Mit ikonisch gewordenen Werken wie dem David, der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle oder Bauten wie der Kuppel des Petersdoms gehört Michelangelos Schaffen zweifelsohne zum kulturellen Menschheitserbe. Schon zu Lebzeiten wurde 'Il divino', dem Göttlichen, ein übermenschlicher Status zugesprochen, sein unermessliches uvre aus Skulptur, Architektur und Zeichnung bannt Betrachter wie Forschung bis heute.In seiner monumentalen Gesamtdarstellung fasst Horst Bredekamp das Genie Michelangelo auf beispiellose Weise. Er nimmt dessen Leben vom Werk aus in den Blick und begreift das uvre als Stimulus der Vita. Ebenso empfindsam wie präzise untersucht Bredekamp jedes einzelne Kunstwerk von der Hand Michelangelos im zeitgeschichtlichen und kunsthistorischen Kontext sowie innerhalb der Entwicklung des höchst gefragten Künstlers. Bredekamp präsentiert uns einen von seinen Werken getriebenen, fortwährend vertragsbrüchig und säumig bleibenden Meister, der sich gänzlich dem künstlerischen Imperativ eines jeden Werks verschreibt und sich vom zu bearbeitenden Material selbst leiten lässt. Indem seine Kunstwerke sich dem Prinzip der Vollendung verweigerten, sprengte Michelangelo alle Konventionen. Doch nur so ließ sich seine bedingungslose Weltliebe ausdrücken, seine Pan-Empathie, die ihn zum loyalen Freund und zur Zumutung für seine Umwelt werden ließ. Und nur so gelang es Michelangelo, die existentiellen Fragen nach Sinn, Sinnlichkeit und politischem Schicksal seiner Epoche in der Form der Kunst auf eine Weise zu verhandeln, die bis heute erschüttert.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Rezensent Arno Widmann gehört Horst Bredekamps "Michelangelo" zu den schönsten Büchern des Jahres. Das liegt laut Widmann am Thema selbst, aber auch an Bredekamps Zugang, der den Leser das Werk Michelangelos wie bei einem Museumsbesuch erleben lässt, bei dem der Audioguide den Betrachter auf die verborgenen Details hinweist. Dass Abbildung und Text hier auf einer Seite Platz finden, vergrößert die Freude und den Sog des Schauens und Lernens für Widmann. So betrachtet Bredekamp als "reflektierter Enthusiast" und mit ihm der verblüffte Leser Davids Hintern, Michelangelos "Treppenmadonna" und das Sexualleben des Künstlers, staunt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2021Grenzenlos empfänglich
Hier wird gerungen und bezwungen: Horst Bredekamp widmet Michelangelos Leben und Werk eine gewichtige und zudem exzellent bebilderte Darstellung.
Die früheste sicher datierte Darstellung Michelangelos zeigt ihn als Bezwinger des Schicksals. Die Rede ist von einem Holzschnitt in Sigismondo Fantis "Triompho di Fortuna". Dieses 1527 publizierte Orakel- oder Losbuch sollte als eine Art anspruchsvolles Gesellschaftsspiel ermöglichen, mithilfe verschiedener "Spielpläne" Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Unter den berühmten Männern, die an den Seitenrändern der Spielpläne neben den verschiedenen Kreisen des Schicksals dargestellt sind und die offenbar bereits Triumphe über das Schicksal gefeiert haben, finden sich auch Maler, Bildhauer und Architekten. Aber nur Michelangelo ist dort in voller Aktion gezeigt: Mit entblößtem Oberkörper kniet er auf einem Marmorblock. Unter seinen Schlägen entsteht die Liegefigur der "Morgenröte" für die Neue Sakristei in Florenz.
Für die Skulpturen der Medici-Grabkapelle wurde erst ab 1521 der Marmor geliefert. Der Holzschnitt scheint also unter dem Eindruck von Michelangelos aktueller Arbeit entstanden. Andererseits stilisiert bereits diese erste Darstellung den Künstler und will bestimmte Vorstellungen vermitteln: Hier arbeitet ein neuer Pygmalion, dessen Liebe und Hingabe seine Schöpfungen quasi belebt. Und zugleich führt hier ein Mann vor, wie man eine Frau unter Einsatz aller Kraft im eigenen Sinne formt. Ähnlich fordert um dieselbe Zeit Niccolò Machiavelli in ungebremster Misogynie, man müsse Fortuna an den Haaren packen, niederzwingen und schlagen, um Herr seines Schicksals zu werden.
Die Herausforderungen jeder Auseinandersetzung mit Michelangelo zeichnen sich bereits in der Ambivalenz und Mythisierung dieser ersten Darstellung des Künstlers ab. Und sie stellen sich auch noch für die jüngste Monografie Horst Bredekamps. Mit dem über achthundert Seiten starken, reich bebilderten und wunderbar produzierten Buch scheint der Autor in ähnlich heroischer Kraftanstrengung nun den Künstler seinerseits bezwingen zu wollen. Untersucht wird der "ganze Michelangelo", sein Leben und alle Werke, von den Zeichnungen über die Gemälde und Fresken, Skulpturen und Architekturen bis hin zu den Gedichten. Als Leitthemen identifiziert Bredekamp einleitend: "Anmaßung und Demut" in den künstlerischen Projekten; "Geselligkeit", also soziale Netzwerke und Freundschaften des oft als Einzelgänger charakterisierten Künstlers; "Leiblichkeit" und "proteischer Eros", womit Michelangelos Liebe und "schier maßlose[s]" Begehren als treibende Kräfte benannt werden. Dagegen ist über seine tatsächliche Sexualität kaum Sicheres zu sagen. Alles überfängt Michelangelos "Panempathie", seine "Empfänglichkeit, die nicht einzuhegen ist" und die mit einer grenzenlosen Unbedingtheit des Denkens und Wollens einhergeht.
Die folgenden Analysen Bredekamps evozieren ein Bild des Künstlers im Stil des "Triompho di Fortuna". Im dauernden Ringen mit übermenschlichen Aufgaben und Widerständen werden ganz neue Werklösungen erzwungen. Für diese soll Michelangelo die wichtigen Entscheidungen zunehmend selbst getroffen haben: Er bestimmte Aufstellungsort und Thema des Grabmals für Julius II., er verantwortete das Gesamtkonzept und "'schwarze' Geschichtsbild" der Sixtinischen Decke, er konnte durch die "entwaffnende Qualität" der Skulpturen der Neuen Sakristei eine Darstellung von Herrschaft entwerfen, die "in der Negation ihrer selbst ihre höchste, des Nachruhms würdige Bestimmung findet", und so fort.
Die Schrecklichkeit (terribilità) seiner Kunst und das melancholische Leiden an der Welt bleiben die Pole, zwischen denen sich der Mensch Michelangelo bewegt. Dabei sichert ihm sein beständiges Jammern über "die Zeiten, die unserer Kunst sehr entgegenstehen", zwar einen Spitzenplatz in der Geschichte der Künstlerklage. Von außen betrachtet meinte es das Schicksal aber mehr als gut mit ihm: ein langes Leben (von 1475 bis 1564), großer Wohlstand, spektakuläre Aufträge in Fülle, ungeahnte Entscheidungsfreiheiten, mit gut dreißig Jahren der berühmteste Künstler Italiens und bald ganz Europas, mitverantwortlich für ein neues Ansehen von Kunst und Künstlern überhaupt.
Michelangelos kometenhafter Ruhm führte schon zu Lebzeiten zu gleich vier Biografien. Auf die Niederschrift der beiden umfangreichsten von Giorgio Vasari (1550, überarbeitet 1568) und Ascanio Condivi (1553) nahm er in unterschiedlichem Maße selbst Einfluss. Das Ergebnis sind Darstellungen, die seine Vita im Rückblick als konsequente Entwicklung schildern und gerade daraus bis heute ihre Überzeugungskraft schöpfen. Würden diese Texte nicht als Hauptquellen, sondern bereits als Zeugnisse der Rezeption verstanden, ließe sich etwa kaum darüber berichten, dass der junge Michelangelo in Florenz immer frühzeitig an den Mittagstisch seines Patrons, Lorenzo de' Medici, geeilt sei und deshalb in dessen Nähe sitzen durfte.
Bredekamp schreibt das Leben eines Künstlers, der bei aller Panempathie und proteischem Eros von Jugend an konsequent seine einmal gefassten Leitideen weiterentwickelte. Es gibt erstaunlich wenige Unsicherheiten, Zufälle, Inkonsistenzen, vergebliches Suchen und Neuansätze. Am unbestreitbaren Scheitern sind entweder die gigantischen Dimensionen der Projekte oder aber die anderen schuld. Die von Bredekamp entwickelte Konsequenz des künstlerischen Lebenswegs lässt über weite Strecken vergessen, dass etwa die Deutung der Sixtinischen Decke oder der Neuen Sakristei zu den umstrittensten Themen der Kunstgeschichte gehört.
Der Holzschnitt aus dem "Triompho di Fortuna" erinnert aber noch an andere Ambivalenzen: Die "Morgenröte" wurde, wie die gesamte Neue Sakristei, nicht vollendet. Das Non-finito an einigen Stellen steht in größtem Gegensatz zu den final polierten Partien des Körpers. Lässt sich diese Form des Unfertigen in einer Linie verstehen mit der frühen Kentaurenschlacht und den späten Pietà-Projekten? Oder bediente sich Michelangelo je nach Fall unterschiedlicher Konzepte? Die "Morgenröte" und die "Nacht", die beiden Frauenfiguren der Kapelle, wurden jedenfalls als hocherotische Werke wahrgenommen, wie Bredekamp betont. Worin die erotische Attraktion genau bestand, versuchten einige Zeitgenossen so zu erklären: Michelangelo habe zum Weiblichen etwas Männliches gemischt und umgekehrt. Dieses Ideal trifft sicher nicht auf alle Figuren Michelangelos zu. Ja, es wäre zu fragen, inwiefern es wirklich seinen eigenen Intentionen entsprach. Die Aussage erinnert aber daran, wie differenziert und überraschend die Diskussionen allein schon der ästhetischen Kategorien während der langen Lebenszeit Michelangelos waren. Vor dieser Folie entwickelt Bredekamps Buch eine entscheidend neue Deutungsperspektive zwischen Konsequenz, Freiheit und Fragilität.
ULRICH PFISTERER.
Horst Bredekamp: "Michelangelo".
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 816 S., Abb., geb., 89,- Euro (bis zum 31.12.2021), danach 118,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier wird gerungen und bezwungen: Horst Bredekamp widmet Michelangelos Leben und Werk eine gewichtige und zudem exzellent bebilderte Darstellung.
Die früheste sicher datierte Darstellung Michelangelos zeigt ihn als Bezwinger des Schicksals. Die Rede ist von einem Holzschnitt in Sigismondo Fantis "Triompho di Fortuna". Dieses 1527 publizierte Orakel- oder Losbuch sollte als eine Art anspruchsvolles Gesellschaftsspiel ermöglichen, mithilfe verschiedener "Spielpläne" Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Unter den berühmten Männern, die an den Seitenrändern der Spielpläne neben den verschiedenen Kreisen des Schicksals dargestellt sind und die offenbar bereits Triumphe über das Schicksal gefeiert haben, finden sich auch Maler, Bildhauer und Architekten. Aber nur Michelangelo ist dort in voller Aktion gezeigt: Mit entblößtem Oberkörper kniet er auf einem Marmorblock. Unter seinen Schlägen entsteht die Liegefigur der "Morgenröte" für die Neue Sakristei in Florenz.
Für die Skulpturen der Medici-Grabkapelle wurde erst ab 1521 der Marmor geliefert. Der Holzschnitt scheint also unter dem Eindruck von Michelangelos aktueller Arbeit entstanden. Andererseits stilisiert bereits diese erste Darstellung den Künstler und will bestimmte Vorstellungen vermitteln: Hier arbeitet ein neuer Pygmalion, dessen Liebe und Hingabe seine Schöpfungen quasi belebt. Und zugleich führt hier ein Mann vor, wie man eine Frau unter Einsatz aller Kraft im eigenen Sinne formt. Ähnlich fordert um dieselbe Zeit Niccolò Machiavelli in ungebremster Misogynie, man müsse Fortuna an den Haaren packen, niederzwingen und schlagen, um Herr seines Schicksals zu werden.
Die Herausforderungen jeder Auseinandersetzung mit Michelangelo zeichnen sich bereits in der Ambivalenz und Mythisierung dieser ersten Darstellung des Künstlers ab. Und sie stellen sich auch noch für die jüngste Monografie Horst Bredekamps. Mit dem über achthundert Seiten starken, reich bebilderten und wunderbar produzierten Buch scheint der Autor in ähnlich heroischer Kraftanstrengung nun den Künstler seinerseits bezwingen zu wollen. Untersucht wird der "ganze Michelangelo", sein Leben und alle Werke, von den Zeichnungen über die Gemälde und Fresken, Skulpturen und Architekturen bis hin zu den Gedichten. Als Leitthemen identifiziert Bredekamp einleitend: "Anmaßung und Demut" in den künstlerischen Projekten; "Geselligkeit", also soziale Netzwerke und Freundschaften des oft als Einzelgänger charakterisierten Künstlers; "Leiblichkeit" und "proteischer Eros", womit Michelangelos Liebe und "schier maßlose[s]" Begehren als treibende Kräfte benannt werden. Dagegen ist über seine tatsächliche Sexualität kaum Sicheres zu sagen. Alles überfängt Michelangelos "Panempathie", seine "Empfänglichkeit, die nicht einzuhegen ist" und die mit einer grenzenlosen Unbedingtheit des Denkens und Wollens einhergeht.
Die folgenden Analysen Bredekamps evozieren ein Bild des Künstlers im Stil des "Triompho di Fortuna". Im dauernden Ringen mit übermenschlichen Aufgaben und Widerständen werden ganz neue Werklösungen erzwungen. Für diese soll Michelangelo die wichtigen Entscheidungen zunehmend selbst getroffen haben: Er bestimmte Aufstellungsort und Thema des Grabmals für Julius II., er verantwortete das Gesamtkonzept und "'schwarze' Geschichtsbild" der Sixtinischen Decke, er konnte durch die "entwaffnende Qualität" der Skulpturen der Neuen Sakristei eine Darstellung von Herrschaft entwerfen, die "in der Negation ihrer selbst ihre höchste, des Nachruhms würdige Bestimmung findet", und so fort.
Die Schrecklichkeit (terribilità) seiner Kunst und das melancholische Leiden an der Welt bleiben die Pole, zwischen denen sich der Mensch Michelangelo bewegt. Dabei sichert ihm sein beständiges Jammern über "die Zeiten, die unserer Kunst sehr entgegenstehen", zwar einen Spitzenplatz in der Geschichte der Künstlerklage. Von außen betrachtet meinte es das Schicksal aber mehr als gut mit ihm: ein langes Leben (von 1475 bis 1564), großer Wohlstand, spektakuläre Aufträge in Fülle, ungeahnte Entscheidungsfreiheiten, mit gut dreißig Jahren der berühmteste Künstler Italiens und bald ganz Europas, mitverantwortlich für ein neues Ansehen von Kunst und Künstlern überhaupt.
Michelangelos kometenhafter Ruhm führte schon zu Lebzeiten zu gleich vier Biografien. Auf die Niederschrift der beiden umfangreichsten von Giorgio Vasari (1550, überarbeitet 1568) und Ascanio Condivi (1553) nahm er in unterschiedlichem Maße selbst Einfluss. Das Ergebnis sind Darstellungen, die seine Vita im Rückblick als konsequente Entwicklung schildern und gerade daraus bis heute ihre Überzeugungskraft schöpfen. Würden diese Texte nicht als Hauptquellen, sondern bereits als Zeugnisse der Rezeption verstanden, ließe sich etwa kaum darüber berichten, dass der junge Michelangelo in Florenz immer frühzeitig an den Mittagstisch seines Patrons, Lorenzo de' Medici, geeilt sei und deshalb in dessen Nähe sitzen durfte.
Bredekamp schreibt das Leben eines Künstlers, der bei aller Panempathie und proteischem Eros von Jugend an konsequent seine einmal gefassten Leitideen weiterentwickelte. Es gibt erstaunlich wenige Unsicherheiten, Zufälle, Inkonsistenzen, vergebliches Suchen und Neuansätze. Am unbestreitbaren Scheitern sind entweder die gigantischen Dimensionen der Projekte oder aber die anderen schuld. Die von Bredekamp entwickelte Konsequenz des künstlerischen Lebenswegs lässt über weite Strecken vergessen, dass etwa die Deutung der Sixtinischen Decke oder der Neuen Sakristei zu den umstrittensten Themen der Kunstgeschichte gehört.
Der Holzschnitt aus dem "Triompho di Fortuna" erinnert aber noch an andere Ambivalenzen: Die "Morgenröte" wurde, wie die gesamte Neue Sakristei, nicht vollendet. Das Non-finito an einigen Stellen steht in größtem Gegensatz zu den final polierten Partien des Körpers. Lässt sich diese Form des Unfertigen in einer Linie verstehen mit der frühen Kentaurenschlacht und den späten Pietà-Projekten? Oder bediente sich Michelangelo je nach Fall unterschiedlicher Konzepte? Die "Morgenröte" und die "Nacht", die beiden Frauenfiguren der Kapelle, wurden jedenfalls als hocherotische Werke wahrgenommen, wie Bredekamp betont. Worin die erotische Attraktion genau bestand, versuchten einige Zeitgenossen so zu erklären: Michelangelo habe zum Weiblichen etwas Männliches gemischt und umgekehrt. Dieses Ideal trifft sicher nicht auf alle Figuren Michelangelos zu. Ja, es wäre zu fragen, inwiefern es wirklich seinen eigenen Intentionen entsprach. Die Aussage erinnert aber daran, wie differenziert und überraschend die Diskussionen allein schon der ästhetischen Kategorien während der langen Lebenszeit Michelangelos waren. Vor dieser Folie entwickelt Bredekamps Buch eine entscheidend neue Deutungsperspektive zwischen Konsequenz, Freiheit und Fragilität.
ULRICH PFISTERER.
Horst Bredekamp: "Michelangelo".
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 816 S., Abb., geb., 89,- Euro (bis zum 31.12.2021), danach 118,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2021Il Terribile
Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp erzählt, wie Michelangelo
die Kunst dem Zugriff der Macht entzog
VON KIA VAHLAND
Er war schrecklich, terribile, da waren sich die meisten Zeitgenossen einig. Warum aber Michelangelo immer wieder durch seinen sperrigen Charakter, seinen Stolz und Starrsinn auffiel, warum er sich so oft viel zu viel vornahm, warum er mit Autoritäten stets haderte, das konnte er selbst nicht immer erklären. Sein Freund, der venezianische Künstler Sebastiano del Piombo, aber hatte eine Erklärung: „Ich meinesteils halte Euch gar nicht für schrecklich“, schrieb er Michelangelo, „ich halte Euch einzig und allein für schrecklich in Eurer Kunst.“ Nur so schaffe der Bildhauer und Maler, was er schaffe. Diese Unerbittlichkeit in der Kunst erläuterte Sebastiano auch Papst Leo X., dem Michelangelos Temperament „Angst mache“, wie der Venezianer meinte.
In dem Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat Michelangelo einen späten zweiten Freund gefunden, der ihn ebenfalls genau deshalb schätzt: weil der Renaissancemann auf seinen eigenen Regeln bestand, nämlich denen einer unbedingten Formfindung, und dabei notgedrungen mit Konventionen und Bestellerwünschen in Konflikt geraten musste. Statt sich den Maßstäben anderer anzupassen, brachte er seine Umwelt dazu, ihn doch irgendwie bewundern und annehmen zu wollen, wie er war. So erklärte ein Vertreter der Florentiner Regierung einmal Papst Julius II., man müsse Michelangelo nur „Liebe entgegenbringen und ihm Gunst erweisen“, dann schaffe er allergrößte Werke. Die Belehrung war nötig, denn vorher hatte der Künstler vor Julius wutschnaubend Reißaus genommen.
Bredekamps packend geschriebenes, präzise dokumentiertes Buch ist Biografie und Monografie zugleich. Der Autor trennt nicht zwischen Persönlichem und Ästhetischem oder zwischen Historie und Werkbetrachtungen. Das tut der Sache gut. Tatsächlich war es ja die besondere Sensibilität Michelangelos, die ihn gegen die Verhältnisse rebellieren ließ, etwa, wenn er früh gegen ein kriegslüsternes Papsttum wetterte oder später der Körperfeindlichkeit der Kirche mit seinen nackten Leibern im „Jüngsten Gericht“ trotzte. „Panempathisch“ nennt Bredekamp Michelangelos Empfindsamkeit: Der Maler und Bildhauer verstehe es, immer auch das Gegenteil mitzudenken und zu visualisieren. So handelt die Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan eben nicht nur von der Liebe Gottes, sondern in den Lünetten und Zwickeln auch von der Tristesse der vorbiblischen Zeiten, verkörpert von einsamen und unwissenden Menschen.
Zudem bevölkern die Zwischenräume unheimliche Bronzewesen, Gefangene der Architektur und ihrer Selbst. Sie kontrastieren mit den verspielten ignudi, den nackten Jünglingen, die sich mit Eichelgebinden amüsieren und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Michelangelos Jahrtausendwerk kennt Hoffnungsträgerinnen wie die Delphische Sibylle, deren Haare schon im Wind des Wandels wehen – und die trotz ihres Wissens um die Heilsgeschichte nicht nur froh, sondern auch verunsichert aus großen Augen blickt. Und es kennt Verräter wie den alttestamentarischen Haman, der einen Massenmord an Juden bewirken wollte – und dennoch im Moment seiner eigenen Hinrichtung vom Maler als muskulöser Leidender und nicht als hässlicher Unhold gezeigt wird.
Michelangelo ist bei Bredekamp ein früher Dialektiker, der den Perspektivwechsel zum Grundprinzip seiner Kunst erhob und schon deshalb nicht zum Propagandisten und Moralisten taugte. Sein Einfühlungsvermögen machte vor Steinen nicht halt. Michelangelo hat beschrieben, wie er mit Hammer und Meißel die Figuren im Marmor erspürte, befreite, zur ihr gemäßen Form führte. Im marmornen David aus Florenz, den der Bildhauer aus einem von anderer Hand halb verunstalteten Block herausschälte, erkennt Bredekamp nicht nur Entschlossenheit, sondern auch Angst. David sei eine „Person, die ihren inneren Konflikt im Widerspiel von Anspannung und Entlastung in jedem Körperdetail austrägt“.
Es ist eine Stärke des Buches, Emotionalität und Ästhetik, Psychisches und Physisches zusammen zu verhandeln. Bredekamp selbst wird dabei zum Empathiker, der auch in misslichen Lagen Partei für seinen Protagonisten ergreift. Lange rang der schon ältere Künstler mit seiner tiefen Zuneigung zu der spiritualistischen Dichterin Vittoria Colonna und warb um sie mit Geschenken. Auf einem Bildentwurf für die Adelige ist der auferstandene Jesus im offenen Flirt mit Maria Magdalena zu sehen; die beiden umtänzeln einander, seine Finger scheinen ihre Brustspitze gleich zu ertasten – und das, obwohl die Bibel an dieser Stelle ein Berührungsverbot ausspricht: Noli me tangere, „rühre mich nicht an“, sagte Jesus zu Maria Magdalena. Bei Michelangelo aber, so Bredekamp, entwickele sich das Tasten zwangsläufig aus dem Sehen.
Ein anderer (auch nicht im Original enthaltener) Entwurf, ebenfalls ein Geschenk an Vittoria Colonna, zeigt eine gefestigte Maria mit zum Himmel erhobenen Armen, zwischen ihren Beinen sinkt der tote Jesus in sich zusammen. Das spielt auf die merkwürdige Doppelrolle der Maria an – sie hat den Erlöser geboren, der für die Menschheit stirbt; im Himmel aber wird sie nicht als seine Mutter neben ihn treten, sondern als seine Braut. Colonna selbst hat in ihren Texten im Anklang an das Hohelied Salomons die Gefühle der Muttergottes für den sterbenden Jesus hemmungslos erotisiert. Michelangelo wird das gekannt haben; in der Zeichnung mag aber auch sein eigenes Gefühl männlichen Ausgeliefertseins mitschwingen, schließlich hat die aristokratische Dichterin seiner Hingabe immer wieder Grenzen gesetzt.
Michelangelo galt als Einzelgänger, der gesellschaftliche Anlässe zunehmend scheute und Konkurrenten an die Wand spielte. Liebte der Künstler aber, so tat er dies so bedingungslos, wie er arbeitete. Seinen Schüler Tommaso de’ Cavalieri verehrte er und trat auch mit ihm mit Geschenkzeichnungen in einen erotisch-künstlerischen Dialog. Bettelten dagegen hohe Herren um Zeichnungen von ihm, so stieß Michelangelo sie zumeist vor den Kopf. So entzog er seine Kunst ein Stück weit der Logik der Käuflichkeit. Wie die kirchenkritische Vittoria Colonna, so war auch der ältere Michelangelo fasziniert von der Idee, dass die Gnade Gottes eine Gabe sei, die der Mensch sich nicht verdienen könne. Übertragen auf seine Arbeit bedeutete das: Auch Michelangelos Skizzen konnte man nicht erwerben, sondern sie nur als Freundschaftsbeweis überreicht bekommen.
Wie dieser Bildhauer, Architekt und Maler es verstand, die Kunst immer wieder dem Zugriff der Macht zu entziehen und sie damit vom Zweckdenken zu emanzipieren, beschäftigt Horst Bredekamp als Forscher seit Jahrzehnten. Die so fundierte wie leichtfüßige Quintessenz seiner im besten Sinn immer auch subjektiven Überlegungen finden sich in diesem Band, der das Zeug zum Standardwerk hat.
Er liebte den Perspektivwechsel,
zum Propagandisten
taugte er nicht
Seine Zeichnungen
verschenkte er lieber,
anstatt sie zu verkaufen
Horst Bredekamp:
Michelangelo. Sachbuch. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 816 Seiten,
89 Euro.
Die Delphische Sibylle an der Decke der
Sixtinischen Kapelle im Vatikan (rechts) und der marmorne David.
FotoS: Horst Bredekamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp erzählt, wie Michelangelo
die Kunst dem Zugriff der Macht entzog
VON KIA VAHLAND
Er war schrecklich, terribile, da waren sich die meisten Zeitgenossen einig. Warum aber Michelangelo immer wieder durch seinen sperrigen Charakter, seinen Stolz und Starrsinn auffiel, warum er sich so oft viel zu viel vornahm, warum er mit Autoritäten stets haderte, das konnte er selbst nicht immer erklären. Sein Freund, der venezianische Künstler Sebastiano del Piombo, aber hatte eine Erklärung: „Ich meinesteils halte Euch gar nicht für schrecklich“, schrieb er Michelangelo, „ich halte Euch einzig und allein für schrecklich in Eurer Kunst.“ Nur so schaffe der Bildhauer und Maler, was er schaffe. Diese Unerbittlichkeit in der Kunst erläuterte Sebastiano auch Papst Leo X., dem Michelangelos Temperament „Angst mache“, wie der Venezianer meinte.
In dem Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat Michelangelo einen späten zweiten Freund gefunden, der ihn ebenfalls genau deshalb schätzt: weil der Renaissancemann auf seinen eigenen Regeln bestand, nämlich denen einer unbedingten Formfindung, und dabei notgedrungen mit Konventionen und Bestellerwünschen in Konflikt geraten musste. Statt sich den Maßstäben anderer anzupassen, brachte er seine Umwelt dazu, ihn doch irgendwie bewundern und annehmen zu wollen, wie er war. So erklärte ein Vertreter der Florentiner Regierung einmal Papst Julius II., man müsse Michelangelo nur „Liebe entgegenbringen und ihm Gunst erweisen“, dann schaffe er allergrößte Werke. Die Belehrung war nötig, denn vorher hatte der Künstler vor Julius wutschnaubend Reißaus genommen.
Bredekamps packend geschriebenes, präzise dokumentiertes Buch ist Biografie und Monografie zugleich. Der Autor trennt nicht zwischen Persönlichem und Ästhetischem oder zwischen Historie und Werkbetrachtungen. Das tut der Sache gut. Tatsächlich war es ja die besondere Sensibilität Michelangelos, die ihn gegen die Verhältnisse rebellieren ließ, etwa, wenn er früh gegen ein kriegslüsternes Papsttum wetterte oder später der Körperfeindlichkeit der Kirche mit seinen nackten Leibern im „Jüngsten Gericht“ trotzte. „Panempathisch“ nennt Bredekamp Michelangelos Empfindsamkeit: Der Maler und Bildhauer verstehe es, immer auch das Gegenteil mitzudenken und zu visualisieren. So handelt die Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan eben nicht nur von der Liebe Gottes, sondern in den Lünetten und Zwickeln auch von der Tristesse der vorbiblischen Zeiten, verkörpert von einsamen und unwissenden Menschen.
Zudem bevölkern die Zwischenräume unheimliche Bronzewesen, Gefangene der Architektur und ihrer Selbst. Sie kontrastieren mit den verspielten ignudi, den nackten Jünglingen, die sich mit Eichelgebinden amüsieren und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Michelangelos Jahrtausendwerk kennt Hoffnungsträgerinnen wie die Delphische Sibylle, deren Haare schon im Wind des Wandels wehen – und die trotz ihres Wissens um die Heilsgeschichte nicht nur froh, sondern auch verunsichert aus großen Augen blickt. Und es kennt Verräter wie den alttestamentarischen Haman, der einen Massenmord an Juden bewirken wollte – und dennoch im Moment seiner eigenen Hinrichtung vom Maler als muskulöser Leidender und nicht als hässlicher Unhold gezeigt wird.
Michelangelo ist bei Bredekamp ein früher Dialektiker, der den Perspektivwechsel zum Grundprinzip seiner Kunst erhob und schon deshalb nicht zum Propagandisten und Moralisten taugte. Sein Einfühlungsvermögen machte vor Steinen nicht halt. Michelangelo hat beschrieben, wie er mit Hammer und Meißel die Figuren im Marmor erspürte, befreite, zur ihr gemäßen Form führte. Im marmornen David aus Florenz, den der Bildhauer aus einem von anderer Hand halb verunstalteten Block herausschälte, erkennt Bredekamp nicht nur Entschlossenheit, sondern auch Angst. David sei eine „Person, die ihren inneren Konflikt im Widerspiel von Anspannung und Entlastung in jedem Körperdetail austrägt“.
Es ist eine Stärke des Buches, Emotionalität und Ästhetik, Psychisches und Physisches zusammen zu verhandeln. Bredekamp selbst wird dabei zum Empathiker, der auch in misslichen Lagen Partei für seinen Protagonisten ergreift. Lange rang der schon ältere Künstler mit seiner tiefen Zuneigung zu der spiritualistischen Dichterin Vittoria Colonna und warb um sie mit Geschenken. Auf einem Bildentwurf für die Adelige ist der auferstandene Jesus im offenen Flirt mit Maria Magdalena zu sehen; die beiden umtänzeln einander, seine Finger scheinen ihre Brustspitze gleich zu ertasten – und das, obwohl die Bibel an dieser Stelle ein Berührungsverbot ausspricht: Noli me tangere, „rühre mich nicht an“, sagte Jesus zu Maria Magdalena. Bei Michelangelo aber, so Bredekamp, entwickele sich das Tasten zwangsläufig aus dem Sehen.
Ein anderer (auch nicht im Original enthaltener) Entwurf, ebenfalls ein Geschenk an Vittoria Colonna, zeigt eine gefestigte Maria mit zum Himmel erhobenen Armen, zwischen ihren Beinen sinkt der tote Jesus in sich zusammen. Das spielt auf die merkwürdige Doppelrolle der Maria an – sie hat den Erlöser geboren, der für die Menschheit stirbt; im Himmel aber wird sie nicht als seine Mutter neben ihn treten, sondern als seine Braut. Colonna selbst hat in ihren Texten im Anklang an das Hohelied Salomons die Gefühle der Muttergottes für den sterbenden Jesus hemmungslos erotisiert. Michelangelo wird das gekannt haben; in der Zeichnung mag aber auch sein eigenes Gefühl männlichen Ausgeliefertseins mitschwingen, schließlich hat die aristokratische Dichterin seiner Hingabe immer wieder Grenzen gesetzt.
Michelangelo galt als Einzelgänger, der gesellschaftliche Anlässe zunehmend scheute und Konkurrenten an die Wand spielte. Liebte der Künstler aber, so tat er dies so bedingungslos, wie er arbeitete. Seinen Schüler Tommaso de’ Cavalieri verehrte er und trat auch mit ihm mit Geschenkzeichnungen in einen erotisch-künstlerischen Dialog. Bettelten dagegen hohe Herren um Zeichnungen von ihm, so stieß Michelangelo sie zumeist vor den Kopf. So entzog er seine Kunst ein Stück weit der Logik der Käuflichkeit. Wie die kirchenkritische Vittoria Colonna, so war auch der ältere Michelangelo fasziniert von der Idee, dass die Gnade Gottes eine Gabe sei, die der Mensch sich nicht verdienen könne. Übertragen auf seine Arbeit bedeutete das: Auch Michelangelos Skizzen konnte man nicht erwerben, sondern sie nur als Freundschaftsbeweis überreicht bekommen.
Wie dieser Bildhauer, Architekt und Maler es verstand, die Kunst immer wieder dem Zugriff der Macht zu entziehen und sie damit vom Zweckdenken zu emanzipieren, beschäftigt Horst Bredekamp als Forscher seit Jahrzehnten. Die so fundierte wie leichtfüßige Quintessenz seiner im besten Sinn immer auch subjektiven Überlegungen finden sich in diesem Band, der das Zeug zum Standardwerk hat.
Er liebte den Perspektivwechsel,
zum Propagandisten
taugte er nicht
Seine Zeichnungen
verschenkte er lieber,
anstatt sie zu verkaufen
Horst Bredekamp:
Michelangelo. Sachbuch. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 816 Seiten,
89 Euro.
Die Delphische Sibylle an der Decke der
Sixtinischen Kapelle im Vatikan (rechts) und der marmorne David.
FotoS: Horst Bredekamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de