Produktdetails
- Verlag: Brill Fink / Wilhelm Fink Verlag
- Artikelnr. des Verlages: 1882619
- 1996
- Seitenzahl: 515
- Deutsch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 610g
- ISBN-13: 9783770530731
- ISBN-10: 377053073X
- Artikelnr.: 27145629
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- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Auch ich in Kratylien
Kann Sprache malen? Gérard Genette im Land der Zeichen und Wunder / Von Oliver R. Scholz
Erinnern wir uns: In Platons Dialog "Kratylos" wurde die alte Streitfrage "von der Richtigkeit der Wörter" untersucht. Während Hermogenes glaubt, daß die Benennungen den Dingen durch menschliche Übereinkunft beigelegt werden, insistiert Kratylos darauf, es gebe von Natur aus einen richtigen Namen für jedes Ding. Zunächst treibt Sokrates Hermogenes in die Enge, indem er ihn auf die extreme Position festnagelt, es unterliege der Willkür des einzelnen, welcher Name einem Ding gebührt. Dagegen macht Sokrates geltend, Worte zu bilden sei nicht jedermanns Sache; vielmehr obliege dies einem Experten, dem Wortbildner, der sich nach der Idee des Wortes zu richten habe. Insofern scheine doch Kratylos darin recht zu haben, daß es eine natürliche Richtigkeit der Wörter gebe.
Hermogenes möchte aber doch wissen, worin diese natürliche Richtigkeit bestehen soll. In dem berühmt-berüchtigten Mittelteil wird diese Frage auf dem Weg über eine Reihe von "Etymologien" untersucht. Die von Sokrates wie im Rausch vorgetragene etymologische Analyse komplexer Namen und Wörter führt auf mutmaßliche Stammwörter oder erste Wörter. Für deren Richtigkeit muß ein anderes Modell gesucht werden, das man schließlich in einem mimetischen Symbolismus der Elementarlaute zu finden glaubt.
Nach einer erneuten Überprüfung der These muß auch Kratylos den Beitrag einräumen, den Gewohnheit und Übereinkunft dabei leisten, Wörter richtig werden zu lassen. Der Leser weiß inzwischen nicht mehr, wer nun recht hat. Platon selbst kam es wohl darauf an, die Metaphysiken kritisch unter die Lupe zu nehmen, die er hinter den Stellungnahmen von Hermogenes und Kratylos vermutet. Sofern der Dialog überhaupt eine handfeste Moral hat, dann dürfte er in der Schlußpointe zu erblicken sein, nach der es stets vorzuziehen sei, die Dinge aus sich selbst (und das heißt für Platon: aus den Ideen) zu erkennen, als sie aus den Wörtern erschließen zu wollen.
Obzwar Platons Hauptakzent von der Sprache wegführte, schlug die Rezeption eine ganz andere Richtung ein. Der Dialog "Kratylos" wurde zum Gründungstext einer mächtigen Tradition der Sprachreflexion und -spekulation. Der Mainstream von Demokrit und Aristoteles bis Ferdinand de Saussure hielt es dabei mit dem nüchternen Konventionalismus von Hermogenes. Zumeist begnügten sich die Hermogenisten in ihren Traktaten mit wenigen abwiegelnden Bemerkungen. Die Parteigänger des Kratylos hingegen hinterließen uns eine Fülle pittoresker Werke, die so etwas wie ein eigenes Genre bilden. Gérard Genette hat in diese "gewaltige Akte" Einsicht genommen und einen bildenden und amüsanten Reiseführer durch das farbenfrohe Kratylien verfaßt.
Obgleich Genette im wesentlichen der Chronologie folgt, ist sein Interesse, wie es sich für einen Strukturalisten geziemt, weniger historisch als typologisch. Der unterkühlte Systematiker Genette, der immer, rechtzeitig bevor die Leserschaft im Chaos zu versinken droht, mit seiner ordnenden Hand eingreift, wird temperiert durch sein Alter ego, den Ideenhistoriker Genette, der mit liebendem Blick noch bei den schrulligsten Schwärmereien verweilt. Nach einer Analyse der platonischen Gründungsurkunde tritt Genette die Reise an, die ihn von den lateinischen Grammatikern durch das klassische Zeitalter und durch die gewaltigen Umbrüche an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart führt.
Ohne zuviel von der spannenden Geschichte verraten zu wollen, picken wir einige Sehenswürdigkeiten heraus. Mit seiner an die Stoiker anknüpfenden Übersicht über Hauptformen der direkten und indirekten Motivation (Onomatopöie, Analogie, Ableitung durch Metonymie und durch Antiphrase) hatte Augustinus dem Mittelalter einen weiteren wichtigen Referenztext geliefert. Andere fügten die Ausrufe und die Nachahmungen der natürlichen Schreie hinzu. Dieser Bestand wurde zunächst durch die Jahrhunderte weitergereicht. Besonders lebhaft sprudelte die kratylische Phantasie dann im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert.
Dem vielseitigen Gelehrten John Wallis (1616 bis 1703) war es in seiner Grammatik der englischen Sprache darum zu tun, die mimetische Überlegenheit seiner Muttersprache zu beweisen. Vor allem die Konsonantengruppen am Wortanfang, die Endsilben und die für das Englische so typischen expressiven Endsilber hatten es ihm angetan. In seinem insularen Kratylismus ging Wallis so weit, seine Muttersprache für die einzige wahrhaft nachahmende Sprache zu halten. Sein Plädoyer für die Rückkehr zu den angelsächsischen Quellen der Sprache trug Wallis übrigens in einem lateinischen Traktat vor.
Während die frühen Formen des Kratylismus sich überwiegend am Laut orientierten, kamen im Laufe der Zeit Theorien hinzu, die den nachahmenden Charakter der Schrift akzentuierten. Die ägyptischen Hieroglyphen regten die kratylische Einbildungskraft dabei mächtig an. Die mimographischen Phantasien konnten ebenso heterogene Gestalten annehmen wie ihre lautorientierten, mimophonischen Geschwister. So versuchte Johann Georg Wachter (1673 bis 1757), die Buchstaben des lateinischen Alphabets als Nachahmungen der Form der Sprechorgane zu erklären. Und der englische Philologe Rowland Jones (1722 bis 1774) war bemüht, die graphischen Figuren des Alphabets als hieroglyphische Zeichen zu lesen.
In dieser Galerie wunderbarer Käuze darf auf keinen Fall Charles de Brosses fehlen. Dem Verfasser des "Traité de la formation mécanique des langues et des principes physiques de l'étymologie" (1765), der die natürliche Richtigkeit der Wörter streng wissenschaftlich aus der physischen Beschaffenheit der Sprechorgane herleiten wollte, entglitten schließlich doch die Zügel, als sich seine kratylische Schwärmerei mit anderen Trieben verbündete. Lauschen wir seiner "mechanischen" Erklärung des Doppelkonsonanten tr und des Zahlwortes trois: "Wenn man mich sogar mit der Frage bedrängen will, warum diese organische Modulation, dieses Kennzeichen tr, von der Natur geeignet gemacht worden ist, die Stammwurzel der Zahl trois zu werden, so würde ich eine Vermutung wagen: tr
ist onomatopoetisch, ein Stimmgeräusch, durch welches das Organ versucht, das Bild der Bewegung wiederzugeben, die ausgeführt wird, um einen Körper materiell zwischen einen Körper und einen Körper einzufügen, um durch die beiden, die da sind, hindurchzugehen und einen dritten dorthin zu stellen."
Die mimologischen Träumereien beschränkten sich nicht immer auf die lautlichen oder graphischen Elemente und das Vokabular. In dem Satz erkannte man ein weiteres Terrain, das sich für das kratylische Großreich erobern lassen müßte. Gab es nicht eine rechte, das heißt naturgemäße Wortstellung im Satz? Bei diesem Thema konnte sich der Kratylismus einmal mehr mit ethnozentrischen Schwärmereien verbrüdern. So versuchte die Partei der Modernen in der berühmten "Querelle des Anciens et des Modernes", die Überlegenheit der französischen Wortstellung gegenüber der lateinischen mit dem Argument zu beweisen, daß erstere die Folge der Gedanken getreuer nachahme. Der seinerzeit berühmte P. Le Laboureur verstieg sich in diesem Zusammenhang zu der Formel: "Man muß mir recht geben, daß Cicero und alle Römer französisch dachten, bevor sie lateinisch sprachen."
Die ersten 2200 Jahre des Mimologismus entfalteten Ideen, die bereits in Platons Dialog angelegt waren. Den größten Einschnitt in der Geschichte Kratyliens stellt das Aufkommen der vergleichenden Grammatik und damit der modernen Linguistik dar. Bei diesen Forschungen zeigte sich immer deutlicher, daß die Sprachen, wie das Sanskrit, die dem Ursprung, wie man annahm, näherstehen müßten, keineswegs mimetischer waren als ihre späten Nachfahren. Trotz des Schocks, den die Entdeckungen des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts auslösten, starb die kratylische Sehnsucht nicht aus.
Aber sie mußte sich verlagern und nach Ersatzformen suchen. Die bedeutendste Transposition ist die von dem Gebiet der Wissenschaft auf das der Literatur. In einem umfangreichen Buch im Buche geht Genette den impliziten Poetiken und den damit verbundenen mimologischen Phantasien bei den Dichtern und Poetologen nach. Sie reichen von Stéphane Mallarmés Mutmaßungen über die englischen Wörter und Paul Valérys Lehre vom poetischen Zustand bis zu den Theorien von Jean-Paul Sartre und den russischen Formalisten. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit Marcel Prousts Träumereien über Orts- und Ländernamen. Für ihre Suche nach einer "poetischen Sprache" konnten die Schriftsteller an eine Idee anknüpfen, die sich schon bei Diderot und Lessing findet: Die Poesie muß die willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen. Dem Dichter ist es auferlegt, die mimetischen Unzulänglichkeiten der Sprache auszugleichen; Verse müssen die Mängel der prosaischen Sprache wettmachen.
Neben diesem Projekt eines sekundären Mimologismus gibt es ein radikaleres, in dem zur Kompensation der Arbitrarität des Zeichens in spielerischer Form rein fiktive oder utopische Nachahmungsverhältnisse aufgeboten werden. Diesen von allen Fesseln befreiten Kratylismus beobachtet Genette unter anderem im Werk von Paul Claudel, Michel Leiris und Francis Ponge. Sehr hübsch ist beispielsweise, was Claudel über die graphische Gestalt des Reflexivpronomens soi zu sagen weiß: "Das S stellt diese gewundene Treppe dar, wie man sie auf diesem Bild von Rembrandt im Louvre sieht, das man Der Philosoph nennt, und über die man in das Bewußtsein steigt. Und was finden Sie dort, bitte schön? Ein O und ein I, das heißt einen Leuchter und einen Spiegel."
Was bleibt von dem kratylischen Traum? In der Wissenschaft steht das Verdikt fest: "Die Wörter haben zu dem, was sie ausdrücken, durchaus keinen notwendigen Bezug", wie schon Baron Turgo in der großen "Encyclopédie" proklamierte. Oder, um mit Karl Bühler zu reden: Es gibt "kein Malfeld in der Sprache". Außerhalb der Wissenschaft, in der Poesie und im spekulativen Tischgespräch, wird Kratylien so lange weiterleben, wie es die Liebe zur Sprache gibt, die, wenn sie sich zum unvernünftigen wishful thinking steigert, nun eben jenseits der hartherzigen Philologie wohnen muß.
Gérard Genette: "Mimologiken". Reise nach Kratylien. Aus dem Französischen übersetzt von Michael von Killisch-Horn. Wilhelm Fink Verlag, München 1996. 515 S., br., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kann Sprache malen? Gérard Genette im Land der Zeichen und Wunder / Von Oliver R. Scholz
Erinnern wir uns: In Platons Dialog "Kratylos" wurde die alte Streitfrage "von der Richtigkeit der Wörter" untersucht. Während Hermogenes glaubt, daß die Benennungen den Dingen durch menschliche Übereinkunft beigelegt werden, insistiert Kratylos darauf, es gebe von Natur aus einen richtigen Namen für jedes Ding. Zunächst treibt Sokrates Hermogenes in die Enge, indem er ihn auf die extreme Position festnagelt, es unterliege der Willkür des einzelnen, welcher Name einem Ding gebührt. Dagegen macht Sokrates geltend, Worte zu bilden sei nicht jedermanns Sache; vielmehr obliege dies einem Experten, dem Wortbildner, der sich nach der Idee des Wortes zu richten habe. Insofern scheine doch Kratylos darin recht zu haben, daß es eine natürliche Richtigkeit der Wörter gebe.
Hermogenes möchte aber doch wissen, worin diese natürliche Richtigkeit bestehen soll. In dem berühmt-berüchtigten Mittelteil wird diese Frage auf dem Weg über eine Reihe von "Etymologien" untersucht. Die von Sokrates wie im Rausch vorgetragene etymologische Analyse komplexer Namen und Wörter führt auf mutmaßliche Stammwörter oder erste Wörter. Für deren Richtigkeit muß ein anderes Modell gesucht werden, das man schließlich in einem mimetischen Symbolismus der Elementarlaute zu finden glaubt.
Nach einer erneuten Überprüfung der These muß auch Kratylos den Beitrag einräumen, den Gewohnheit und Übereinkunft dabei leisten, Wörter richtig werden zu lassen. Der Leser weiß inzwischen nicht mehr, wer nun recht hat. Platon selbst kam es wohl darauf an, die Metaphysiken kritisch unter die Lupe zu nehmen, die er hinter den Stellungnahmen von Hermogenes und Kratylos vermutet. Sofern der Dialog überhaupt eine handfeste Moral hat, dann dürfte er in der Schlußpointe zu erblicken sein, nach der es stets vorzuziehen sei, die Dinge aus sich selbst (und das heißt für Platon: aus den Ideen) zu erkennen, als sie aus den Wörtern erschließen zu wollen.
Obzwar Platons Hauptakzent von der Sprache wegführte, schlug die Rezeption eine ganz andere Richtung ein. Der Dialog "Kratylos" wurde zum Gründungstext einer mächtigen Tradition der Sprachreflexion und -spekulation. Der Mainstream von Demokrit und Aristoteles bis Ferdinand de Saussure hielt es dabei mit dem nüchternen Konventionalismus von Hermogenes. Zumeist begnügten sich die Hermogenisten in ihren Traktaten mit wenigen abwiegelnden Bemerkungen. Die Parteigänger des Kratylos hingegen hinterließen uns eine Fülle pittoresker Werke, die so etwas wie ein eigenes Genre bilden. Gérard Genette hat in diese "gewaltige Akte" Einsicht genommen und einen bildenden und amüsanten Reiseführer durch das farbenfrohe Kratylien verfaßt.
Obgleich Genette im wesentlichen der Chronologie folgt, ist sein Interesse, wie es sich für einen Strukturalisten geziemt, weniger historisch als typologisch. Der unterkühlte Systematiker Genette, der immer, rechtzeitig bevor die Leserschaft im Chaos zu versinken droht, mit seiner ordnenden Hand eingreift, wird temperiert durch sein Alter ego, den Ideenhistoriker Genette, der mit liebendem Blick noch bei den schrulligsten Schwärmereien verweilt. Nach einer Analyse der platonischen Gründungsurkunde tritt Genette die Reise an, die ihn von den lateinischen Grammatikern durch das klassische Zeitalter und durch die gewaltigen Umbrüche an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart führt.
Ohne zuviel von der spannenden Geschichte verraten zu wollen, picken wir einige Sehenswürdigkeiten heraus. Mit seiner an die Stoiker anknüpfenden Übersicht über Hauptformen der direkten und indirekten Motivation (Onomatopöie, Analogie, Ableitung durch Metonymie und durch Antiphrase) hatte Augustinus dem Mittelalter einen weiteren wichtigen Referenztext geliefert. Andere fügten die Ausrufe und die Nachahmungen der natürlichen Schreie hinzu. Dieser Bestand wurde zunächst durch die Jahrhunderte weitergereicht. Besonders lebhaft sprudelte die kratylische Phantasie dann im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert.
Dem vielseitigen Gelehrten John Wallis (1616 bis 1703) war es in seiner Grammatik der englischen Sprache darum zu tun, die mimetische Überlegenheit seiner Muttersprache zu beweisen. Vor allem die Konsonantengruppen am Wortanfang, die Endsilben und die für das Englische so typischen expressiven Endsilber hatten es ihm angetan. In seinem insularen Kratylismus ging Wallis so weit, seine Muttersprache für die einzige wahrhaft nachahmende Sprache zu halten. Sein Plädoyer für die Rückkehr zu den angelsächsischen Quellen der Sprache trug Wallis übrigens in einem lateinischen Traktat vor.
Während die frühen Formen des Kratylismus sich überwiegend am Laut orientierten, kamen im Laufe der Zeit Theorien hinzu, die den nachahmenden Charakter der Schrift akzentuierten. Die ägyptischen Hieroglyphen regten die kratylische Einbildungskraft dabei mächtig an. Die mimographischen Phantasien konnten ebenso heterogene Gestalten annehmen wie ihre lautorientierten, mimophonischen Geschwister. So versuchte Johann Georg Wachter (1673 bis 1757), die Buchstaben des lateinischen Alphabets als Nachahmungen der Form der Sprechorgane zu erklären. Und der englische Philologe Rowland Jones (1722 bis 1774) war bemüht, die graphischen Figuren des Alphabets als hieroglyphische Zeichen zu lesen.
In dieser Galerie wunderbarer Käuze darf auf keinen Fall Charles de Brosses fehlen. Dem Verfasser des "Traité de la formation mécanique des langues et des principes physiques de l'étymologie" (1765), der die natürliche Richtigkeit der Wörter streng wissenschaftlich aus der physischen Beschaffenheit der Sprechorgane herleiten wollte, entglitten schließlich doch die Zügel, als sich seine kratylische Schwärmerei mit anderen Trieben verbündete. Lauschen wir seiner "mechanischen" Erklärung des Doppelkonsonanten tr und des Zahlwortes trois: "Wenn man mich sogar mit der Frage bedrängen will, warum diese organische Modulation, dieses Kennzeichen tr, von der Natur geeignet gemacht worden ist, die Stammwurzel der Zahl trois zu werden, so würde ich eine Vermutung wagen: tr
ist onomatopoetisch, ein Stimmgeräusch, durch welches das Organ versucht, das Bild der Bewegung wiederzugeben, die ausgeführt wird, um einen Körper materiell zwischen einen Körper und einen Körper einzufügen, um durch die beiden, die da sind, hindurchzugehen und einen dritten dorthin zu stellen."
Die mimologischen Träumereien beschränkten sich nicht immer auf die lautlichen oder graphischen Elemente und das Vokabular. In dem Satz erkannte man ein weiteres Terrain, das sich für das kratylische Großreich erobern lassen müßte. Gab es nicht eine rechte, das heißt naturgemäße Wortstellung im Satz? Bei diesem Thema konnte sich der Kratylismus einmal mehr mit ethnozentrischen Schwärmereien verbrüdern. So versuchte die Partei der Modernen in der berühmten "Querelle des Anciens et des Modernes", die Überlegenheit der französischen Wortstellung gegenüber der lateinischen mit dem Argument zu beweisen, daß erstere die Folge der Gedanken getreuer nachahme. Der seinerzeit berühmte P. Le Laboureur verstieg sich in diesem Zusammenhang zu der Formel: "Man muß mir recht geben, daß Cicero und alle Römer französisch dachten, bevor sie lateinisch sprachen."
Die ersten 2200 Jahre des Mimologismus entfalteten Ideen, die bereits in Platons Dialog angelegt waren. Den größten Einschnitt in der Geschichte Kratyliens stellt das Aufkommen der vergleichenden Grammatik und damit der modernen Linguistik dar. Bei diesen Forschungen zeigte sich immer deutlicher, daß die Sprachen, wie das Sanskrit, die dem Ursprung, wie man annahm, näherstehen müßten, keineswegs mimetischer waren als ihre späten Nachfahren. Trotz des Schocks, den die Entdeckungen des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts auslösten, starb die kratylische Sehnsucht nicht aus.
Aber sie mußte sich verlagern und nach Ersatzformen suchen. Die bedeutendste Transposition ist die von dem Gebiet der Wissenschaft auf das der Literatur. In einem umfangreichen Buch im Buche geht Genette den impliziten Poetiken und den damit verbundenen mimologischen Phantasien bei den Dichtern und Poetologen nach. Sie reichen von Stéphane Mallarmés Mutmaßungen über die englischen Wörter und Paul Valérys Lehre vom poetischen Zustand bis zu den Theorien von Jean-Paul Sartre und den russischen Formalisten. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit Marcel Prousts Träumereien über Orts- und Ländernamen. Für ihre Suche nach einer "poetischen Sprache" konnten die Schriftsteller an eine Idee anknüpfen, die sich schon bei Diderot und Lessing findet: Die Poesie muß die willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen. Dem Dichter ist es auferlegt, die mimetischen Unzulänglichkeiten der Sprache auszugleichen; Verse müssen die Mängel der prosaischen Sprache wettmachen.
Neben diesem Projekt eines sekundären Mimologismus gibt es ein radikaleres, in dem zur Kompensation der Arbitrarität des Zeichens in spielerischer Form rein fiktive oder utopische Nachahmungsverhältnisse aufgeboten werden. Diesen von allen Fesseln befreiten Kratylismus beobachtet Genette unter anderem im Werk von Paul Claudel, Michel Leiris und Francis Ponge. Sehr hübsch ist beispielsweise, was Claudel über die graphische Gestalt des Reflexivpronomens soi zu sagen weiß: "Das S stellt diese gewundene Treppe dar, wie man sie auf diesem Bild von Rembrandt im Louvre sieht, das man Der Philosoph nennt, und über die man in das Bewußtsein steigt. Und was finden Sie dort, bitte schön? Ein O und ein I, das heißt einen Leuchter und einen Spiegel."
Was bleibt von dem kratylischen Traum? In der Wissenschaft steht das Verdikt fest: "Die Wörter haben zu dem, was sie ausdrücken, durchaus keinen notwendigen Bezug", wie schon Baron Turgo in der großen "Encyclopédie" proklamierte. Oder, um mit Karl Bühler zu reden: Es gibt "kein Malfeld in der Sprache". Außerhalb der Wissenschaft, in der Poesie und im spekulativen Tischgespräch, wird Kratylien so lange weiterleben, wie es die Liebe zur Sprache gibt, die, wenn sie sich zum unvernünftigen wishful thinking steigert, nun eben jenseits der hartherzigen Philologie wohnen muß.
Gérard Genette: "Mimologiken". Reise nach Kratylien. Aus dem Französischen übersetzt von Michael von Killisch-Horn. Wilhelm Fink Verlag, München 1996. 515 S., br., 78,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dieses Buch von Gérard Genette beschäftigt sich mit der nach Meinung der Rezensenten mit dem Kürzel lx ziemlich wesentlichen Frage, ob Namen und Bezeichnungen von Dingen quasi naturgegeben sind oder unter den Sprechern, die über diese Dingen reden, ausgehandelt werden. Was bei dieser "anspruchsreichen wie originellen" Untersuchung herausgekommen ist, gefällt dem Rezensenten - nicht zuletzt, weil Genette den Bogen der Untersuchung weit spannt, von "mittelalterliche Sprachphilosophie bis zur Entdeckung der Hieroglyphen und zur modernen Linguistik".
© Perlentaucher Medien GmbH
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