Die Restaurierung von Michelangelos Grabmal für Papst Julius II., zu dem die MosesStatue gehört, hat eine heftige intellektuelle Debatte ausgelöst. In diesem hochaktuellen Kontext wird auch Freuds sprachmächtiger Essay über die Skulptur er selbst bezeichnete ihn als "Wagstück" neu gewürdigt. Die Autorin zeigt in einer prismatischen Analyse, dass es sich um einen hochgradig subjektiven, verdeckt autobiographischen Text handelt. Der Freudschen Deutung stellt sie eine neue, stimmigere kunsthistorische Deutung gegenüber. Die innovative Form des BildEssays ermöglicht es dem Leser, viele Thesen beim Anschauen der visuellen Details unmittelbar zu überprüfen.
In ihrer Collage, die Text und Bild auf innovative Weise miteinander verbindet, erzählt Ilse Grubrich-Simitis zuerst die Geschichte des sprachmächtigen Freudschen Essays über den Moses des Michelangelo. 1912 bis 1914, in den Jahren der Auseinandersetzung und des schließlichen Bruchs mit C.G. Jung, war Freud von diesem Bilderwerk regelrecht besessen. In Gestalt der Deutung - der Künstler zeige einen Moses, der angesichts seines um das Goldene Kalb tanzenden Volkes, entgegen dem Bibelwortlaut, sich nicht dazu hinreißen lasse, die Gesetzestafeln im Zorn zu zerschmettern - erschuf sich der Begründer der Psychoanalyse in einer persönlichen Krise ein haltgebendes Vorbild der Selbstbeherrschung im Dienste der Fortsetzung des eigenen Lebenswerks. Dabei übersah er freilich sprechende, seiner Deutung widersprechend Details.
Laut einer neueren, stimmigeren Interpretation des Kunsthistorikers Franz-Joachim Verspohl zeigt Michelangelo den Moses nach einer späteren Unterredung mit Gott, in deren Verlauf ihm sein bevorstehendes Ende verkündet wird. So gesehen, wurzelt die unerhörte, unvergängliche Wirkung der Statue in der meisterlichen Darstellung des Schreckens angesichts von Gebrechlichkeit und Sterblichkeit des Menschen sowie Zähmung dieses Schreckens. Die Autorin zeigt am Ende nicht nur Berührungspunkte zwischen beiden Deutungen; sie nennt auch moderne Gründe dafür, in unserer Zeit einer rasanten kulturellen Regression von Michelangelos Moses als Repräsentanten ethischer Prinzipien und des "Fortschritts in der Geistigkeit" sich ergreifen zu lassen.
In ihrer Collage, die Text und Bild auf innovative Weise miteinander verbindet, erzählt Ilse Grubrich-Simitis zuerst die Geschichte des sprachmächtigen Freudschen Essays über den Moses des Michelangelo. 1912 bis 1914, in den Jahren der Auseinandersetzung und des schließlichen Bruchs mit C.G. Jung, war Freud von diesem Bilderwerk regelrecht besessen. In Gestalt der Deutung - der Künstler zeige einen Moses, der angesichts seines um das Goldene Kalb tanzenden Volkes, entgegen dem Bibelwortlaut, sich nicht dazu hinreißen lasse, die Gesetzestafeln im Zorn zu zerschmettern - erschuf sich der Begründer der Psychoanalyse in einer persönlichen Krise ein haltgebendes Vorbild der Selbstbeherrschung im Dienste der Fortsetzung des eigenen Lebenswerks. Dabei übersah er freilich sprechende, seiner Deutung widersprechend Details.
Laut einer neueren, stimmigeren Interpretation des Kunsthistorikers Franz-Joachim Verspohl zeigt Michelangelo den Moses nach einer späteren Unterredung mit Gott, in deren Verlauf ihm sein bevorstehendes Ende verkündet wird. So gesehen, wurzelt die unerhörte, unvergängliche Wirkung der Statue in der meisterlichen Darstellung des Schreckens angesichts von Gebrechlichkeit und Sterblichkeit des Menschen sowie Zähmung dieses Schreckens. Die Autorin zeigt am Ende nicht nur Berührungspunkte zwischen beiden Deutungen; sie nennt auch moderne Gründe dafür, in unserer Zeit einer rasanten kulturellen Regression von Michelangelos Moses als Repräsentanten ethischer Prinzipien und des "Fortschritts in der Geistigkeit" sich ergreifen zu lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2004Das Rätsel unter der Klaue des Löwen lag und schlummerte
Denkwürdigkeiten eines Genußmenschen: Ilse Grubrich-Simitis erkennt, was Sigmund Freud im Blick von Michelangelos Moses sah
In der "Imago", Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft, erscheint im dritten Band 1914 eine bemerkenswerte Studie unter dem Titel "Der Moses des Michelangelo". Ihr eigentliches Rätsel ist nicht die Statue, die einen Teil von Michelangelos Grabmal für Papst Julius II. in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli bildet und 1998 restauriert worden ist, sondern ihr Autor: "Von ***". Otto Rank und Hanns Sachs, zwei Paladine Sigmund Freuds, erläutern: "Die Redaktion hat diesem, strenggenommen nicht programmgerechten Beitrag die Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte Verfasser analytischen Kreisen nahesteht und weil seine Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit der Methodik der Psychoanalyse zeigt."
Die Ähnlichkeit beschränkt sich indes auf das ausdrücklich mit dem vermeintlichen russischen Kunstkenner Ivan Lermolieff alias Giovanni Morelli geteilte "Spurensicherungsparadigma" (Carlo Ginzburg), ein Kunstwerk aus seinen flüchtigsten Indizien zu entschlüsseln, das heißt "aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub - dem ,refuse' -, der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten", so "Der Moses des Michelangelo".
Vor dieses kriminalistische Verfahren aber, hinter das sich der Detektiv in der Regel zurückzieht, tritt der ungenannte - deshalb aber auch unbekannte? - Verfasser selbst. Nicht nur, daß der Artikel mit einer Selbstbezichtigung beginnt, die der Text vorzuschützen scheint, um sich vor der Lektüre durch allzu interessierte Leserinnen und Leser in Schutz zu nehmen: "Ich schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie." Es folgt - unter diesen Vorzeichen erstaunlich genug - in den ersten drei Absätzen eine Kaskade von grammatikalischen Fügungen, die in der ersten Person Singular konstruiert sind: "Ich habe oft bemerkt, daß mich der Inhalt eines Kunstwerkes stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften . . . fehlt mir eigentlich das richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um . . . Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus . . . Ich bin so veranlaßt worden ... Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerksam geworden, daß . . ."
Der Autor pocht auf sich und seine Beweggründe. Dieser Nachdruck kann gerade in seiner Beiläufigkeit nur eine Frage wecken: Wer steckt hinter dem Artikel? Der erste Verdacht - Karl Abraham, ein weiteres Mitglied des späteren "Geheimen Komitees" der Psychoanalyse, glaubte, daß darin gleich "die Klaue des Löwen" Sigmund Freud erkannt würde - zerstreut sich rasch: Tatsächlich könnte die Psychoanalyse "dieses nicht analytische Kind", wie Freud es gegenüber seinem italienischen Übersetzer Edoardo Weiß später nennen sollte, nur um den Preis adoptieren, ihr eigentliches Interesse am Schöpfungsprozeß eines Künstlers zu verleugnen: seine psychopathologischen Beweggründe, über die kein einziges Wort verloren wird. Wie sollte es da von ihrem Gründervater gezeugt worden sein?
Im wachsenden Grad der Anmaßung, die diese obsessiven Selbstbekenntnisse darstellen, sieht sich der Leser allerdings verführt, gegen seinen Widerstand in der Lektüre fortzufahren und sich selbst die Fragen des Verfassers zu stellen: Welche Szene aus dem Leben Mose dramatisiert der Bildhauer? Wie ist sie zu deuten? Und wodurch fesselt sie ihren Betrachter? So verstrickt der Text ihn stilistisch meisterhaft in eine unentrinnbare Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik. Handelt es sich bei der ersten Person Singular also doch um ein "offenes" Geheimnis, sprich Sigmund Freud?
Dann allerdings sähen wir uns mit dem Rätsel des Rätsels konfrontiert. Ihm hat Ilse Grubrich-Simitis ihre Collage "Michelangelos Moses und Freuds ,Wagstück'" gewidmet. Freuds persönliche Beweggründe für seine Identifizierung mit Moses werden von der Autorin mit einer Behutsamkeit nachgezeichnet, die Freud selbst nicht allen von ihm analysierten Fällen hat zukommen lassen, man denke etwa an Daniel Paul Schreber und die von Freud 1911 einer Fernanalyse unterzogenen "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" (1903). Tatsächlich bildet Michelangelos Moses als "Ichideal" von Sigmund Freud in den Augen von Grubrich-Simitis einen Teil jenes Materials, das insbesondere in den Stürmen, die um die psychoanalytische Sache nach dem Abfall von Carl Gustav Jung und Alfred Adler toben, sein "Über-Ich" festigt, also jene Stimme, die ihm zuredet, über die von ihm vertretene Sache nicht den (Jäh-)Zorn über diejenigen zu stellen, die der Schwindel im Tanz um das Goldene Kalb umtreibt.
Freuds Betrachtung, Michelangelos Moses im Anblick seiner um das Goldene Kalb tanzenden Anhänger zu sehen, ist - was die Autorin nicht verschweigt - kunsthistorisch unhaltbar, aber aussagekräftig für sein Selbstverständnis. Das versucht Ilse Grubrich-Simitis in ihrer Collage zu veranschaulichen. "Collage" meint: die unmittelbare Gegenüberstellung von Erkenntnissen und den Bildern, aus denen sie gewonnen wurden. Grubrich-Simitis strebt in ihrer Argumentation also Augenfälligkeit an. Dieses Streben weckt die unausweichliche Frage nach dem Verhältnis zwischen augenfälliger Evidenz und leichtfertig Dahingesagtem, in dem man sich verplappert, also zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit in der Psychoanalyse. Der Mantel der Anonymität, den Freud über seinen Text geworfen hat, sollte gerade diesen ihm selbst undurchdringlichen Grundkonflikt verschleiern. Daß er bis heute ungelöst geblieben ist, zeichnet die anhaltende Aktualität von Freuds Text aus, der unter den Gründertexten der Psychoanalyse deshalb vielleicht der eigentlichste ist. Diesen Umstand allerdings verrät uns selbst Ilse Grubrich-Simitis' kluge Studie nicht.
Sie wendet sich statt dessen der Quelle von Freuds Faszination an der Moses-Statue von Michelangelo zu. "Aber Kunstwerke üben", wie Freud bekennt, "eine starke Wirkung auf mich aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien. Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen, das heißt mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das nicht kann, zum Beispiel in der Musik, bin ich fast genußunfähig." Der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger hat diesen dunklen Beweggrund Mitte der fünfziger Jahre in die erhellende Formel gefaßt: "begreifen, was mich ergreift". Die Pointe von Ilse Grubrich-Simitis' Analyse, die einer an Freuds Psychoanalyse geschulten Hermeneutik des Verdachts geschuldet ist, lautet: Gerade diese Quelle der Identifikation, aus der sich die stilistische Meisterschaft von Freuds Analyse speist, muß dessen Erkenntnis verschlossen bleiben, um weiter zu sprudeln.
Und die Leserinnen und Leser? Sie begreifen nach der in jedem Wortsinn anschaulichen Lektüre von Ilse Grubrich-Simitis' Collage zwar, was Sigmund Freud beim Anblick von Michelangelos Moses ergriffen hat, die Statue selbst aber bleibt ihnen ein Rätsel, dem die Autorin selbst dort nicht zu nahe tritt, wo sie darin die Trauer über den bevorstehenden Tod zu erkennen glaubt. Der Lebhaftigkeit im Blick von Moses' sprunghaftem Zorn, den niemand auf sich gezogen sehen möchte, tut dies keinen Abbruch, ja man erkennt darin plötzlich die von Freud mit Moses geteilte heilige Verachtung über die Schar ihrer abgefallenen Jünger - das Rätsel des Rätsels des Rätsels.
MARTIN STINGELIN
Ilse Grubrich-Simitis: "Michelangelos Moses und Freuds ,Wagstück'". Eine Collage. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 132 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Denkwürdigkeiten eines Genußmenschen: Ilse Grubrich-Simitis erkennt, was Sigmund Freud im Blick von Michelangelos Moses sah
In der "Imago", Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft, erscheint im dritten Band 1914 eine bemerkenswerte Studie unter dem Titel "Der Moses des Michelangelo". Ihr eigentliches Rätsel ist nicht die Statue, die einen Teil von Michelangelos Grabmal für Papst Julius II. in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli bildet und 1998 restauriert worden ist, sondern ihr Autor: "Von ***". Otto Rank und Hanns Sachs, zwei Paladine Sigmund Freuds, erläutern: "Die Redaktion hat diesem, strenggenommen nicht programmgerechten Beitrag die Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte Verfasser analytischen Kreisen nahesteht und weil seine Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit der Methodik der Psychoanalyse zeigt."
Die Ähnlichkeit beschränkt sich indes auf das ausdrücklich mit dem vermeintlichen russischen Kunstkenner Ivan Lermolieff alias Giovanni Morelli geteilte "Spurensicherungsparadigma" (Carlo Ginzburg), ein Kunstwerk aus seinen flüchtigsten Indizien zu entschlüsseln, das heißt "aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub - dem ,refuse' -, der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten", so "Der Moses des Michelangelo".
Vor dieses kriminalistische Verfahren aber, hinter das sich der Detektiv in der Regel zurückzieht, tritt der ungenannte - deshalb aber auch unbekannte? - Verfasser selbst. Nicht nur, daß der Artikel mit einer Selbstbezichtigung beginnt, die der Text vorzuschützen scheint, um sich vor der Lektüre durch allzu interessierte Leserinnen und Leser in Schutz zu nehmen: "Ich schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie." Es folgt - unter diesen Vorzeichen erstaunlich genug - in den ersten drei Absätzen eine Kaskade von grammatikalischen Fügungen, die in der ersten Person Singular konstruiert sind: "Ich habe oft bemerkt, daß mich der Inhalt eines Kunstwerkes stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften . . . fehlt mir eigentlich das richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um . . . Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus . . . Ich bin so veranlaßt worden ... Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerksam geworden, daß . . ."
Der Autor pocht auf sich und seine Beweggründe. Dieser Nachdruck kann gerade in seiner Beiläufigkeit nur eine Frage wecken: Wer steckt hinter dem Artikel? Der erste Verdacht - Karl Abraham, ein weiteres Mitglied des späteren "Geheimen Komitees" der Psychoanalyse, glaubte, daß darin gleich "die Klaue des Löwen" Sigmund Freud erkannt würde - zerstreut sich rasch: Tatsächlich könnte die Psychoanalyse "dieses nicht analytische Kind", wie Freud es gegenüber seinem italienischen Übersetzer Edoardo Weiß später nennen sollte, nur um den Preis adoptieren, ihr eigentliches Interesse am Schöpfungsprozeß eines Künstlers zu verleugnen: seine psychopathologischen Beweggründe, über die kein einziges Wort verloren wird. Wie sollte es da von ihrem Gründervater gezeugt worden sein?
Im wachsenden Grad der Anmaßung, die diese obsessiven Selbstbekenntnisse darstellen, sieht sich der Leser allerdings verführt, gegen seinen Widerstand in der Lektüre fortzufahren und sich selbst die Fragen des Verfassers zu stellen: Welche Szene aus dem Leben Mose dramatisiert der Bildhauer? Wie ist sie zu deuten? Und wodurch fesselt sie ihren Betrachter? So verstrickt der Text ihn stilistisch meisterhaft in eine unentrinnbare Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik. Handelt es sich bei der ersten Person Singular also doch um ein "offenes" Geheimnis, sprich Sigmund Freud?
Dann allerdings sähen wir uns mit dem Rätsel des Rätsels konfrontiert. Ihm hat Ilse Grubrich-Simitis ihre Collage "Michelangelos Moses und Freuds ,Wagstück'" gewidmet. Freuds persönliche Beweggründe für seine Identifizierung mit Moses werden von der Autorin mit einer Behutsamkeit nachgezeichnet, die Freud selbst nicht allen von ihm analysierten Fällen hat zukommen lassen, man denke etwa an Daniel Paul Schreber und die von Freud 1911 einer Fernanalyse unterzogenen "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" (1903). Tatsächlich bildet Michelangelos Moses als "Ichideal" von Sigmund Freud in den Augen von Grubrich-Simitis einen Teil jenes Materials, das insbesondere in den Stürmen, die um die psychoanalytische Sache nach dem Abfall von Carl Gustav Jung und Alfred Adler toben, sein "Über-Ich" festigt, also jene Stimme, die ihm zuredet, über die von ihm vertretene Sache nicht den (Jäh-)Zorn über diejenigen zu stellen, die der Schwindel im Tanz um das Goldene Kalb umtreibt.
Freuds Betrachtung, Michelangelos Moses im Anblick seiner um das Goldene Kalb tanzenden Anhänger zu sehen, ist - was die Autorin nicht verschweigt - kunsthistorisch unhaltbar, aber aussagekräftig für sein Selbstverständnis. Das versucht Ilse Grubrich-Simitis in ihrer Collage zu veranschaulichen. "Collage" meint: die unmittelbare Gegenüberstellung von Erkenntnissen und den Bildern, aus denen sie gewonnen wurden. Grubrich-Simitis strebt in ihrer Argumentation also Augenfälligkeit an. Dieses Streben weckt die unausweichliche Frage nach dem Verhältnis zwischen augenfälliger Evidenz und leichtfertig Dahingesagtem, in dem man sich verplappert, also zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit in der Psychoanalyse. Der Mantel der Anonymität, den Freud über seinen Text geworfen hat, sollte gerade diesen ihm selbst undurchdringlichen Grundkonflikt verschleiern. Daß er bis heute ungelöst geblieben ist, zeichnet die anhaltende Aktualität von Freuds Text aus, der unter den Gründertexten der Psychoanalyse deshalb vielleicht der eigentlichste ist. Diesen Umstand allerdings verrät uns selbst Ilse Grubrich-Simitis' kluge Studie nicht.
Sie wendet sich statt dessen der Quelle von Freuds Faszination an der Moses-Statue von Michelangelo zu. "Aber Kunstwerke üben", wie Freud bekennt, "eine starke Wirkung auf mich aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien. Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen, das heißt mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das nicht kann, zum Beispiel in der Musik, bin ich fast genußunfähig." Der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger hat diesen dunklen Beweggrund Mitte der fünfziger Jahre in die erhellende Formel gefaßt: "begreifen, was mich ergreift". Die Pointe von Ilse Grubrich-Simitis' Analyse, die einer an Freuds Psychoanalyse geschulten Hermeneutik des Verdachts geschuldet ist, lautet: Gerade diese Quelle der Identifikation, aus der sich die stilistische Meisterschaft von Freuds Analyse speist, muß dessen Erkenntnis verschlossen bleiben, um weiter zu sprudeln.
Und die Leserinnen und Leser? Sie begreifen nach der in jedem Wortsinn anschaulichen Lektüre von Ilse Grubrich-Simitis' Collage zwar, was Sigmund Freud beim Anblick von Michelangelos Moses ergriffen hat, die Statue selbst aber bleibt ihnen ein Rätsel, dem die Autorin selbst dort nicht zu nahe tritt, wo sie darin die Trauer über den bevorstehenden Tod zu erkennen glaubt. Der Lebhaftigkeit im Blick von Moses' sprunghaftem Zorn, den niemand auf sich gezogen sehen möchte, tut dies keinen Abbruch, ja man erkennt darin plötzlich die von Freud mit Moses geteilte heilige Verachtung über die Schar ihrer abgefallenen Jünger - das Rätsel des Rätsels des Rätsels.
MARTIN STINGELIN
Ilse Grubrich-Simitis: "Michelangelos Moses und Freuds ,Wagstück'". Eine Collage. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 132 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Dem bekanntesten Psychoanalytiker aller Zeiten weist Ilse Grubrich-Simitis in ihrem neuen Buch einen Irrtum nach, berichtet Rezensent Hans-Martin Lohmann. In seinem Essay über den Moses von Michelangelo habe Sigmund Freud in der Skulptur die "Selbstbeherrschung eines kraftstrotzenden Heroen" gesehen, der beim Abstieg vom Berg Sinai angesichts seines Götzen verehrenden Volkes in Wut gerät. Die Frankfurter Freud-Forscherin hat nun in einem "collageartigen Verfahren" kunsthistorische und psychoanalytische Befunde zusammengeführt und einen anderen Moses ausgemacht - den Mann, der nach der Begegnung mit Gott als Prophet vor sein Volk tritt, gezeichnet vom Schrecken über seinen nahenden Tod. Der Rezensent lobt besonders "Bildung und kulturelles Gedächtnis" der Autorin, die es ihr möglich machen, die "Gegenwart zu lesen". Die Studie, die durch ein "Labyrinth" von kunsthistorischen "Haupt- und Nebenpfaden" führt, eröffne dem Leser einen "bisher verborgenen" Blick auf die Eigenarten des Moses und zollt dem Psychoanalytiker dennoch Tribut, wenn sie seinen Interpretationsfehler als Hinweis auf die politischen und persönlichen Ideale Freuds begreift. Ein Buch, das "im oberflächlichen Wirbel der Infotainment-Gesellschaft" angenehm in die Tiefe geht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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