"Die Lohntüte lag noch auf dem Tisch. Meine Mutter hatte die Arme um die Taille meines Vaters geschlungen, den Kopf an seine Schulter gelegt. Sonnenschein."
Sonnenschein? Nein, 'Milch und Kohle' erzählt von einer anderen Welt Ende der sechziger Jahre. Der Vater, ein Hauer unter Tage: "Nur eine Stunde müßtet ihr mal da runter. Gestern bis zum Bauch im Wasser. Nie ein Stück Himmel." Doch pflichtbewußt fährt er zur Zeche - und trauert dem Leben als Melker in Norddeutschland nach, das er seiner Frau zuliebe aufgegeben hat. "Und warum?" fragt der fünfzehnjährige Simon seine Mutter. "Was ist besser hier, im Ruhrpott?" Die Antwort: "Hier ist Stadt: Asphaltierte Straßen, ein Fernseher, jeden Samstag Tanz bei 'Maus'..."
Und eines Tages bringt der Vater ein paar Kumpel mit nach Hause, die dem Arbeitsalltag so etwas wie Glanz geben mit ausgelassenen Festen. Die Mutter verliebt sich in Gino, den Italiener. Vor dem drohenden Unheil flieht Simon, indem er mit seinem Freund Pavel die Gegend auf der Zündapp durchstreift, pubertäre Abenteuer sucht. Bei seinem jüngeren Bruder Thomas, genannt Traska, verursacht die Sache mit der Mutter dagegen eine schreckliche, ja haarsträubende Reaktion...
Ralf Rothmanns Roman zeichnet ein Bild derer, die nicht herausfinden aus dem Dunkel bedrückender Verhältnisse - aber doch zu Größe kommen in der Erkenntnis, "daß die eigenen Wünsche und Hoffnungen niemals so stark und vollkommen sein können, wie das, was für einen vorgesehen ist".
Sonnenschein? Nein, 'Milch und Kohle' erzählt von einer anderen Welt Ende der sechziger Jahre. Der Vater, ein Hauer unter Tage: "Nur eine Stunde müßtet ihr mal da runter. Gestern bis zum Bauch im Wasser. Nie ein Stück Himmel." Doch pflichtbewußt fährt er zur Zeche - und trauert dem Leben als Melker in Norddeutschland nach, das er seiner Frau zuliebe aufgegeben hat. "Und warum?" fragt der fünfzehnjährige Simon seine Mutter. "Was ist besser hier, im Ruhrpott?" Die Antwort: "Hier ist Stadt: Asphaltierte Straßen, ein Fernseher, jeden Samstag Tanz bei 'Maus'..."
Und eines Tages bringt der Vater ein paar Kumpel mit nach Hause, die dem Arbeitsalltag so etwas wie Glanz geben mit ausgelassenen Festen. Die Mutter verliebt sich in Gino, den Italiener. Vor dem drohenden Unheil flieht Simon, indem er mit seinem Freund Pavel die Gegend auf der Zündapp durchstreift, pubertäre Abenteuer sucht. Bei seinem jüngeren Bruder Thomas, genannt Traska, verursacht die Sache mit der Mutter dagegen eine schreckliche, ja haarsträubende Reaktion...
Ralf Rothmanns Roman zeichnet ein Bild derer, die nicht herausfinden aus dem Dunkel bedrückender Verhältnisse - aber doch zu Größe kommen in der Erkenntnis, "daß die eigenen Wünsche und Hoffnungen niemals so stark und vollkommen sein können, wie das, was für einen vorgesehen ist".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2000Hüftkreiseln vor Herdplatten
Ralf Rothmanns Fernwehroman · Von Thomas Wirtz
Es gibt Tanzanleitungen, die vor allem frisch gebadeten Rauchern einleuchten: "Du stellst einen Fuß vor und tust, als würdest du mit der Schuhspitze eine Kippe ausdrücken, so. Und die Arme und Hände bewegst du, als würdest du dir mit einem Handtuch den Rücken abfrottieren, so. Das ist alles. Dabei gehst du runter, runter - und wieder hoch. Und dann den anderen Fuß vor, Kippe ausdrücken, Kreuz frottieren, runter, hoch - und immer schneller."
Twist ist die bewegte Allegorie der frühen sechziger Jahre: ein Stillstand bei durchrüttelnder Körperunruhe, eine Standorttreue mit vergeblichen Ausbruchsversuchen im Hüftbereich. Raum lässt sich so nicht erobern; zu bodenständig bleiben die Füße, um Ansprüche an die unendliche Weite einer Tanzfläche anzumelden. Twist ist deshalb ein Angebot für Wohnküchengefangene, die zwischen Herdplatte und Einbauschrank ihren einen Quadratmeter nicht verlassen dürfen. Wo der Walzer weit in die feudal verteilte Fläche ausgreift und der Tango zuallerletzt an Bratengeruch denken lässt, empfiehlt sich der Twist als Lockerungsübung zwischen anderen Hausarbeiten. Deshalb besitzt seine Beschreibung mittels Handtuch und Zigarettenrest zu Recht den Charme von Küchenpoesie. Twist ist das Surrogat freiheitssüchtiger Hausfrauen, die das leicht anbrennende Fleisch dennoch nicht aus den Augen verlieren wollen.
Dieses Einzelkämpfertum, das sich aus dem Griff des Tanzpartners gelöst hat und dennoch nicht von der eingewurzelten Stelle kann, hatte im Ruhrgebiet seine einsichtigsten Anhänger. Es ist das Rothmann-Land, das auch von dem neuen Roman "Milch und Kohle" bis in die geteerten Winkel hinein vermessen wird. Dort, wo schon der Wind mit Staublunge bläst und die Häuser samt ihren Bewohnern Bergschäden erleiden, hat Ralf Rothmann sein ganzes Werk zwischen Fördertürmen und Taubenschlägen verspannt. Seit seinem ersten Roman "Stier" horcht er diese "Herzgrube der Nation" auf Rhythmusstörungen ab, klopft ihr herzhaft die Kohle aus der Lunge und sucht die künstlerische Beatmung durch Flucht.
Denn das Ruhrgebiet ist ihm eine Heimat, die nur mit Fernweh zu ertragen ist. Erst ist Berlin, wo die Helden seiner früheren Bücher Unterschlupf fanden, baut sich die kohlenschwarze Kindheit in der Erinnerung farbenfroher wieder auf. Diese Gedankenspiele sind dem Twist ähnlich: All seine jungen Männer wollen unter dem grauen Himmel weglaufen und den Horizont hinter den Halden erreichen, doch von der Stelle kommen sie eigentlich nicht.
Auch in "Milch und Kohle" erscheint dem Leser deshalb vieles vertraut. Das Buch scheint eine weitere Variante des einen Rothmann'schen Urromans zu sein, ein neuer Gang im Zeilenbergbau, der Bekanntes zutage fördert. Vor allem die Biografie des Helden Simon Wess ist die eines Wiedergängers. Wie vor ihm schon Kai Carlsen oder Louis Blaul erzählt er aus der Ich-Perspektive seine Flucht zum Schriftsteller-Dasein, seinen Ausbruch aus der verklemmten Wohnküche in die weite Welt, wo er nur die Enge seiner zurückgelassenen ersten Jahre konservieren will und sie deshalb zum Gegenstand seines Schreibens macht. Auch er ist ein Schriftsteller, der im eigenen Seelenflöz Schwerstarbeit leistet. Jetzt muss er in der Rahmenhandlung ins Ruhrgebiet zurückkehren, um seine Mutter zu beerdigen.
Anders als seine Romanvorgänger besitzt Simon nicht den burlesken Sprachton, der sich vergangener Katastrophen mit Leichtzüngigkeit erwehrt. Mit seinen fünfzehn Jahren ist er zu sehr von seinem eigenen Körper verschüchtert, um schon jetzt die lautstarke Familie zu fliehen. Diese Verhaltenheit im Ton ist neu bei Rothmann, und für seinen Roman ist sie ein großer Gewinn. Denn sie macht Simon zu einem Beobachter, der mit seiner Unauffälligkeit das zerstörerische Leben der anderen nicht unterbricht. Wo die Helden zuvor das Leben nur deshalb ertrugen, weil sie ihm einen Spracheinfall abgewannen oder mit einer Metapher die geschlagene Wunde zudeckten, registriert Simon die Ereignisse wie ein unbeteiligter Chronist. Er ist dabei, doch nicht mittendrin; er nimmt teil nicht mit der Souveränität des Verklärers, sondern mit dem genauen Gedächtnis eines Unberührbaren. Dieses Paradox einer unmittelbar beteiligten Ferne gibt den Lebensuntergängen der anderen Würde: Die Figuren sind in dem Maße wichtiger geworden, wie sie dem selbstdarstellenden Witz des Erzählers nicht mehr ausgeliefert sind.
Umkreist von ihrem halbwüchsigen Beobachter wird die Mutter. Sie ist Insasse und versuchte Ausbrecherin der Wohnküche, ihr Twist ein Davonlaufen in jedem Drehmoment. Auch sie gehört zum festen Personal der Rothmann'schen Dramenwelt, eine imaginäre Schwester von Marianne aus dem zuletzt erschienenen Buch "Flieh, mein Freund!". Beide Frauen geben zu verstehen, dass ihre Sehnsucht nach dem wirklicheren Leben kein Familienunternehmen sein kann. Wo die Vorgängerin mit Hasch die Sozialgrenzen überflog oder tatsächlich grußlos über Wochen verschwand, flüchtet Simons Mutter in den samstäglichen Tanzabend der Gaststätte Maus. Im Revier ist er der Schauplatz für den kontrollierten Unzuchtversuch, das vorbereitende Nagellacken eine Körperkriegsbemalung. Der Sohn bewundert diesen Egoismus und wird ihn im Schreiben nachahmen. Hier begegnet ihm eine Lebensgier, die das Opfer wert ist.
Wie eng die Romane miteinander verzahnt sind, wie hartnäckig sie die wenigen Biografien gleich einer Twistbewegung auf der Stelle weiterdrehen, zeigt ein Blick in Rothmanns ersten Roman "Stier" von 1991. Irgendwo heißt es dort über einen Hausfreund: "Er konnte wunderbar kochen, war witzig, klug, sah sehr gut aus, hieß auch noch Gino Perfetto." Während er mit diesem einen Nebensatz damals aus dem Buch verschwand, taucht er in "Milch und Kohle" als Auslöser der Familienkatastrophe wieder auf. Gino Perfettos Kochkunst, das plötzliche Auftauchen von gebratenen Sardinen im Sauerbraten-Revier, ist das Versprechen eines anderen Lebens. Simons Mutter greift nach der verbotenen Meeresfrucht und bricht aus dem Ehebett in ein anderes Verhältnis aus. Der Reigen an Gewalt, der sich daran anknüpft, wird von Simon mit unbeeindruckter Chronistenpflicht erinnert. Die ausgeteilten Schläge, die selbstzerstörerischen Krämpfe seines Bruders finden in ihm keinen Richter. In dieser mitleidlosen, zupackenden Welt, die mit Handgreiflichkeiten verständlich spricht, sind Konflikte so wenig therapierbar wie Sehnsüchte. Beide gilt es nur zu überleben.
"Milch und Kohle" beweist, dass die Variationen des einen Urromans nicht mit seiner gelangweilten Wiederholung zu verwechseln sind. Ralf Rothmann ist seinen alten Ideen treu geblieben: der Brutalität des Lebenswillens, der Schwärze und folglich Lebensfarbengier des Ruhrgebiets, dem Schreiben als einer anderen Art des Familienalbums. Seine früheren Romane haben daraus zuweilen Schelmenstücke gemacht, die mit dem grotesken Witz auch die körperliche Gewalt dieser literarischen Tradition teilten. Das neue Buch nun verdichtet alle diese Motive zu einem intensiveren Kammerspiel. Der Blick verengt sich auf eine Kleinstbürgerwelt, die mit ihrer Banalität an Unausweichlichkeit gewinnt. Das Kommen und Gehen von Randfiguren unterbleibt, die zuvor für Entlastung sorgten. Mit diesem Verzicht auf die überdrehte Ablenkung erhöht sich der Druck im Familieninnern. Kein Sprachwitz befreit aus der Enge, keine exzentrische Geste eröffnet Ausweichräume, wenn die Figuren ihre bürgerliche Bahn verlassen haben. "Milch und Kohle" ist ein Besuch in der Rothmann-Welt, der sich die gute Ausflugslaune versagt hat.
Zu dieser größeren Geradlinigkeit passt der melancholische Epilog. Rothmanns Romane waren immer auch späte Nachkommen des Bildungsromans, die Flucht des Helden aus dem Milieu ein Ankommen im Schreiben. Auch Simon ende wohl als erfolgreicher Autor, der seine Herkunft zur niedergeschriebenen Erinnerung verwerten kann. "Studium der Stille" heißt eines der bisher erschienenen Bücher. Doch auf diese klassische Rettung in der Schrift fällt nun ein selbstironischer Schatten. Auf einer Vortragsreise in Japan anlässlich einer Buchübersetzung nimmt Simon an einer Meditationsübung im Zen-Kloster teil. Die versuchte Selbstauslöschung, das von der Zen-Religion versprochene Denken des Nichtdenken, bezahlt er mit westeuropäischen Gliederkrämpfen und einem kollabierendem Kreislauf. Den Mönch aber, der ihn hinterrücks zum Durchhalten auffordert, erkennt er an der Stimme als seinen verschwundenen Jugendfreund Pavel. Er war damals aus dem Revier ausgebrochen, weil er die Aussicht auf den Bausparvertrag und die Mitgliedschaft im Taubenzuchtverein nicht ertragen konnte. Nun führt er eine gesichtslose, ichenthobene Existenz im Kloster, eine reine Stimme, die in einem neuen Rufnamen angekommen ist: Bonnô, das ist "Staub, der einen Besuch abstattet". Pavel hat sich ins Nichts verbrannt.
Dahinter bleibt Simons ungenaues Schreiben zurück. Die neue Relativität der Bildungsschreibidee lässt die Rothmann-Welt in den Fugen knarren. Zwar hält sie an der bürgerlichen Idee eines gelingenden Selbstentwurfs fest, doch der Inhalt dieser Idee ist mit dem bürgerlichen Ende, der Entindividualisierung, gleichbedeutend. Rothmann widerruft nicht die Hoffnung, doch das Gerettete ist nicht mehr von dieser, der klassischen Welt; das vollendete Buch ist nicht länger der Beweis eines sinnvollen Lebens. Zur Tugend dieses geradlinigen Romans gehört, dass er an seinem eigenen Gelingen zweifelt.
Ralf Rothmann: "Milch und Kohle". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 211 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ralf Rothmanns Fernwehroman · Von Thomas Wirtz
Es gibt Tanzanleitungen, die vor allem frisch gebadeten Rauchern einleuchten: "Du stellst einen Fuß vor und tust, als würdest du mit der Schuhspitze eine Kippe ausdrücken, so. Und die Arme und Hände bewegst du, als würdest du dir mit einem Handtuch den Rücken abfrottieren, so. Das ist alles. Dabei gehst du runter, runter - und wieder hoch. Und dann den anderen Fuß vor, Kippe ausdrücken, Kreuz frottieren, runter, hoch - und immer schneller."
Twist ist die bewegte Allegorie der frühen sechziger Jahre: ein Stillstand bei durchrüttelnder Körperunruhe, eine Standorttreue mit vergeblichen Ausbruchsversuchen im Hüftbereich. Raum lässt sich so nicht erobern; zu bodenständig bleiben die Füße, um Ansprüche an die unendliche Weite einer Tanzfläche anzumelden. Twist ist deshalb ein Angebot für Wohnküchengefangene, die zwischen Herdplatte und Einbauschrank ihren einen Quadratmeter nicht verlassen dürfen. Wo der Walzer weit in die feudal verteilte Fläche ausgreift und der Tango zuallerletzt an Bratengeruch denken lässt, empfiehlt sich der Twist als Lockerungsübung zwischen anderen Hausarbeiten. Deshalb besitzt seine Beschreibung mittels Handtuch und Zigarettenrest zu Recht den Charme von Küchenpoesie. Twist ist das Surrogat freiheitssüchtiger Hausfrauen, die das leicht anbrennende Fleisch dennoch nicht aus den Augen verlieren wollen.
Dieses Einzelkämpfertum, das sich aus dem Griff des Tanzpartners gelöst hat und dennoch nicht von der eingewurzelten Stelle kann, hatte im Ruhrgebiet seine einsichtigsten Anhänger. Es ist das Rothmann-Land, das auch von dem neuen Roman "Milch und Kohle" bis in die geteerten Winkel hinein vermessen wird. Dort, wo schon der Wind mit Staublunge bläst und die Häuser samt ihren Bewohnern Bergschäden erleiden, hat Ralf Rothmann sein ganzes Werk zwischen Fördertürmen und Taubenschlägen verspannt. Seit seinem ersten Roman "Stier" horcht er diese "Herzgrube der Nation" auf Rhythmusstörungen ab, klopft ihr herzhaft die Kohle aus der Lunge und sucht die künstlerische Beatmung durch Flucht.
Denn das Ruhrgebiet ist ihm eine Heimat, die nur mit Fernweh zu ertragen ist. Erst ist Berlin, wo die Helden seiner früheren Bücher Unterschlupf fanden, baut sich die kohlenschwarze Kindheit in der Erinnerung farbenfroher wieder auf. Diese Gedankenspiele sind dem Twist ähnlich: All seine jungen Männer wollen unter dem grauen Himmel weglaufen und den Horizont hinter den Halden erreichen, doch von der Stelle kommen sie eigentlich nicht.
Auch in "Milch und Kohle" erscheint dem Leser deshalb vieles vertraut. Das Buch scheint eine weitere Variante des einen Rothmann'schen Urromans zu sein, ein neuer Gang im Zeilenbergbau, der Bekanntes zutage fördert. Vor allem die Biografie des Helden Simon Wess ist die eines Wiedergängers. Wie vor ihm schon Kai Carlsen oder Louis Blaul erzählt er aus der Ich-Perspektive seine Flucht zum Schriftsteller-Dasein, seinen Ausbruch aus der verklemmten Wohnküche in die weite Welt, wo er nur die Enge seiner zurückgelassenen ersten Jahre konservieren will und sie deshalb zum Gegenstand seines Schreibens macht. Auch er ist ein Schriftsteller, der im eigenen Seelenflöz Schwerstarbeit leistet. Jetzt muss er in der Rahmenhandlung ins Ruhrgebiet zurückkehren, um seine Mutter zu beerdigen.
Anders als seine Romanvorgänger besitzt Simon nicht den burlesken Sprachton, der sich vergangener Katastrophen mit Leichtzüngigkeit erwehrt. Mit seinen fünfzehn Jahren ist er zu sehr von seinem eigenen Körper verschüchtert, um schon jetzt die lautstarke Familie zu fliehen. Diese Verhaltenheit im Ton ist neu bei Rothmann, und für seinen Roman ist sie ein großer Gewinn. Denn sie macht Simon zu einem Beobachter, der mit seiner Unauffälligkeit das zerstörerische Leben der anderen nicht unterbricht. Wo die Helden zuvor das Leben nur deshalb ertrugen, weil sie ihm einen Spracheinfall abgewannen oder mit einer Metapher die geschlagene Wunde zudeckten, registriert Simon die Ereignisse wie ein unbeteiligter Chronist. Er ist dabei, doch nicht mittendrin; er nimmt teil nicht mit der Souveränität des Verklärers, sondern mit dem genauen Gedächtnis eines Unberührbaren. Dieses Paradox einer unmittelbar beteiligten Ferne gibt den Lebensuntergängen der anderen Würde: Die Figuren sind in dem Maße wichtiger geworden, wie sie dem selbstdarstellenden Witz des Erzählers nicht mehr ausgeliefert sind.
Umkreist von ihrem halbwüchsigen Beobachter wird die Mutter. Sie ist Insasse und versuchte Ausbrecherin der Wohnküche, ihr Twist ein Davonlaufen in jedem Drehmoment. Auch sie gehört zum festen Personal der Rothmann'schen Dramenwelt, eine imaginäre Schwester von Marianne aus dem zuletzt erschienenen Buch "Flieh, mein Freund!". Beide Frauen geben zu verstehen, dass ihre Sehnsucht nach dem wirklicheren Leben kein Familienunternehmen sein kann. Wo die Vorgängerin mit Hasch die Sozialgrenzen überflog oder tatsächlich grußlos über Wochen verschwand, flüchtet Simons Mutter in den samstäglichen Tanzabend der Gaststätte Maus. Im Revier ist er der Schauplatz für den kontrollierten Unzuchtversuch, das vorbereitende Nagellacken eine Körperkriegsbemalung. Der Sohn bewundert diesen Egoismus und wird ihn im Schreiben nachahmen. Hier begegnet ihm eine Lebensgier, die das Opfer wert ist.
Wie eng die Romane miteinander verzahnt sind, wie hartnäckig sie die wenigen Biografien gleich einer Twistbewegung auf der Stelle weiterdrehen, zeigt ein Blick in Rothmanns ersten Roman "Stier" von 1991. Irgendwo heißt es dort über einen Hausfreund: "Er konnte wunderbar kochen, war witzig, klug, sah sehr gut aus, hieß auch noch Gino Perfetto." Während er mit diesem einen Nebensatz damals aus dem Buch verschwand, taucht er in "Milch und Kohle" als Auslöser der Familienkatastrophe wieder auf. Gino Perfettos Kochkunst, das plötzliche Auftauchen von gebratenen Sardinen im Sauerbraten-Revier, ist das Versprechen eines anderen Lebens. Simons Mutter greift nach der verbotenen Meeresfrucht und bricht aus dem Ehebett in ein anderes Verhältnis aus. Der Reigen an Gewalt, der sich daran anknüpft, wird von Simon mit unbeeindruckter Chronistenpflicht erinnert. Die ausgeteilten Schläge, die selbstzerstörerischen Krämpfe seines Bruders finden in ihm keinen Richter. In dieser mitleidlosen, zupackenden Welt, die mit Handgreiflichkeiten verständlich spricht, sind Konflikte so wenig therapierbar wie Sehnsüchte. Beide gilt es nur zu überleben.
"Milch und Kohle" beweist, dass die Variationen des einen Urromans nicht mit seiner gelangweilten Wiederholung zu verwechseln sind. Ralf Rothmann ist seinen alten Ideen treu geblieben: der Brutalität des Lebenswillens, der Schwärze und folglich Lebensfarbengier des Ruhrgebiets, dem Schreiben als einer anderen Art des Familienalbums. Seine früheren Romane haben daraus zuweilen Schelmenstücke gemacht, die mit dem grotesken Witz auch die körperliche Gewalt dieser literarischen Tradition teilten. Das neue Buch nun verdichtet alle diese Motive zu einem intensiveren Kammerspiel. Der Blick verengt sich auf eine Kleinstbürgerwelt, die mit ihrer Banalität an Unausweichlichkeit gewinnt. Das Kommen und Gehen von Randfiguren unterbleibt, die zuvor für Entlastung sorgten. Mit diesem Verzicht auf die überdrehte Ablenkung erhöht sich der Druck im Familieninnern. Kein Sprachwitz befreit aus der Enge, keine exzentrische Geste eröffnet Ausweichräume, wenn die Figuren ihre bürgerliche Bahn verlassen haben. "Milch und Kohle" ist ein Besuch in der Rothmann-Welt, der sich die gute Ausflugslaune versagt hat.
Zu dieser größeren Geradlinigkeit passt der melancholische Epilog. Rothmanns Romane waren immer auch späte Nachkommen des Bildungsromans, die Flucht des Helden aus dem Milieu ein Ankommen im Schreiben. Auch Simon ende wohl als erfolgreicher Autor, der seine Herkunft zur niedergeschriebenen Erinnerung verwerten kann. "Studium der Stille" heißt eines der bisher erschienenen Bücher. Doch auf diese klassische Rettung in der Schrift fällt nun ein selbstironischer Schatten. Auf einer Vortragsreise in Japan anlässlich einer Buchübersetzung nimmt Simon an einer Meditationsübung im Zen-Kloster teil. Die versuchte Selbstauslöschung, das von der Zen-Religion versprochene Denken des Nichtdenken, bezahlt er mit westeuropäischen Gliederkrämpfen und einem kollabierendem Kreislauf. Den Mönch aber, der ihn hinterrücks zum Durchhalten auffordert, erkennt er an der Stimme als seinen verschwundenen Jugendfreund Pavel. Er war damals aus dem Revier ausgebrochen, weil er die Aussicht auf den Bausparvertrag und die Mitgliedschaft im Taubenzuchtverein nicht ertragen konnte. Nun führt er eine gesichtslose, ichenthobene Existenz im Kloster, eine reine Stimme, die in einem neuen Rufnamen angekommen ist: Bonnô, das ist "Staub, der einen Besuch abstattet". Pavel hat sich ins Nichts verbrannt.
Dahinter bleibt Simons ungenaues Schreiben zurück. Die neue Relativität der Bildungsschreibidee lässt die Rothmann-Welt in den Fugen knarren. Zwar hält sie an der bürgerlichen Idee eines gelingenden Selbstentwurfs fest, doch der Inhalt dieser Idee ist mit dem bürgerlichen Ende, der Entindividualisierung, gleichbedeutend. Rothmann widerruft nicht die Hoffnung, doch das Gerettete ist nicht mehr von dieser, der klassischen Welt; das vollendete Buch ist nicht länger der Beweis eines sinnvollen Lebens. Zur Tugend dieses geradlinigen Romans gehört, dass er an seinem eigenen Gelingen zweifelt.
Ralf Rothmann: "Milch und Kohle". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 211 S., geb., 36,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eingehend und mit großer Wärme spricht Thomas Wirtz über diesen neuen Roman von Ralf Rothmann, der wie immer bei diesem Autor im Ruhrgebiet spielt. Anders als in den früheren Bücher konstatiert der Rezensent in "Milch und Kohle" einen weniger schnoddrigen Ton, der Rothmann aber gut bekomme und den Roman zu einem "intensiveren Kammerspiel" werden lasse. Da sich Rothmanns Helden aus der tristen Realität des Ruhrgebiets fast immer ins Schreiben flüchten, erkennt Wirtz in seinen Büchern "späte Nachkommen des Bildungsromans" - neu seien hier eine Selbstironie und ein sympathisches Zweifeln an seinem eigenen Gelingen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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