Jahrzehntelang hatte sie sich von New York Vorstellungen gemacht, ohne es zu vermissen. Plötzlich aber, in den letzten Wochen unseres Millenniums, wie über Nacht, will sie nichts dringender als das: nach New York. Angeblich ändert sich alles, als an die Stelle der Vorstellungen die Wirklichkeit tritt, nicht als Erfüllung verborgener Sehnsüchte, sondern als absolutes Jetzt. Erregt, irritiert und vollkommen geistesgegenwärtig läßt sie sich auf die neue Welt ein. Daß sie jemanden kennenlernen wird, liegt ebenso in der Luft wie der Erfolg, wie das Glück, die Freiheit... So erfaßt sie der Strom dieser Stadt und verwandelt sie auf unerwartete Weise. Auf einmal ist sie frei von etwas, das sie ihr bisheriges Leben lang für ihren Charakter hielt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.1999Perlenteppich der Dunkelheit
Betreten: Angela Krauss bestaunt instinktiv die Adapter
"In der Nacht des ersten Dezember betrat ich New York." Ein Buch, das knappe vierundvierzig, und zwar großzügig bedruckte Seiten hat, legt dem Leser jeden Satz ans Herz. Wie also, dürfen wir die Autorin ihres ersten Satzes fragen, macht man das eigentlich: eine Stadt "betreten"? Wo sich doch überhaupt nur etwas Begrenztes betreten lässt, Zimmer, Gebäude, Gärten. Um wie viel weniger also die Stadt New York, die zu Schiff und durch die Luft, mit dem Auto oder der Bahn erreichbar ist, in der man damit aber stets schon ist, die man stets schon gesehen hat, bevor man einen Fuß in sie setzen, geschweige denn sie betreten kann? Die Erzählerin ist tatsächlich mit dem Flieger gekommen: "Es", New York, "lag wie ein Perlenteppich in der Dunkelheit." Also wird sie danach wohl mit der Bahn oder dem Auto stadteinwärts gefahren sein und mithin "betrat" sie New York gar nicht, sondern tat, was alle tun - sie kam in der Nacht des ersten Dezember nach New York, erreichte es, war zum ersten Mal dort. Kommen, erreichen, sein - zugegebenermaßen unanschauliche Worte, aber immerhin vollziehbare Aktivitäten, wenn es um eine Stadt geht.
Es ist also nichts mit dem ersten Satz von Frau Krauss. Es ist leider auch mit vielen anderen Wendungen nichts in diesem Buch. So gibt Angela Krauß noch im selben ersten Satz zu verstehen, dass schon die erste Wahrnehmung der Stadt jedes Bild, das sich die Erzählerin zuvor von ihr gemacht hatte, zum Einsturz brachte, "eine komplette Architektur, aufs sorgfältigste, liebevollste arrangiert. Sie zerfiel zu Nichts." Doch muss das heißen, dass auch die Beschreibungen hiervon im Ohr des Lesers zerfallen wie der zweite Satz des Buches? "Es war nur Sekundenbruchteilsache, das Gehirn hat sein eigenes Zeitmaß, das so unbegreiflich ist wie die Entdeckung, die Münchner Astrophysiker wenige Stunden vor meiner Abreise machten, als sie ihr Teleskop auf einen vollkommen leeren Ausschnitt des Himmels richteten: Milliarden neuer Sterne!"
So unbegreiflich wie was soll das Zeitmaß eines Gehirns sein? Antwort: Das Zeitmaß ist so unbegreiflich wie eine Entdeckung. Woody Allen, der irgendwann auch einmal New York betreten haben muss, würde vielleicht sagen: Das Zeitmaß und das Gehirn und der Satz von Frau Krauss sind alle drei so unbegreiflich wie ein Dosenöffner, und hätte damit nun wirklich ein gutes Beispiel für etwas Unbegreifliches genannt. Die Frage aber, weshalb es so unbegreiflich ist, dass Astrophysiker mit ihrem Teleskop dort, wo es zunächst vollkommen leer scheint, eine Menge Sterne finden, wird an unbegreiflicher Schwierigkeit vielleicht nur noch durch das Rätsel übertroffen, auf welchem Planeten eigentlich der Lektor weilte, als er meinte, über solche an den Sternen herbeigezogenen Vergleiche hinweglesen zu sollen.
Es muss ein fernes Gestirn gewesen sein, hinterm Mond. Es stehen nämlich so auffällige Stilblüten und Stilfehler in diesem Text, dass nur eine ganz ungewohnte partielle Sprachfinsternis im Hause Suhrkamp oder eine Blendung durch die Erscheinung der Autorin erklären könnte, wie man darauf kam, einen Separatdruck in dieser Gestalt zu empfehlen. So wollte die Erzählerin plötzlich - "Ich habe New York in Neu Kynitzsch nie wirklich vermisst" - unbedingt nach New York. Eines Morgens wachte sie auf und "vermisste New York". Fünf Sätze später heißt es dann für vergessliche Leser "Ich vermisste New York." Dann wächst das Gefühl, New York zu vermissen, und das Ich der Erzählung beobachtet sein Gefühl, "um auszuschließen, dass es sich um die Folge zu fleischlicher Kost handelte, die bekanntlich das Liebesverlangen anregt". Aha. Sie "brachte das instinktiv in einen Zusammenhang mit dem Verlangen nach New York". Ja, natürlich, instinktiv hängt das Gefühl, New York zu vermissen, wohl schon ein bisschen mit dem Verlangen nach New York zusammen.
Nach dem Staunen übers Gehirn und die Sterne tut die Erzählerin dann "das Nächstliegende" und geht in ihre Unterkunft am Broadway. Dort, auf ihrem Hotelzimmer, staunt sie eine lange Weile über kleine weiße Gegenstände, die "im vollständig Lichtlosen" - poetisch: im Dunkel - von Schubkästen hin und her rollen. "Von ihren Besitzern verlassen, von ihren Benutzern vergessen, brachten sie im Dunkeln ihre Tage herum, um plötzlich wieder entdeckt und in Dienst gestellt zu werden." Da es sich um Adapter für Steckdosen handelt, hätte sich statt "in Dienst gestellt" auch sagen lassen "gebraucht" und wäre weniger geschwollen gewesen. Und "die Tage herumbringen", das sagt man wohl über etwas Lebendiges, aber nicht über noch so viele "verlassene" Adapter, die von der Erzählerin, die ihre Bedeutung "instinktiv" - siehe oben unter "instinktiv" - begreift, auch gar nicht weiter verlebendigt werden, sogleich gleich wieder verlassen werden und nie wieder erwähnt. Aber das geschieht dann alles schon auf Seite zwei.
JÜRGEN KAUBE
Angela Krauss: "Milliarden neuer Sterne". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 48 S., brosch., 19,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Betreten: Angela Krauss bestaunt instinktiv die Adapter
"In der Nacht des ersten Dezember betrat ich New York." Ein Buch, das knappe vierundvierzig, und zwar großzügig bedruckte Seiten hat, legt dem Leser jeden Satz ans Herz. Wie also, dürfen wir die Autorin ihres ersten Satzes fragen, macht man das eigentlich: eine Stadt "betreten"? Wo sich doch überhaupt nur etwas Begrenztes betreten lässt, Zimmer, Gebäude, Gärten. Um wie viel weniger also die Stadt New York, die zu Schiff und durch die Luft, mit dem Auto oder der Bahn erreichbar ist, in der man damit aber stets schon ist, die man stets schon gesehen hat, bevor man einen Fuß in sie setzen, geschweige denn sie betreten kann? Die Erzählerin ist tatsächlich mit dem Flieger gekommen: "Es", New York, "lag wie ein Perlenteppich in der Dunkelheit." Also wird sie danach wohl mit der Bahn oder dem Auto stadteinwärts gefahren sein und mithin "betrat" sie New York gar nicht, sondern tat, was alle tun - sie kam in der Nacht des ersten Dezember nach New York, erreichte es, war zum ersten Mal dort. Kommen, erreichen, sein - zugegebenermaßen unanschauliche Worte, aber immerhin vollziehbare Aktivitäten, wenn es um eine Stadt geht.
Es ist also nichts mit dem ersten Satz von Frau Krauss. Es ist leider auch mit vielen anderen Wendungen nichts in diesem Buch. So gibt Angela Krauß noch im selben ersten Satz zu verstehen, dass schon die erste Wahrnehmung der Stadt jedes Bild, das sich die Erzählerin zuvor von ihr gemacht hatte, zum Einsturz brachte, "eine komplette Architektur, aufs sorgfältigste, liebevollste arrangiert. Sie zerfiel zu Nichts." Doch muss das heißen, dass auch die Beschreibungen hiervon im Ohr des Lesers zerfallen wie der zweite Satz des Buches? "Es war nur Sekundenbruchteilsache, das Gehirn hat sein eigenes Zeitmaß, das so unbegreiflich ist wie die Entdeckung, die Münchner Astrophysiker wenige Stunden vor meiner Abreise machten, als sie ihr Teleskop auf einen vollkommen leeren Ausschnitt des Himmels richteten: Milliarden neuer Sterne!"
So unbegreiflich wie was soll das Zeitmaß eines Gehirns sein? Antwort: Das Zeitmaß ist so unbegreiflich wie eine Entdeckung. Woody Allen, der irgendwann auch einmal New York betreten haben muss, würde vielleicht sagen: Das Zeitmaß und das Gehirn und der Satz von Frau Krauss sind alle drei so unbegreiflich wie ein Dosenöffner, und hätte damit nun wirklich ein gutes Beispiel für etwas Unbegreifliches genannt. Die Frage aber, weshalb es so unbegreiflich ist, dass Astrophysiker mit ihrem Teleskop dort, wo es zunächst vollkommen leer scheint, eine Menge Sterne finden, wird an unbegreiflicher Schwierigkeit vielleicht nur noch durch das Rätsel übertroffen, auf welchem Planeten eigentlich der Lektor weilte, als er meinte, über solche an den Sternen herbeigezogenen Vergleiche hinweglesen zu sollen.
Es muss ein fernes Gestirn gewesen sein, hinterm Mond. Es stehen nämlich so auffällige Stilblüten und Stilfehler in diesem Text, dass nur eine ganz ungewohnte partielle Sprachfinsternis im Hause Suhrkamp oder eine Blendung durch die Erscheinung der Autorin erklären könnte, wie man darauf kam, einen Separatdruck in dieser Gestalt zu empfehlen. So wollte die Erzählerin plötzlich - "Ich habe New York in Neu Kynitzsch nie wirklich vermisst" - unbedingt nach New York. Eines Morgens wachte sie auf und "vermisste New York". Fünf Sätze später heißt es dann für vergessliche Leser "Ich vermisste New York." Dann wächst das Gefühl, New York zu vermissen, und das Ich der Erzählung beobachtet sein Gefühl, "um auszuschließen, dass es sich um die Folge zu fleischlicher Kost handelte, die bekanntlich das Liebesverlangen anregt". Aha. Sie "brachte das instinktiv in einen Zusammenhang mit dem Verlangen nach New York". Ja, natürlich, instinktiv hängt das Gefühl, New York zu vermissen, wohl schon ein bisschen mit dem Verlangen nach New York zusammen.
Nach dem Staunen übers Gehirn und die Sterne tut die Erzählerin dann "das Nächstliegende" und geht in ihre Unterkunft am Broadway. Dort, auf ihrem Hotelzimmer, staunt sie eine lange Weile über kleine weiße Gegenstände, die "im vollständig Lichtlosen" - poetisch: im Dunkel - von Schubkästen hin und her rollen. "Von ihren Besitzern verlassen, von ihren Benutzern vergessen, brachten sie im Dunkeln ihre Tage herum, um plötzlich wieder entdeckt und in Dienst gestellt zu werden." Da es sich um Adapter für Steckdosen handelt, hätte sich statt "in Dienst gestellt" auch sagen lassen "gebraucht" und wäre weniger geschwollen gewesen. Und "die Tage herumbringen", das sagt man wohl über etwas Lebendiges, aber nicht über noch so viele "verlassene" Adapter, die von der Erzählerin, die ihre Bedeutung "instinktiv" - siehe oben unter "instinktiv" - begreift, auch gar nicht weiter verlebendigt werden, sogleich gleich wieder verlassen werden und nie wieder erwähnt. Aber das geschieht dann alles schon auf Seite zwei.
JÜRGEN KAUBE
Angela Krauss: "Milliarden neuer Sterne". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 48 S., brosch., 19,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einleitend schickt Heinrich Vormweg voran, wie unzählig viele Versuche es bereits gegeben hat, eine erste Ankunft in New York literarisch wieder zu geben. Grosse Neuigkeiten seien daher in diesem Buch kaum zu erwarten, dafür aber eine Überraschung: Denn Angela Krauß erweist sich nach Ansicht des Rezensenten als möglicherweise die einzige, die in der Lage ist, "etwas so leichtes, so schwer Fassliches, so Unbestimmtes, so Persönliches wie ein Erleben zu erzählen." Hier werde keine Stadterkundung betrieben. Der Schwerpunkt liegt nach Vormweg in vor allem in der Wahrnehmung, in Gefühlen und Gedanken. Dieses Erleben umfasse vor allem auch etwas, was sich um den Freiheitsbegriff rankt: Leichtigkeit, nichts mehr zu erwarten, frei zu sein von Gedanken und Erinnerungen, aber auch der Verlust von Gemeinsamkeiten, Verbindlichkeiten, Mitleid und eine zunehmende Isolation.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH