Milene, die Anstößige - kennt sie nicht die Rücksichten und das kluge Doppelspiel, womit die Vernünftigen sich in der Gesellschaft bewegen? Mit ihrer befremdlichen Direktheit bringt sie zwei streng getrennte Welten durcheinander. Und seltsam, am Ende ist sie, obwohl von ihrer Familie hintergangen, die einzige, die gefunden hat, was sie sucht.
Von ihren großspurigen Verwandten wird Milene, die als Waise bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist, als kindisch zurückgeblieben abgetan, und als sie nach dem Verschwinden und unwürdigen Tod der Großmutter nicht zurückfindet in ihre Welt, flüchtet sie sich zu der dunkelhäutigen und vielköpfigen Einwandererfamilie von den Kapverden, auf die sie bei der Suche nach ihrer Großmutter gestoßen war. Die Fremden nehmen Milene verwundert und liebevoll auf in ihre Welt. Als sie eine Liebesbeziehung mit Antonino, einem Sohn der schwarzen Matriarchin, eingeht und von einer Heirat nicht abzuhalten ist, zeigt sich Milenes bürgerliche Verwandtschaft in aller kalten Durchsetzungsfähigkeit. Aber es ist, als prallten die Pläne, in denen Milene nichts als ein Entsorgungsfall ist, an ihrer Unbekümmertheit, an ihrer so berührenden Direktheit ab.
Lídia Jorge ist eine psychologische Erzählerin von eindringlicher Kraft. Und sie ist eine große Realistin, der es gelingt, mit Milenes Geschichte ein ganzes Gesellschaftsbild aus unserer Gegenwart zu zeichnen.
Von ihren großspurigen Verwandten wird Milene, die als Waise bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist, als kindisch zurückgeblieben abgetan, und als sie nach dem Verschwinden und unwürdigen Tod der Großmutter nicht zurückfindet in ihre Welt, flüchtet sie sich zu der dunkelhäutigen und vielköpfigen Einwandererfamilie von den Kapverden, auf die sie bei der Suche nach ihrer Großmutter gestoßen war. Die Fremden nehmen Milene verwundert und liebevoll auf in ihre Welt. Als sie eine Liebesbeziehung mit Antonino, einem Sohn der schwarzen Matriarchin, eingeht und von einer Heirat nicht abzuhalten ist, zeigt sich Milenes bürgerliche Verwandtschaft in aller kalten Durchsetzungsfähigkeit. Aber es ist, als prallten die Pläne, in denen Milene nichts als ein Entsorgungsfall ist, an ihrer Unbekümmertheit, an ihrer so berührenden Direktheit ab.
Lídia Jorge ist eine psychologische Erzählerin von eindringlicher Kraft. Und sie ist eine große Realistin, der es gelingt, mit Milenes Geschichte ein ganzes Gesellschaftsbild aus unserer Gegenwart zu zeichnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2006In den Fängen der Familie
Portugiesische Abgründe: Lídia Jorge erzählt ein Frauenschicksal
"Abyssus abyssum invocat." Allerorts hallt die dunkle Sentenz in Lídia Jorges jüngstem Erzählwerk wider. Sich von diesem leitmotivischen Abgrund nicht verschlingen zu lassen, ist der unbeirrbare und doch dem Unheil geweihte Wunsch seiner Titelheldin. Von klein auf geschlagen "mit einem Namen wie aus einem Groschenroman" sowie einer Denkgeschwindigkeit, die der modernen Welt stetig zuwiderläuft, sucht Milene ihren Ausweg aus dem Strudel. Dennoch lauert dieser allenthalben, ob nun durch Schicksalsmächte gebildet oder durch die ebenso diabolischen wie diskreten Intrigen ihrer Familie.
Nicht zu Unrecht haben sich Milene die Warnungen ihres nach Amerika emigrierten Lieblingscousins João Paulo aus Kinderzeiten tief eingeprägt: "Das große Problem ist, nicht die Schuhspitze an den Rand des Abgrunds zu setzen. Man stürzt so leicht in den Abgrund, es ist so einfach, so angenehm, man muß nur die Augen schließen und weitergehen. Aber auszuhalten zu lernen, daß es einfach ist, das ist schwierig." Aus der Perspektive ihrer als Kind traumatisierten und von den Ärzten mangels anderer Erklärungsmittel durch das Etikett der "Oligophrenie" aus der Erwachsenenwelt ausgemusterten Heldin Milene wirft die große portugiesische Schriftstellerin einen Vexierblick auf das heutige Portugal: einen Blick, der sich, trotz Jorges vielbemühten Epithetons einer "realistischen Erzählerin", der planen Wiedergabe der Wirklichkeit stetig widersetzt.
Aus dem Lokalpatriziertum eines Nests in der Algarve entsprungen, Lídia Jorges eigener Heimat, kompensiert Milene, die ziel- und berufslos noch immer das Leben einer Halbwüchsigen führt, ihre fehlende Funktionsfähigkeit in einer Leistungsgesellschaft durch die Fürsorge ihrer Großmutter, Oberhaupt der Leandro-Dynastie. Als Großmutter eines Sommers tot vor den Toren jener "Alten Fabrik" aufgefunden wird, wo das Vermögen der Leandros einst seinen Ursprung nahm, bedroht das Nichts mit nie gekannter Macht die inzwischen dreißigjährige Waise. Milene, die es soeben entgegen ihrer vermeintlichen Zurückgebliebenheit ganz alleine meistern mußte, in Abwesenheit der urlaubsbedingt verreisten Restfamilie ein christliches Begräbnis zu organisieren, ist mit einem Mal der Geldgier, den politischen Klüngeln und Eitelkeiten der Erbengemeinschaft ausgesetzt.
Zuflucht findet sie ausgerechnet am Todesort der Großmutter, jener stillgelegten Fabrik, die im Familienkreis nostalgisch das "Juwel" genannt wird. Gegenwärtig wird sie bewohnt von einer Familie kapverdischer Untermieter, von den Leandros nur abschätzig als die "dritte Welle" abgetan - Nachfolger der "zweiten Welle" einer aufmüpfigen Arbeiterschaft, die in den siebziger Jahren das patriarchalische Familienunternehmen in einen Kollektivbetrieb umgewandelt und an den Rand des Ruins getrieben hatte. In scharfem Kontrast zu diesen rebellierenden Vorgängern schlägt sich Großfamilie Mata allerdings, hierarchisch zusammengehalten von ihrer Matriarchin Felícia, mit strenger Disziplin in der neuen Heimat durch, sei es in Form von Gelegenheitsarbeiten, sei es durch die junge Popstarkarriere des Sprosses Janina Mata. Da das rassistische Denken ihrer eigenen Angehörigen von Milenes Universum völlig abprallt, findet sie in den Tälern dieser "dritten Welle" unversehens die verlorene Geborgenheit wieder. "Der Abgrund blieb draußen", spürt Milene, als sich die Tür des "Juwels" hinter ihr schließt.
Zu bunt wird Familie Leandro dergleichen multikulturelles Treiben spätestens, als die bislang an erotischen Dingen kindlich desinteressierte Milene sich plötzlich durch eine ganz "normale Liebe" an Kranführer Antonino Mata gebunden fühlt. Denn der Schmach einer Nachkommenschaft von "Kaffern" in einer Familie, die nicht zuletzt den Bürgermeister stellt, will man sich nicht aussetzen. Gegenüber Milenes Beharrlichkeit machtlos, sinnt der Familienrat auf einen machiavellistischen, für die Öffentlichkeit unsichtbaren Plan. Mit der Hilfe eines bestochenen Arztes wird in Milenes Körper ein für allemal eine "Trennlinie" markiert - indem man sie im Rahmen einer vorgetäuschten Narkoseoperation "kastriert", ohne daß der gewaltsam um ihre Nachkommenschaft Beraubten recht klar wird, was mit ihr geschieht. Unter dem Jubeln der Öffentlichkeit dürfen am Ende Milene und Antonino, nun durch eheliche Bande glücklich vereint, die Kirchentreppen hinabschreiten; scheint Portugal die Trennlinie in eine freiere Zukunft überschritten zu haben, in der die Nachfahren von Kolonisatoren und Kolonisierten in Liebe zueinanderfinden. Im verborgenen erweist sich das vermeintliche Happy-End dagegen als der wohl schwärzeste und hoffnungsloseste aller möglichen Ausgänge.
Mittels ihrer erzählerischen Doppelbödigkeit ebenjene verborgene Trennlinie aufzuspüren, die Grund und Abgrund voneinander trennen, ist Lídia Jorges großartige literarische Leistung. Denn es gelingt ihr, beim Leser gerade durch die unaufgeregte Langsamkeit des Erzählens einen Schwindel zu erregen, der vielen vertiginösen narrativen Experimenten versagt bleibt. Ein Schwindel, der nicht nur auf die Abgründe der von ihr porträtierten portugiesischen Gesellschaft zurückzuführen ist, sondern auch auf die einer Sprache, die stetig unter den Händen der Autorin zu entfliehen droht. Dieser Kampf um das Wort spiegelt sich auch in der Heldin des Romans wider. "Und Milene stürzte sich abermals auf die Wörter", heißt es einmal, und bei der Beerdigung der Großmutter muß sie einsehen, daß ihr nicht nur deren verstorbene Reste in den Abgrund des Grabes entgleiten: "Was hilft uns nun die Pracht, was bringt uns nun der Reichtum samt dem Hochmut, wenn das alles dahingefahren ist wie ein Schatten. Und wir geschlossenen Auges uns umsehen, um all die Wörter festzuhalten."
Die Dominanz einer längst überwunden gewähnten "Trennlinie" verbindet bei Lídia Jorge Gesellschaft und Sprache. So enttarnte die Autorin einmal in einem Essay über das "unreine System" ("O sistema impuro") des Portugiesischen den geheimen Defekt ihrer Muttersprache: "Wo sie fehlt und versagt, ist in den gegenwärtigen Dingen des Fortschritts, des Wohlstands, der Räder und Maschinen. Es ist, als wenn wir in zeitloser Form alle Wörter hätten, um bis ins 20. Jahrhundert zu leben. Doch es bleibt der Verdacht, daß die Sprache keine industrielle Revolution mitgemacht hat." Ihren Reflex findet diese Schwäche in Jorges sich der Gegenwartswelt verweigernden Protagonistin. Das Scheitern vor den Worten wie der Wirklichkeit hinterläßt in ihr eine sprachlose Einsamkeit, die der Roman im portugiesischen Original - im Gegensatz zum deutschen Titel, der gleich seiner Heldin das Odium des "Groschenromans" nicht zu fürchten scheint - bereits im Namen trägt. Nunmehr Frau eines Kranführers, ist Milenes Begleiter in den Bauwüsten der Gegenwart allein "O vento assobiando nas gruas" - "Der johlende Wind in den Kränen".
FLORIAN BORCHMEYER
Lídia Jorge: "Milene". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 544 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Portugiesische Abgründe: Lídia Jorge erzählt ein Frauenschicksal
"Abyssus abyssum invocat." Allerorts hallt die dunkle Sentenz in Lídia Jorges jüngstem Erzählwerk wider. Sich von diesem leitmotivischen Abgrund nicht verschlingen zu lassen, ist der unbeirrbare und doch dem Unheil geweihte Wunsch seiner Titelheldin. Von klein auf geschlagen "mit einem Namen wie aus einem Groschenroman" sowie einer Denkgeschwindigkeit, die der modernen Welt stetig zuwiderläuft, sucht Milene ihren Ausweg aus dem Strudel. Dennoch lauert dieser allenthalben, ob nun durch Schicksalsmächte gebildet oder durch die ebenso diabolischen wie diskreten Intrigen ihrer Familie.
Nicht zu Unrecht haben sich Milene die Warnungen ihres nach Amerika emigrierten Lieblingscousins João Paulo aus Kinderzeiten tief eingeprägt: "Das große Problem ist, nicht die Schuhspitze an den Rand des Abgrunds zu setzen. Man stürzt so leicht in den Abgrund, es ist so einfach, so angenehm, man muß nur die Augen schließen und weitergehen. Aber auszuhalten zu lernen, daß es einfach ist, das ist schwierig." Aus der Perspektive ihrer als Kind traumatisierten und von den Ärzten mangels anderer Erklärungsmittel durch das Etikett der "Oligophrenie" aus der Erwachsenenwelt ausgemusterten Heldin Milene wirft die große portugiesische Schriftstellerin einen Vexierblick auf das heutige Portugal: einen Blick, der sich, trotz Jorges vielbemühten Epithetons einer "realistischen Erzählerin", der planen Wiedergabe der Wirklichkeit stetig widersetzt.
Aus dem Lokalpatriziertum eines Nests in der Algarve entsprungen, Lídia Jorges eigener Heimat, kompensiert Milene, die ziel- und berufslos noch immer das Leben einer Halbwüchsigen führt, ihre fehlende Funktionsfähigkeit in einer Leistungsgesellschaft durch die Fürsorge ihrer Großmutter, Oberhaupt der Leandro-Dynastie. Als Großmutter eines Sommers tot vor den Toren jener "Alten Fabrik" aufgefunden wird, wo das Vermögen der Leandros einst seinen Ursprung nahm, bedroht das Nichts mit nie gekannter Macht die inzwischen dreißigjährige Waise. Milene, die es soeben entgegen ihrer vermeintlichen Zurückgebliebenheit ganz alleine meistern mußte, in Abwesenheit der urlaubsbedingt verreisten Restfamilie ein christliches Begräbnis zu organisieren, ist mit einem Mal der Geldgier, den politischen Klüngeln und Eitelkeiten der Erbengemeinschaft ausgesetzt.
Zuflucht findet sie ausgerechnet am Todesort der Großmutter, jener stillgelegten Fabrik, die im Familienkreis nostalgisch das "Juwel" genannt wird. Gegenwärtig wird sie bewohnt von einer Familie kapverdischer Untermieter, von den Leandros nur abschätzig als die "dritte Welle" abgetan - Nachfolger der "zweiten Welle" einer aufmüpfigen Arbeiterschaft, die in den siebziger Jahren das patriarchalische Familienunternehmen in einen Kollektivbetrieb umgewandelt und an den Rand des Ruins getrieben hatte. In scharfem Kontrast zu diesen rebellierenden Vorgängern schlägt sich Großfamilie Mata allerdings, hierarchisch zusammengehalten von ihrer Matriarchin Felícia, mit strenger Disziplin in der neuen Heimat durch, sei es in Form von Gelegenheitsarbeiten, sei es durch die junge Popstarkarriere des Sprosses Janina Mata. Da das rassistische Denken ihrer eigenen Angehörigen von Milenes Universum völlig abprallt, findet sie in den Tälern dieser "dritten Welle" unversehens die verlorene Geborgenheit wieder. "Der Abgrund blieb draußen", spürt Milene, als sich die Tür des "Juwels" hinter ihr schließt.
Zu bunt wird Familie Leandro dergleichen multikulturelles Treiben spätestens, als die bislang an erotischen Dingen kindlich desinteressierte Milene sich plötzlich durch eine ganz "normale Liebe" an Kranführer Antonino Mata gebunden fühlt. Denn der Schmach einer Nachkommenschaft von "Kaffern" in einer Familie, die nicht zuletzt den Bürgermeister stellt, will man sich nicht aussetzen. Gegenüber Milenes Beharrlichkeit machtlos, sinnt der Familienrat auf einen machiavellistischen, für die Öffentlichkeit unsichtbaren Plan. Mit der Hilfe eines bestochenen Arztes wird in Milenes Körper ein für allemal eine "Trennlinie" markiert - indem man sie im Rahmen einer vorgetäuschten Narkoseoperation "kastriert", ohne daß der gewaltsam um ihre Nachkommenschaft Beraubten recht klar wird, was mit ihr geschieht. Unter dem Jubeln der Öffentlichkeit dürfen am Ende Milene und Antonino, nun durch eheliche Bande glücklich vereint, die Kirchentreppen hinabschreiten; scheint Portugal die Trennlinie in eine freiere Zukunft überschritten zu haben, in der die Nachfahren von Kolonisatoren und Kolonisierten in Liebe zueinanderfinden. Im verborgenen erweist sich das vermeintliche Happy-End dagegen als der wohl schwärzeste und hoffnungsloseste aller möglichen Ausgänge.
Mittels ihrer erzählerischen Doppelbödigkeit ebenjene verborgene Trennlinie aufzuspüren, die Grund und Abgrund voneinander trennen, ist Lídia Jorges großartige literarische Leistung. Denn es gelingt ihr, beim Leser gerade durch die unaufgeregte Langsamkeit des Erzählens einen Schwindel zu erregen, der vielen vertiginösen narrativen Experimenten versagt bleibt. Ein Schwindel, der nicht nur auf die Abgründe der von ihr porträtierten portugiesischen Gesellschaft zurückzuführen ist, sondern auch auf die einer Sprache, die stetig unter den Händen der Autorin zu entfliehen droht. Dieser Kampf um das Wort spiegelt sich auch in der Heldin des Romans wider. "Und Milene stürzte sich abermals auf die Wörter", heißt es einmal, und bei der Beerdigung der Großmutter muß sie einsehen, daß ihr nicht nur deren verstorbene Reste in den Abgrund des Grabes entgleiten: "Was hilft uns nun die Pracht, was bringt uns nun der Reichtum samt dem Hochmut, wenn das alles dahingefahren ist wie ein Schatten. Und wir geschlossenen Auges uns umsehen, um all die Wörter festzuhalten."
Die Dominanz einer längst überwunden gewähnten "Trennlinie" verbindet bei Lídia Jorge Gesellschaft und Sprache. So enttarnte die Autorin einmal in einem Essay über das "unreine System" ("O sistema impuro") des Portugiesischen den geheimen Defekt ihrer Muttersprache: "Wo sie fehlt und versagt, ist in den gegenwärtigen Dingen des Fortschritts, des Wohlstands, der Räder und Maschinen. Es ist, als wenn wir in zeitloser Form alle Wörter hätten, um bis ins 20. Jahrhundert zu leben. Doch es bleibt der Verdacht, daß die Sprache keine industrielle Revolution mitgemacht hat." Ihren Reflex findet diese Schwäche in Jorges sich der Gegenwartswelt verweigernden Protagonistin. Das Scheitern vor den Worten wie der Wirklichkeit hinterläßt in ihr eine sprachlose Einsamkeit, die der Roman im portugiesischen Original - im Gegensatz zum deutschen Titel, der gleich seiner Heldin das Odium des "Groschenromans" nicht zu fürchten scheint - bereits im Namen trägt. Nunmehr Frau eines Kranführers, ist Milenes Begleiter in den Bauwüsten der Gegenwart allein "O vento assobiando nas gruas" - "Der johlende Wind in den Kränen".
FLORIAN BORCHMEYER
Lídia Jorge: "Milene". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 544 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Großen Eindruck hat Lidia Jorges? Roman "Milene" auf Florian Borchmeyer gemacht. Im Mittelpunkt des Romans sieht er das Schicksal der als Kind traumatisierten und als geistig minderbemittelt abgestempelten Milene, die ziel- und berufslos durchs Leben wandelt und nach dem Tod ihrer fürsorglichen Großmutter mit einem Mal der Geldgier, den politischen Klüngeln und Eitelkeiten der Erbengemeinschaft ausgesetzt ist. Dass es der portugiesischen Schriftstellerin gelingt, beim Leser durch die "unaufgeregte Langsamkeit des Erzählens" einen Schwindel zu erregen, führt er nicht nur auf die Abgründe der von ihr porträtierten portugiesischen Gesellschaft zurück, sondern auch auf eine Sprache, "die stetig unter den Händen der Autorin zu entfliehen droht". Ein Kampf um das Wort, der sich für Borchmeyer in der "sprechlosen Einsamkeit" der Romanheldin widerspiegelt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH