Als Raffaele Cameroni eines Tages die liebevoll verwahrten Milchzähne seiner Söhne entsorgt, ist es um die Ehe zwischen ihm und Isabel endgültig geschehen. Dabei hatte alles so gut angefangen, 1937, als Raffaele als italienischer Soldat nach Spanien kam, um im Bürgerkrieg auf der Seite der Nationalisten zu kämpfen. Nach dem Krieg bleibt er und versucht, seine italienische Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber die holt ihn irgendwann unerbittlich ein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2009Die Zahnfee der Revolution
Ignacio Martínez de Pisón erzählt eine Familiengeschichte, in der sich der ideologische Irrsinn des spanischen Jahrhunderts offenbart.
Von Paul Ingendaay
Ob Literatur ein Gradmesser dafür ist, was in der Gesellschaft vorgeht, weiß kein Mensch, vielleicht bildet sie ja nur die inneren Landschaften der Exzentriker ab. Doch wäre sie es, könnte der spanische Schriftsteller Ignacio Martínez de Pisón, Jahrgang 1960, uns womöglich zeigen, wie man in seinem Land in zwei oder drei Jahrzehnten denkt. Wenn alles gutgeht. Denn seine Romane und Sachbücher, die so zuverlässig die Konflikte einer zerrissenen Gesellschaft aufspüren - von Bürgerkrieg und Diktatur zu einer unabgeschlossenen Geschichtsbewältigung -, lassen das immer wieder nervtötende Rechts-links-Muster seiner Zeitgenossen hinter sich und sind schon längst beim nächsten Thema: wie es sich denn so lebt mit derart durcheinandergeratenem Gepäck - dort, wo es zählt, im Privatesten und Kleinsten.
Zwar rührt die Zeitgeschichte manchmal mit großem Löffel im Leben der Einzelnen herum, doch "Diktatur", "Ideologie", "Faschismus" oder "die Roten" sind nicht die Begriffe, in denen man die ganze Existenz wiedererkennen würde. Wichtig ist vielmehr, ob jemand (unter welchen Bedingungen auch immer) gelogen oder die Wahrheit gesagt hat. Ob er die Kraft zur Entschuldigung fand. Ob er die Milchzähne der Kleinen aufbewahrt oder nicht. Kurz, Martínez de Pisóns Thema ist der häusliche Kuddelmuddel, der immer übrigbleibt, wenn die Fernsehnachrichten abgeschaltet und die Geschichtsbücher zugeklappt sind.
Sein neuer Roman "Milchzähne" setzt mit einer beiläufigen Szene ein, hinter der sich der ganze ideologische Irrsinn des spanischen Jahrhunderts verbirgt. Unter den Kindheitsfotos eines jungen Spaniers, Juan Cameroni, befindet sich eines, auf dem er mit seinem Großvater Raffaele zu sehen ist, "beide lächelnd, im schwarzen Hemd und den Arm zum faschistischen Gruß erhoben". Ein solcherart salutierendes Kind schmückt auch das Cover des Romans. Schlimm, denkt man sofort, der arme Kleine kann doch noch gar nicht wissen, was sein erhobener Arm bedeutet. Kennt man den Roman, sieht man es womöglich differenzierter. Denn der frühe Drill und die Indoktrination eines wehrlosen Gemüts sind nur ein verdichteter Ausdruck dafür, dass Erwachsene ihre Überzeugungen an die nächste und übernächste Generation weiterreichen, weil sie nicht anders können. Sie tun eben, was sie für richtig halten, "nach bestem Wissen und Gewissen", wie die Formel lautet.
Im Fall der Familie Cameroni geht dabei ungewöhnlich viel schief. Über ein halbes Jahrhundert, vom Bürgerkrieg bis zur Mitte der achtziger Jahre, der Frühzeit der González-Regierung, spannt der Autor den Bogen seiner Saga. Erzählt wird von Raffaele, der als italienischer Brigadist nach Spanien geht, um für Francos Aufständische zu kämpfen, der sich in Isabel verliebt, ihren Vater vor dem sicheren Tod bewahrt und dafür die dankbare Tochter heiraten darf; von der Firma für italienische Teigwaren in Saragossa, die eine Zeitlang die geborgenen Leichen italienischer Faschisten beherbergt (Martínez de Pisón hat einen trockenen, gelegentlich makabren Humor) und der Familie einen gewissen Wohlstand beschert; vom Aufwachsen der unterschiedlichen Söhne, dem Auseinanderbrechen der Ehe und der dritten Generation der Cameronis, ebenjenem Juan, der am Anfang des Romans als Knirps in schwarzem Hemd neben seinem Großvater vor dem Spiegel steht und den Arm zum faschistischen Gruß hebt.
Spaniens Historie dient nicht als literarischer Geschmacksverstärker.
Die ironische Pointe ist nun, dass Streit und Bitterkeit nicht durch politische Differenzen entstehen, sondern durch eine Lebenslüge. Raffaele hat seinerzeit in Italien eine Frau und eine behinderte Tochter zurückgelassen, lebt also in Bigamie. Als der älteste Sohn das Geheimnis aufdeckt, gerät das Familienboot in schwerstes Wetter. Der Autor erweckt nicht den Eindruck, er wolle uns damit etwas lehren. Er findet wohl einfach Gefallen daran, komplizierte Familienverhältnisse zu durchleuchten und mit gleichmütigem Blick die Schäfchen zu zählen: den ältesten Sohn Rafael, der die Schuld des Vaters nicht erträgt; Alberto, den mittleren, der als Einziger eine Familie gründet; und Paquito, den geistig behinderten dritten, an dem sich das Schicksal von Raffaeles verleugnetem ersten Kind wiederholt. Literarisch ist das Ganze kurios. Auf knapp vierhundert Seiten steht kein einziger brillanter Satz, keine einzige originelle Formulierung, und manchmal wirkt es, als habe der Autor einen Grauschleier über seine Prosa geworfen. An der Übersetzung von Sybille Martin liegt es nicht, sie ist bis auf einen schreienden grammatikalischen Patzer auf Seite 283 durchweg überzeugend. Nach einiger Zeit jedoch nimmt einen dieses ruhige Erzählen ein, wird sympathisch und zum Beweis für etwas Größeres: dass der Autor allem misstraut, was man "schönes Schreiben" nennt. Womöglich ist er der Meinung, die Stärke eines Romans bemesse sich eher an seiner Haltung gegenüber der Welt als am Klang seiner Sprache.
Man lernt auch etwas dabei. Anders als manch ein Kollege benutzt Martínez de Pisón die blutige spanische Geschichte nicht als literarischen Geschmacksverstärker. Für ihn ist sie der unausweichliche Hintergrund allen Handelns, und jeder, der sich ernsthaft damit beschäftigt, kann durch Verstehen besser werden. So entwickelt der Roman seinen Reiz durch geduldiges Hinzufügen, Aneinanderreihen und Stapeln, was die Kunst aller Chronisten ist, und wenn der Stil selbst schon nicht leuchtet, tut es die Lebensklugheit dieses wahrhaft unparteiischen Autors. "Milchzähne" konnte nur von einem geschrieben werden, der alle seine Figuren auf die gleiche Weise liebt.
Ignacio Martínez de Pisón: "Milchzähne". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Sybille Martin. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 384 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ignacio Martínez de Pisón erzählt eine Familiengeschichte, in der sich der ideologische Irrsinn des spanischen Jahrhunderts offenbart.
Von Paul Ingendaay
Ob Literatur ein Gradmesser dafür ist, was in der Gesellschaft vorgeht, weiß kein Mensch, vielleicht bildet sie ja nur die inneren Landschaften der Exzentriker ab. Doch wäre sie es, könnte der spanische Schriftsteller Ignacio Martínez de Pisón, Jahrgang 1960, uns womöglich zeigen, wie man in seinem Land in zwei oder drei Jahrzehnten denkt. Wenn alles gutgeht. Denn seine Romane und Sachbücher, die so zuverlässig die Konflikte einer zerrissenen Gesellschaft aufspüren - von Bürgerkrieg und Diktatur zu einer unabgeschlossenen Geschichtsbewältigung -, lassen das immer wieder nervtötende Rechts-links-Muster seiner Zeitgenossen hinter sich und sind schon längst beim nächsten Thema: wie es sich denn so lebt mit derart durcheinandergeratenem Gepäck - dort, wo es zählt, im Privatesten und Kleinsten.
Zwar rührt die Zeitgeschichte manchmal mit großem Löffel im Leben der Einzelnen herum, doch "Diktatur", "Ideologie", "Faschismus" oder "die Roten" sind nicht die Begriffe, in denen man die ganze Existenz wiedererkennen würde. Wichtig ist vielmehr, ob jemand (unter welchen Bedingungen auch immer) gelogen oder die Wahrheit gesagt hat. Ob er die Kraft zur Entschuldigung fand. Ob er die Milchzähne der Kleinen aufbewahrt oder nicht. Kurz, Martínez de Pisóns Thema ist der häusliche Kuddelmuddel, der immer übrigbleibt, wenn die Fernsehnachrichten abgeschaltet und die Geschichtsbücher zugeklappt sind.
Sein neuer Roman "Milchzähne" setzt mit einer beiläufigen Szene ein, hinter der sich der ganze ideologische Irrsinn des spanischen Jahrhunderts verbirgt. Unter den Kindheitsfotos eines jungen Spaniers, Juan Cameroni, befindet sich eines, auf dem er mit seinem Großvater Raffaele zu sehen ist, "beide lächelnd, im schwarzen Hemd und den Arm zum faschistischen Gruß erhoben". Ein solcherart salutierendes Kind schmückt auch das Cover des Romans. Schlimm, denkt man sofort, der arme Kleine kann doch noch gar nicht wissen, was sein erhobener Arm bedeutet. Kennt man den Roman, sieht man es womöglich differenzierter. Denn der frühe Drill und die Indoktrination eines wehrlosen Gemüts sind nur ein verdichteter Ausdruck dafür, dass Erwachsene ihre Überzeugungen an die nächste und übernächste Generation weiterreichen, weil sie nicht anders können. Sie tun eben, was sie für richtig halten, "nach bestem Wissen und Gewissen", wie die Formel lautet.
Im Fall der Familie Cameroni geht dabei ungewöhnlich viel schief. Über ein halbes Jahrhundert, vom Bürgerkrieg bis zur Mitte der achtziger Jahre, der Frühzeit der González-Regierung, spannt der Autor den Bogen seiner Saga. Erzählt wird von Raffaele, der als italienischer Brigadist nach Spanien geht, um für Francos Aufständische zu kämpfen, der sich in Isabel verliebt, ihren Vater vor dem sicheren Tod bewahrt und dafür die dankbare Tochter heiraten darf; von der Firma für italienische Teigwaren in Saragossa, die eine Zeitlang die geborgenen Leichen italienischer Faschisten beherbergt (Martínez de Pisón hat einen trockenen, gelegentlich makabren Humor) und der Familie einen gewissen Wohlstand beschert; vom Aufwachsen der unterschiedlichen Söhne, dem Auseinanderbrechen der Ehe und der dritten Generation der Cameronis, ebenjenem Juan, der am Anfang des Romans als Knirps in schwarzem Hemd neben seinem Großvater vor dem Spiegel steht und den Arm zum faschistischen Gruß hebt.
Spaniens Historie dient nicht als literarischer Geschmacksverstärker.
Die ironische Pointe ist nun, dass Streit und Bitterkeit nicht durch politische Differenzen entstehen, sondern durch eine Lebenslüge. Raffaele hat seinerzeit in Italien eine Frau und eine behinderte Tochter zurückgelassen, lebt also in Bigamie. Als der älteste Sohn das Geheimnis aufdeckt, gerät das Familienboot in schwerstes Wetter. Der Autor erweckt nicht den Eindruck, er wolle uns damit etwas lehren. Er findet wohl einfach Gefallen daran, komplizierte Familienverhältnisse zu durchleuchten und mit gleichmütigem Blick die Schäfchen zu zählen: den ältesten Sohn Rafael, der die Schuld des Vaters nicht erträgt; Alberto, den mittleren, der als Einziger eine Familie gründet; und Paquito, den geistig behinderten dritten, an dem sich das Schicksal von Raffaeles verleugnetem ersten Kind wiederholt. Literarisch ist das Ganze kurios. Auf knapp vierhundert Seiten steht kein einziger brillanter Satz, keine einzige originelle Formulierung, und manchmal wirkt es, als habe der Autor einen Grauschleier über seine Prosa geworfen. An der Übersetzung von Sybille Martin liegt es nicht, sie ist bis auf einen schreienden grammatikalischen Patzer auf Seite 283 durchweg überzeugend. Nach einiger Zeit jedoch nimmt einen dieses ruhige Erzählen ein, wird sympathisch und zum Beweis für etwas Größeres: dass der Autor allem misstraut, was man "schönes Schreiben" nennt. Womöglich ist er der Meinung, die Stärke eines Romans bemesse sich eher an seiner Haltung gegenüber der Welt als am Klang seiner Sprache.
Man lernt auch etwas dabei. Anders als manch ein Kollege benutzt Martínez de Pisón die blutige spanische Geschichte nicht als literarischen Geschmacksverstärker. Für ihn ist sie der unausweichliche Hintergrund allen Handelns, und jeder, der sich ernsthaft damit beschäftigt, kann durch Verstehen besser werden. So entwickelt der Roman seinen Reiz durch geduldiges Hinzufügen, Aneinanderreihen und Stapeln, was die Kunst aller Chronisten ist, und wenn der Stil selbst schon nicht leuchtet, tut es die Lebensklugheit dieses wahrhaft unparteiischen Autors. "Milchzähne" konnte nur von einem geschrieben werden, der alle seine Figuren auf die gleiche Weise liebt.
Ignacio Martínez de Pisón: "Milchzähne". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Sybille Martin. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 384 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Auf vierhundert Seiten kein einziger brillanter Satz und dennoch gefällt Paul Ingendaay der Roman von Ignacio Martinez de Pison. An den Formulierungen also liegt es nicht und auch nicht am Geschichtspanorama, das diese über ein halbes Jahrhundert sich spannende Familiensaga grundiert, wenn Ingendaay dran bleibt. Woran liegt es dann? Erstens hält Ingendaay des Autors Handhabung von Zeitgeschichte für ziemlich interessant. Ideologische Grabenkämpfe nicht aufzublasen, sondern ihren Irrsinn im familiären, im privaten Rahmen (hier anhand einer Lebenslüge) sichtbar zu machen, erscheint Ingendaay spannend und effektiv. Zweitens aber ist es gerade der ruhige Gang der Erzählung, der unspektakuläre Stil des Chronisten, der Ingendaay schließlich sympathisch wird. Dies, weil er ihm die Lebensklugheit und die Unparteilichkeit eines Autors offenbart, der geduldig Schicht auf Schicht legt und seine Figuren "alle auf die gleiche Weise liebt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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