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Milene, die Anstößige - kennt sie nicht die Rücksichten und das kluge Doppelspiel, womit die Vernünftigen sich in der Gesellschaft bewegen? Mit ihrer befremdlichen Direktheit bringt sie zwei streng getrennte Welten durcheinander. Und seltsam, am Ende ist sie, obwohl von ihrer Familie hintergangen, die einzige, die gefunden hat, was sie sucht.
Von ihren großspurigen Verwandten wird Milene, die als Waise bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist, als kindisch zurückgeblieben abgetan, und als sie nach dem Verschwinden und unwürdigen Tod der Großmutter nicht zurückfindet in ihre Welt, flüchtet sie
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Produktbeschreibung
Milene, die Anstößige - kennt sie nicht die Rücksichten und das kluge Doppelspiel, womit die Vernünftigen sich in der Gesellschaft bewegen? Mit ihrer befremdlichen Direktheit bringt sie zwei streng getrennte Welten durcheinander. Und seltsam, am Ende ist sie, obwohl von ihrer Familie hintergangen, die einzige, die gefunden hat, was sie sucht.

Von ihren großspurigen Verwandten wird Milene, die als Waise bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist, als kindisch zurückgeblieben abgetan, und als sie nach dem Verschwinden und unwürdigen Tod der Großmutter nicht zurückfindet in ihre Welt, flüchtet sie sich zu der dunkelhäutigen und vielköpfigen Einwandererfamilie von den Kapverden, auf die sie bei der Suche nach ihrer Großmutter gestoßen war. Die Fremden nehmen Milene verwundert und liebevoll auf in ihre Welt. Als sie eine Liebesbeziehung mit Antonino, einem Sohn der schwarzen Matriarchin, eingeht und von einer Heirat nicht abzuhalten ist, zeigt sich Milenes bürgerliche Verwandtschaft in aller kalten Durchsetzungsfähigkeit. Aber es ist, als prallten die Pläne, in denen Milene nichts als ein Entsorgungsfall ist, an ihrer Unbekümmertheit, an ihrer so berührenden Direktheit ab.
Lídia Jorge ist eine psychologische Erzählerin von eindringlicher Kraft. Und sie ist eine große Realistin, der es gelingt, mit Milenes Geschichte ein ganzes Gesellschaftsbild aus unserer Gegenwart zu zeichnen.
Autorenporträt
Lídia Jorge wurde 1946 in der Ortschaft Boliqueime in der Algarve geboren. Ihre Jugend verbrachte sie dort als Einzelkind bei der Mutter und anderen weiblichen Familienmitgliedern. Alle Männer, der Großvater, der Vater und dessen Brüder, waren ins Ausland abgewandert. Die Abwesenheit der Männer, der enge Kontakt mit der ländlichen Umgebung, mit dem "Geruch der Erde", dem Wechsel der Jahreszeiten prägten ihre Kindheitserlebnisse ebenso wie die vielen wunderbaren, oft wundersamen Geschichten, die man sich dort erzählte. Nach ihrer Schulzeit in Faro zog sie nach Lissabon und studierte Romanistik. Während des Kolonialkrieges hielt sie sich mit ihrem ersten Mann, einem Offizier der Luftwaffe, einige Jahre in Afrika auf: zunächst in Angola (1969 - 1970), dann in Mosambik (1972 - 1974). Nach ihrer Rückkehr unterrichtete sie an einem Gymnasium in der Hauptstadt, arbeitete für das portugiesische Erziehungsministerium und lehrte an der Universität Lissabon Literaturwissenschaft. Bereits ihre beiden ersten Romane, O dia dos prodígios (1980, Der Tag der Wunder) und O cais das merendas (1982), wurden zu Hauptwerken der neueren portugiesischen Literatur, die sich in der Nachfolge der Nelkenrevolution von 1974 entwickelte. 1984 erschien ihr dritter Roman, der die magische Welt der beiden ersten Bücher verläßt und in Lissabon spielt, Notícia da cidade silvestre (Nachricht von der anderen Seite der Straße). Auch dieser Roman wurde von der Kritik als ein Meisterwerk der portugiesischen Gegenwartsliteratur gefeiert. Für O cais das merendas und Notícia da cidade silvestre bekam sie jeweils den Preis der Stadt Lissabon verliehen. Wie für viele Angehörige ihrer Generation war die Erfahrung des Kolonialkrieges für Lídia Jorge ganz entscheidend: "Die Geschichte dieses Krieges", so meinte sie in einem Gespräch, "muß erst noch geschrieben werden." Und sie schreibt sie: aus der Perspektive einer Frau, in dem 1988 erschienenen Roman A costa dos murmúrios (Die Küste des Raunens). Die Erzählerin sieht nach zwanzig Jahren jene Monate, die sie als junge Frau eines kriegsbegeisterten Offiziers in Mosambik in einer Atmosphäre latenter Gewalt erlebte, nun in ihrer ganzen Zwiespältigkeit. 1992 wurde ihr Roman A última dona und die Erzählung A instrumentalina ( Eine Liebe) veröffentlicht, gefolgt von dem Roman O jardim sem limites (1995, Paradies ohne Grenzen), der in Lissabon spielt. 1996 erschien das Theaterstück A Maçon und 1997 der Erzählungsband Marido e outros contos. Ihr letztes Buch O vale da paixão (1998, Die Decke des Soldaten) wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis des portugiesischen Pen-Clubs, dem Dom Dinis-Preis, dem Máxima de Literatura-Preis, dem Bordalo Pinheiro-Preis und dem Jean Monet-Literaturpreis. Von der französischen Regierung wurde ihr im Jahr 2000 der Grad eines Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres verliehen. 2006 ist Lídia Jorge gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Karin von Schweder-Schreiner erste Trägerin des neu geschaffenen internationalen Literaturpreises Albatros. Die Auszeichnung wird von der Bremer Günter Grass Stiftung vergeben. Jorge erhält den Preis für ihr Romanwerk, sie habe - so die Jury - die »Dämonen lusitanischer Geschichte, die Kolonialkriege und die Nachwirkungen der Diktatur im intimen Rahmen von Familien und Gruppen aufgespürt«. Schweder-Schreiner habe die geschichtenreichen Bücher Jorges »meisterlich« übersetzt. 2007 erhält Lídia Jorge den »Grande Prémio SPA/Millennium« für ihr Lebenswerk. Der Preis in Höhe von 25.000 Euro wird vom Portugiesischen Schriftstellerverband vergeben und von der Millennium Bank unterstützt. Ihre Bücher sind immer autobiographisch, niemals aber Autobiographie; stets Annäherung an die Wirklichkeit, sind sie dennoch nicht ihr Abbild. "Literarische Kühnheit und analytische Schärfe" bescheinigen ihr die Kritiker. "Ich schreibe aus Instinkt. Wie im Leben. Ohne Netz und ohne Deckung", sagt Lídia Jorge.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2006

In den Fängen der Familie
Portugiesische Abgründe: Lídia Jorge erzählt ein Frauenschicksal

"Abyssus abyssum invocat." Allerorts hallt die dunkle Sentenz in Lídia Jorges jüngstem Erzählwerk wider. Sich von diesem leitmotivischen Abgrund nicht verschlingen zu lassen, ist der unbeirrbare und doch dem Unheil geweihte Wunsch seiner Titelheldin. Von klein auf geschlagen "mit einem Namen wie aus einem Groschenroman" sowie einer Denkgeschwindigkeit, die der modernen Welt stetig zuwiderläuft, sucht Milene ihren Ausweg aus dem Strudel. Dennoch lauert dieser allenthalben, ob nun durch Schicksalsmächte gebildet oder durch die ebenso diabolischen wie diskreten Intrigen ihrer Familie.

Nicht zu Unrecht haben sich Milene die Warnungen ihres nach Amerika emigrierten Lieblingscousins João Paulo aus Kinderzeiten tief eingeprägt: "Das große Problem ist, nicht die Schuhspitze an den Rand des Abgrunds zu setzen. Man stürzt so leicht in den Abgrund, es ist so einfach, so angenehm, man muß nur die Augen schließen und weitergehen. Aber auszuhalten zu lernen, daß es einfach ist, das ist schwierig." Aus der Perspektive ihrer als Kind traumatisierten und von den Ärzten mangels anderer Erklärungsmittel durch das Etikett der "Oligophrenie" aus der Erwachsenenwelt ausgemusterten Heldin Milene wirft die große portugiesische Schriftstellerin einen Vexierblick auf das heutige Portugal: einen Blick, der sich, trotz Jorges vielbemühten Epithetons einer "realistischen Erzählerin", der planen Wiedergabe der Wirklichkeit stetig widersetzt.

Aus dem Lokalpatriziertum eines Nests in der Algarve entsprungen, Lídia Jorges eigener Heimat, kompensiert Milene, die ziel- und berufslos noch immer das Leben einer Halbwüchsigen führt, ihre fehlende Funktionsfähigkeit in einer Leistungsgesellschaft durch die Fürsorge ihrer Großmutter, Oberhaupt der Leandro-Dynastie. Als Großmutter eines Sommers tot vor den Toren jener "Alten Fabrik" aufgefunden wird, wo das Vermögen der Leandros einst seinen Ursprung nahm, bedroht das Nichts mit nie gekannter Macht die inzwischen dreißigjährige Waise. Milene, die es soeben entgegen ihrer vermeintlichen Zurückgebliebenheit ganz alleine meistern mußte, in Abwesenheit der urlaubsbedingt verreisten Restfamilie ein christliches Begräbnis zu organisieren, ist mit einem Mal der Geldgier, den politischen Klüngeln und Eitelkeiten der Erbengemeinschaft ausgesetzt.

Zuflucht findet sie ausgerechnet am Todesort der Großmutter, jener stillgelegten Fabrik, die im Familienkreis nostalgisch das "Juwel" genannt wird. Gegenwärtig wird sie bewohnt von einer Familie kapverdischer Untermieter, von den Leandros nur abschätzig als die "dritte Welle" abgetan - Nachfolger der "zweiten Welle" einer aufmüpfigen Arbeiterschaft, die in den siebziger Jahren das patriarchalische Familienunternehmen in einen Kollektivbetrieb umgewandelt und an den Rand des Ruins getrieben hatte. In scharfem Kontrast zu diesen rebellierenden Vorgängern schlägt sich Großfamilie Mata allerdings, hierarchisch zusammengehalten von ihrer Matriarchin Felícia, mit strenger Disziplin in der neuen Heimat durch, sei es in Form von Gelegenheitsarbeiten, sei es durch die junge Popstarkarriere des Sprosses Janina Mata. Da das rassistische Denken ihrer eigenen Angehörigen von Milenes Universum völlig abprallt, findet sie in den Tälern dieser "dritten Welle" unversehens die verlorene Geborgenheit wieder. "Der Abgrund blieb draußen", spürt Milene, als sich die Tür des "Juwels" hinter ihr schließt.

Zu bunt wird Familie Leandro dergleichen multikulturelles Treiben spätestens, als die bislang an erotischen Dingen kindlich desinteressierte Milene sich plötzlich durch eine ganz "normale Liebe" an Kranführer Antonino Mata gebunden fühlt. Denn der Schmach einer Nachkommenschaft von "Kaffern" in einer Familie, die nicht zuletzt den Bürgermeister stellt, will man sich nicht aussetzen. Gegenüber Milenes Beharrlichkeit machtlos, sinnt der Familienrat auf einen machiavellistischen, für die Öffentlichkeit unsichtbaren Plan. Mit der Hilfe eines bestochenen Arztes wird in Milenes Körper ein für allemal eine "Trennlinie" markiert - indem man sie im Rahmen einer vorgetäuschten Narkoseoperation "kastriert", ohne daß der gewaltsam um ihre Nachkommenschaft Beraubten recht klar wird, was mit ihr geschieht. Unter dem Jubeln der Öffentlichkeit dürfen am Ende Milene und Antonino, nun durch eheliche Bande glücklich vereint, die Kirchentreppen hinabschreiten; scheint Portugal die Trennlinie in eine freiere Zukunft überschritten zu haben, in der die Nachfahren von Kolonisatoren und Kolonisierten in Liebe zueinanderfinden. Im verborgenen erweist sich das vermeintliche Happy-End dagegen als der wohl schwärzeste und hoffnungsloseste aller möglichen Ausgänge.

Mittels ihrer erzählerischen Doppelbödigkeit ebenjene verborgene Trennlinie aufzuspüren, die Grund und Abgrund voneinander trennen, ist Lídia Jorges großartige literarische Leistung. Denn es gelingt ihr, beim Leser gerade durch die unaufgeregte Langsamkeit des Erzählens einen Schwindel zu erregen, der vielen vertiginösen narrativen Experimenten versagt bleibt. Ein Schwindel, der nicht nur auf die Abgründe der von ihr porträtierten portugiesischen Gesellschaft zurückzuführen ist, sondern auch auf die einer Sprache, die stetig unter den Händen der Autorin zu entfliehen droht. Dieser Kampf um das Wort spiegelt sich auch in der Heldin des Romans wider. "Und Milene stürzte sich abermals auf die Wörter", heißt es einmal, und bei der Beerdigung der Großmutter muß sie einsehen, daß ihr nicht nur deren verstorbene Reste in den Abgrund des Grabes entgleiten: "Was hilft uns nun die Pracht, was bringt uns nun der Reichtum samt dem Hochmut, wenn das alles dahingefahren ist wie ein Schatten. Und wir geschlossenen Auges uns umsehen, um all die Wörter festzuhalten."

Die Dominanz einer längst überwunden gewähnten "Trennlinie" verbindet bei Lídia Jorge Gesellschaft und Sprache. So enttarnte die Autorin einmal in einem Essay über das "unreine System" ("O sistema impuro") des Portugiesischen den geheimen Defekt ihrer Muttersprache: "Wo sie fehlt und versagt, ist in den gegenwärtigen Dingen des Fortschritts, des Wohlstands, der Räder und Maschinen. Es ist, als wenn wir in zeitloser Form alle Wörter hätten, um bis ins 20. Jahrhundert zu leben. Doch es bleibt der Verdacht, daß die Sprache keine industrielle Revolution mitgemacht hat." Ihren Reflex findet diese Schwäche in Jorges sich der Gegenwartswelt verweigernden Protagonistin. Das Scheitern vor den Worten wie der Wirklichkeit hinterläßt in ihr eine sprachlose Einsamkeit, die der Roman im portugiesischen Original - im Gegensatz zum deutschen Titel, der gleich seiner Heldin das Odium des "Groschenromans" nicht zu fürchten scheint - bereits im Namen trägt. Nunmehr Frau eines Kranführers, ist Milenes Begleiter in den Bauwüsten der Gegenwart allein "O vento assobiando nas gruas" - "Der johlende Wind in den Kränen".

FLORIAN BORCHMEYER

Lídia Jorge: "Milene". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 544 S., geb., 24,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Großen Eindruck hat Lidia Jorges? Roman "Milene" auf Florian Borchmeyer gemacht. Im Mittelpunkt des Romans sieht er das Schicksal der als Kind traumatisierten und als geistig minderbemittelt abgestempelten Milene, die ziel- und berufslos durchs Leben wandelt und nach dem Tod ihrer fürsorglichen Großmutter mit einem Mal der Geldgier, den politischen Klüngeln und Eitelkeiten der Erbengemeinschaft ausgesetzt ist. Dass es der portugiesischen Schriftstellerin gelingt, beim Leser durch die "unaufgeregte Langsamkeit des Erzählens" einen Schwindel zu erregen, führt er nicht nur auf die Abgründe der von ihr porträtierten portugiesischen Gesellschaft zurück, sondern auch auf eine Sprache, "die stetig unter den Händen der Autorin zu entfliehen droht". Ein Kampf um das Wort, der sich für Borchmeyer in der "sprechlosen Einsamkeit" der Romanheldin widerspiegelt.

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