade recht. Träumten die visuellen Aufklärer aber noch den Traum einer Hochschule für das Volk, die ihr Zuhause im Kino hätte erhalten sollen, hat das Phantasma Caravaggio die Leinwände der Lichtspielhäuser zunehmend anderweitig erobert: bei dem britischen Experimentalfilmer Derek Jarman etwa als Mann des Jahres 1986, der Schreibmaschine und Taschenrechner zu gebrauchen weiß. Eine Kritikerin schrieb hierzu staunend: "Das Dokumentarische, das noch dem fiktivsten Filmbild innewohnt, hilft ihm, den noch nicht sublimierten Rest von Malerei zu umschreiben."
Vom Dokumentarischen wird kaum mehr die Rede sein können, sieht man auf das nächste Feld, auf dem Varianten nach Caravaggio ein Zuhause fanden: die angewandten Künste. Noch nicht annähernd hat seine Vermarktung die Züge jener unsäglichen Banalisierung und Verkitschung angenommen, die mit Michelangelos sixtinischem Fingerzeig oder Raffaels anrührend sinnierenden Engeln betrieben wird. Immerhin fällt es schwer, in der Auslage einer Buchhandlung nicht auf irgendeinen Buchdeckel zu stoßen, der von einem Motiv nach unserem Maler geziert wird. Eine besondere Note verlieh ein Buchgestalter zuletzt der deutschen Ausgabe von Mo Haydens "Vogelmann", einem ausgefallen schaurigen Kriminalroman, dessen Titelheld seinen toten Opfern einen noch lebenden Vogel in den Brustkorb einnäht, auf daß dieser das Herz so lange ersetze, bis der Mörder seinen nekrophilen Trieb gestillt hat. Auf dem Einband prangt die Teilansicht eines Engelflügels von der Hand Caravaggios. In dieser Fragmentierung wird eine zeitgenössische Tendenz zur Abstraktion vom Ganzen eines gemalten Bildes offensichtlich; sie erhellt, welche zeichenhafte Versatzstücke bekannter Malerei heute genügen, um deren kulinarischen Glanz zu evozieren. Der Maler selbst hat diese Tendenz mit zahlreichen Gewändern und Vorhängen gefördert. Seine Drapierungen erinnern - gegen den Naturalismus-Vorwurf der Zeitgenossen - oft an mittelalterliche Faltenwürfe. Der Modernist Longhi dagegen wollte im Kleid genau jenes Engels einen "knatternden Umhang" sehen, der ihm fast wie ein Fallschirm vorkam.
Ein begeisterter Hörer Longhis war Pier Paolo Pasolini. In vielen seiner Filme kann man Momente der italienischen Malereigeschichte aufblitzen sehen. Und doch war Pasolini als Regisseur zu intelligent, um solche Wiedererkennungseffekte beim Zuschauer über Gebühr zu strapazieren. Im deutlichsten Fall, dem kurzen Spielfilm "La Ricotta" von 1963, ironisiert er das Leid eines Komparsen, der als Statist der Produktion eines Historienfilms einen der beiden Schächer neben Jesu Kreuz verkörpert. Während er sich nach Anweisung seines Regisseurs "wie auf einem manieristischen Gemälde" krümmen soll, bereitet die mittelitalienische Sonne dem Leben des armen Schauspielers ein filmisch-reales Ende.
Den Effekt des Medienwechsels, bei Pasolini von der quasicaravaggesken Malerei zum Film, macht sich die Werbung andauernd zunutze. Sie baut dabei auf ähnlich krasse Effekte. Ein Beispiel bot ein Münchner Verlag schon in den achtziger Jahren, als er die Titelgestaltung einer literarischen Reihe ausschließlich mit Ausschnitten aus Caravaggios Gemälden bestritt. So erhielten die modernen Klassiker Italiens als visuellen Ausweis die versammelten Grausamkeiten eines mit deftigen Details gewiß nicht kleinlichen, aber vierhundert Jahre vergangenen Malers.
Eine historisch kontingente Sammlungspolitik wollte es, daß die beiden deftigsten Körperinszenierungen Caravaggios in Deutschland hängen, genauer im Raum der alten und neuen Hauptstadt Berlin. Auf der Tafel im Schloß Sanssouci zu Potsdam ist die Ungläubigkeit des Jüngers Thomas dargestellt, der seinen eigenen Augen nicht trauen will, als er den auferstandenen Heiland trifft. Mit ungeheuer lakonischer Geste zerrt Christus mit der Rechten die eigene Kleidung beiseite, um mit der Linken den Finger des Jüngers in seine Seitenwunde einzuführen. Zwei weitere Jünger stehen stumm glotzend daneben. Hier führt der Maler das Maximum dessen vor, was visuelle Kunst, was Bilder zu leisten vermögen: ein dramatisches Geschehen so augenfällig zu machen, daß es auch der einfältigste Tor - im Zweifelsfall: der vor dem Bild stehende - sofort versteht, gleichwohl aber doch niemals ins Geschehen eingreifen, nicht unmittelbar agieren kann.
Zum wesentlich beliebteren Motiv wurde das jüngst auf die Berliner Museumsinsel zurückgekehrte Gemälde: die Darstellung des "irdischen Amor" in Gestalt eines kecken Knaben, dem im Atelier offensichtlich schnell ein paar Flügel angeheftet wurden. Der Grund für den dauerhaften Erfolg dieses Bildes ist weniger der ausgestellte sexuelle Körper als vielmehr die offene Haltung, die jedem unbefangenen Betrachter ein Gratisangebot von Sehen und Gesehenwerden offenbart. So blicken uns auch die verschiedenen Anverwandlungen an, die diese Pose nach Caravaggio zuletzt erlebt hat: abgeklärt, nicht aufklärend. "Zeigt mir einen Engel, und ich male euch einen", hatte Courbet gesagt. Hundertzwanzig Jahre später, zur Jahrtausendwende, kamen die Engel noch einmal massiv zurück, in Form technisch fabrizierter Bilder. Und sie verfügen neuerdings sogar über ein Geschlecht.
Letzteres anzuerkennen, hat sich auch ein Teil der Kunstwissenschaft bemüht, wie Andreas Sternweiler in seiner Studie zur Homosexualität in der italienischen Kunst von Donatello bis Caravaggio beweist. Doch die kunstwissenschaftlichen Schleusen zu den profanisierten Bildern sind noch nicht sehr weit geöffnet. Der Reformstau, mit der historischen Orientierung des Faches immer latent angelegt, hat hier zuletzt ein Dilemma entstehen lassen: die alten Gegenstände des Faches mit neuen Theorien zu konfrontieren oder sich mit dem vorhandenen methodischen Instrumentarium auf neue Felder zu wagen. Eine Zwischenlösung versucht die Niederländerin Mieke Bal in ihrem Buch über Zitationen Caravaggios in der gegenwärtigen Kunst. Im Gegensatz zu den wenigen, aber überzeugenden Bildbeispielen mäandern Bals Texte im weiten Feld einer poststrukturalistischen Semiose. An keinem Punkt lassen sie den Gedanken aufkommen, daß irgendwelche Deutungshoheiten - und kämen sie aus den bildenden Künsten selbst - angesichts der derzeitigen medialen Entwicklungen noch ein Vorrecht beanspruchen könnten.
Einen anderen Weg schlägt das Autorenteam Leo Bersani und Ulysse Dutoit ein. Doch ihre Studie, die Caravaggios Geheimnisse mit Hilfe der Psychoanalyse entschlüsseln will, krankt an einem entscheidenden, immerhin strukturell angelegten Dilemma: Was vorgebildete Analysten an Psychosen und Deformierungen auf vierhundert Jahre alten Gemälden zu sehen vermögen, teilt sich längst nicht jedem Durchschnittsbetrachter mit. Die Lektüre von Caravaggios spätem David-und-Goliath-Bild, mit dem die beiden Engländer ihr Buch beschließen, bestärkt diesen Eindruck. Man mag das Argument mitvollziehen, das vom Ereignis aus dem Alten Testament über die Involvierung des Malers, der in den abgeschlagenen Goliathskopf sein eigenes Porträt eingefügt hat, bis zur Kastrationsangst des Betrachters führt. Man muß es aber nicht. Und das wiederum liegt nicht an der fehlenden Subtilität des Künstlers, sondern an den beschränkten Versprechungen des Mediums Malerei angesichts der Erzählungen der technischen Moderne.
Der Autor unterrichtet Kunstgeschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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