In den "Exemplarischen Novellen" von 1613 legt Cervantes eine neuartige Erzählform vor, die sich nicht mehr an Boccaccios zügig auf einen Wendepunkt zustrebenden Novellen, sondern an längeren Erzählungen orientiert, wie sie als eingeschobene Geschichten in den spanischen Hirten- und Schelmenromanen des 16. Jahrhunderts und im "Don Quijote" von 1605 anzutreffen waren. Die inhaltlich anregenden Texte wollen nicht nur unterhalten; Ambivalenzen und Spuren feiner Ironie veranlassen den Leser, das Weltbild des habsburgischen Spaniens kritisch zu hinterfragen. Unterschiede zum konventionellen Denken zeigen sich etwa dort, wo es um die gesellschaftliche Stellung der Frau oder um die im Lande weit verbreitete Korruption geht. Trotz der herrschenden Zensur verbindet Cervantes die neue literarische Form mit Gesellschaftskritik und Satire und begründet so die ethische und ästhetische Beispielhaftigkeit dieser Novellen.